"Der Putin-Clan schöpft die ganze Sahne ab"

Russische Linke beanspruchen ihren Platz in der Protestbewegung. Gespräch mit Sergej Udalzow, dem Sprecher der "Linken Front"

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Sergej Udalzow wurde wegen Teilnahme an Straßenaktionen gegen Putin und seine Politik schon über hundert Mal verhaftet. Der 34jährige Sohn einer Moskauer Gelehrtenfamilie ist ausgebildeter Jurist und Sprecher der "Linken Front". Er sitzt im Koordinationsrat der russischen Protestbewegung "Für ehrliche Wahlen". Im Interview äußert sich Udalzow zu den Zielen der Linken in der Protestbewegung, die am 4. Februar - einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen - in Moskau ihre nächste Großkundgebung durchführt.

Sergej Udalzow in Aktion. Bild: U. Heyden

Wofür kämpft die Protestbewegung?

Sergej Udalzow: Es geht um gesellschaftliche Forderungen, wie die Anerkennung der persönlichen Freiheit, ehrliche Wahlen und die Reform des politischen Systems. Auf die Straße gehen vor allem die Mittelklasse, die Klein-Bourgeoisie und die künstlerische Intelligenz. Das ist in den großen Städten, wo es immer weniger klassische Proletarier gibt, normal.

Und wie sehen sie ihre Rolle in dieser Bewegung?

Sergej Udalzow: Die linken Kräfte müssen die aktivsten Kräfte in dieser Bewegung sein, dort soziale Forderungen einbringen und die roten Flaggen zeigen, um den Protest nicht den liberalen und nationalistischen Kräften zu überlassen, die Russland nicht aus der Sackgasse führen werden. Am 4. Februar werden wir mit einem eigenen Block an der Demonstration teilnehmen.

Auf dem "Forum der Linken Kräfte" in Moskau wurde über die Gründung einer neuen linken Partei diskutiert. Wozu braucht man noch eine linke Partei?

Sergej Udalzow: Es wurde ein Koordinationsrat gebildet. Der arbeitet eine Plattform für eine Vereinigung aus. Ich glaube, in einigen Monaten können wir eine breite, föderative Bewegung gründen. Dabei werden wir das Internet nutzen. Eine stark zentralisierte Partei ist heute überholt. Vielleicht entsteht aus dieser föderativen Bewegung eine neue, zeitgemäße, linke Partei. Die Gesellschaft braucht eine neue linke Partei. Die Menschen sind müde von den traditionellen Parteien. Die "linke Wende", von der selbst Michail Chodorkowski (der ehemalige Chef des Ölkonzerns Yukos, Anm. d. Autors) im Gefängnis schrieb und von dem viele Vertreter des Großkapitals sprechen, ist in Russland unabdingbar.

Und was halten sie von den linken Parteien, die in der Duma sitzen?

Sergej Udalzow: Man muss auch mit den Systemparteien (Parteien, die am Gängelband des Kreml laufen, Anm. d. Autors), Gerechtes Russland und der Kommunistischen Partei, sprechen und versuchen, sie in den Prozess mit einzubeziehen. Wenn ihnen ihre Ambitionen wichtiger sind und sie alles nur von oben betrachten, werden sie irgendwann von der politischen Bühne verschwinden.

In der Linken Front gab es dicke Luft, weil sie sie auf einer Pressekonferenz Sjuganow eine Erklärung abgerungen haben, in der dieser die Forderungen der Protestbewegung nach Neuwahlen unterstützt, ohne sich dabei aber zeitlich festzulegen.

Sergej Udalzow: Wir haben uns an die Präsidentschaftskandidaten Sergej Mironow (Gerechtes Russland) und Gennadi Sjuganow (Kommunistische Partei) gewandt, Garanten vorgezogener Neuwahlen zu werden. Sjuganow war bereit eine diesbezügliche Vereinbarung zu unterschreiben. Sie spiegelt nicht alle unsere Forderungen wieder. Diese Vereinbarung ist aber ein großer Schritt einer Annäherung der System-Parteien an die Protestbewegung. Vielleicht wird auch Mironow noch eine solche Vereinbarung unterschreiben. Der Großteil in der Linken Front hat die Vereinbarung mit Sjuganow unterstützt.

Welchen Kandidaten will die Linke Front bei den Präsidentschaftswahlen unterstützen?

Sergej Udalzow: Wir sagen: Keine Stimme für Putin. Wir konzentrieren uns auf die Stichwahl und sagen: Wählt Sjuganow oder Mironow. Das hängt davon ab, wer von den beiden die eindeutigsten Garantien gibt, die Forderung der Protestbewegung nach Neuwahlen umzusetzen.

Wie wollen sie Einfluss gewinnen, einfach nur die roten Fahnen schwenken? Segej Udalzow: Wir müssen uns vor allem an die zehntausenden wenden, die auf die Plätze strömen und keiner politischen Partei angehören. Diese Menschen meinen, Politik sei schmutzig. Sie wollen sich nicht daran beteiligen. Sie verstehen aber noch nicht, dass sie schon in der aktivsten Weise an den politischen Prozessen beteiligt sind. An diese Menschen müssen wir uns mit der Forderung nach politischen Reformen und sozialer Gerechtigkeit wenden. Die Gewinne aus unseren Bodenschätzen und der Industrie fließen heute in die Taschen verschiedener Clans. Der Putin-Clan ist heute der größte Nutznießer der russischen Wirtschaft. Aber der Großteil der Bevölkerung bekommt heute keine normale Ausbildung, keine qualitativ gute medizinische Versorgung. Übrigens haben heute nach Meinungsumfragen schon ein Drittel der Teilnehmer an den Protestdemonstrationen linke Ansichten.

Wie wollen sie die Menschen für ihre "linke Wende" gewinnen, die nicht zurück in die Sowjetunion wollen?

Sergej Udalzow und Ulrich Heyden

Sergej Udalzow: Es gibt viele Vorurteile. Angeblich sind die linken Kräfte für die vollständige Nationalisierung und Enteignung der Unternehmer, die Unterdrückung der Privatinitiative, für Repression und die Wiedereinführung von Lebensmittelkarten. Aber die Linken sind Demokraten. Nur in der sozialen Sphäre sind sie Gegner einer Politik, die nur einer kleinen Minderheit, dem Putin-Clan, nützt. Dieser Clan schöpft die gesamte Sahne ab. Die Erträge aus unserer Wirtschaft fließen in die Taschen dieses Clans. Davon kaufen sie sich Immobilien im Ausland und veranstalten luxuriöse Partys für Millionen Dollar, während Millionen Russen Probleme haben, einigermaßen satt zu werden.

Anfang der 2000er Jahre waren sie noch bekennender Stalinist. Jetzt haben sie der Nowaya Gazeta gesagt, sie seien für einen sozialdemokratischen Weg in Russland. Was führte zu dem Sinneswandel?

Sergej Udalzow: Bei jedem Menschen gibt es ein Evolution der Gedanken. Vor 15 Jahren, als ich begann, politisch aktiv zu werden, hatte ich noch andere Ansichten. In den 1990er Jahren gab es noch eine Nostalgie nach der Sowjetunion und der "starken Hand". Diese Nostalgie gibt es auch heute noch. Aber damals war sie stärker. Das Bild von Stalin stand damals für die Sowjetunion und einen starken Staat, der die Schwachen unterstützt. Mit der Zeit bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es falsch ist, das Bild von Stalin zu idealisieren. Stalin war eine Figur mit dunklen aber auch mit hellen Seiten. Aber unter Stalin gab es ein totalitäres Modell.