Geschichte vom "Jungen, der ein Mädchen sein wollte"

Das Mädchen und das Sexualitätsdispositiv

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Es war einmal ein Mädchen namens "Alexandra".1 In der Stadt Berlin, wo sie lebte, gab es Tausende wie sie. Sie wohnte bei ihrer Mutter, ging zur Schule und erlebte all die Höhen und Tiefen, die ein Mädchen eben erlebt, wenn es elf Jahre alt ist. Ein ganz normales Leben - oder vielmehr: beinahe.

Denn von den meisten (aber nicht allen) elfjährigen Mädchen in Berlin unterschied sich "Alexandra" durch eine körperliche Besonderheit: Sie war mit solchen Genitalien geboren worden, die in dieser Zeit als "männlich" galten. Dies - und das ist bedeutsam - war nicht "Alexandras" Unglück. So etwas konnte damals bereits korrigiert werden. Auch war es möglich, die physischen Auswirkungen der Pubertät zu verzögern, wenn man sicher gehen wollte, dass ein junger Mensch in dieser Hinsicht keine übereilte Entscheidung traf.

Entgegen der Lehre eines zum Götzen erhobenen vorzeitlichen Medizinmanns war Anatomie schon lange kein Schicksal mehr. Man zwang damals niemanden dazu, mit einer Hasenscharte oder einem Klumpfuß zu leben, und niemand kam auf die Idee, solche Korrekturen anzufechten, weil Hasenscharte und Klumpfuß "natürlich" wären und es deshalb "von Natur aus" Hasenschartige und Klumpfüßler gäbe. Damals machte man jedoch ein Aufhebens von erstaunlichen Ausmaßen um die Genitalien eines Menschen und wies ihnen determinierende Bedeutungen zu. Es war nicht etwa so, dass Menschen das selbstverständliche Recht hatten, selbst zu wissen, welchem Geschlecht sie angehörten.

Das war selbst in dieser Kultur nicht immer so gewesen. Tatsächlich handelte es sich zu "Alexandras" Lebzeiten um eine relativ junge Erscheinung, und das war durchaus bekannt. Ein widerborstiger Gelehrter namens Michel Foucault hatte bereits lange vor "Alexandras" Geburt folgendes herausgefunden2:

Seit dem 17. Jahrhundert führten die biologischen Theorien der Sexualität, die rechtliche Stellung des Individuums und die Formen staatlicher Kontrolle in den modernen Staaten nach und nach zur Ablehnung des Gedankens einer Mischung beider Geschlechter in ein und demselben Körper und damit auch zur Einschränkung der Entscheidungsfreiheit für Personen mit ungewissem Geschlecht. Von nun an hatte jeder nur ein einziges Geschlecht. Jeder besaß ein eigentliches, tief verwurzeltes, bestimmtes und bestimmendes Geschlecht.

Michel Foucault

Zu "Alexandras" Lebzeiten warf ein dazu unter Initiationsriten autorisierter Medizinmann, der als "Arzt" bezeichnet wurde, bei der Geburt eines Menschen einen Blick auf dessen Genitalien. Waren diese seiner Meinung nach nicht eindeutig "männlich" oder "weiblich", leitete er auf der Stelle eine Prozedur ein, die mittels eines körperlichen Eingriffs diese "Eindeutigkeit" künstlich herstellte. Fand er sie dagegen eindeutig, leitete er eine Prozedur der Festschreibung ein, die dann den betreffenden Menschen für sein ganzes Leben einem Verhaltensregime unterwarfen, das dieser Zuschreibung entsprach und auf Grundlage dieser Zuschreibung als "natürlich" galt.

Damit das funktionierte, durfte es niemanden geben, der (oder die) sich dieser Zuschreibung erfolgreich widersetzte. Es gab aber natürlich Menschen wie "Alexandra", und zwar in großer Zahl, die wussten, dass in ihrem Fall diese Zuschreibung schlicht falsch war. Ob sie wollten oder nicht, diese Menschen stellten die Grundlagen ihrer Gesellschaft in Frage, einfach weil sie lebten, und darum brachte man gegen sie die wirkungsvollste Unterwerfungsmaschinerie in Stellung, über die diese Kultur verfügte.

Das war "Alexandras" Unglück.

"Alexandra" und das Sexualitätsdispositiv

Die Wirksamkeit der Unterwerfungsmaschinerien in dieser Zeit beruhte nicht zuletzt darauf, dass die große Mehrheit der Menschen sie nicht erkannten, obwohl sie ihnen fortwährend ausgesetzt waren. Weit wirksamer als Kerker, Folterkammern und Schafotte früherer Zeiten war die "Sexualität". Darunter verstand man nicht nur alle lusterzeugenden Praktiken, Vorstellungen und Gedanken, vielmehr hatte man den Menschen die "Sexualität" ebenso eingeschrieben und eingeredet wie ihr "natürliches", an den Genitalien ablesbares Geschlecht. Diese "Sexualität" galt als der Ort der intimsten Geheimnisse, tief im Inneren eines jeden Menschen verborgen, Hort schrecklicher Gefahren und gleichzeitig potentielle Quelle höchsten Lebensglücks.

Unter Verwendung der wirkungsvollsten Kniffe einer zu "Alexandras" Lebzeiten weitgehend diskreditierten Religion veranlasste man die Menschen dazu, unablässig ihr Inneres nach den "Geheimnissen" ihrer "Sexualität" zu erforschen. Da es dort aber selbstverständlich gar keine Geheimnisse gab, konnten die Menschen sie nicht finden. Dies machte bestimmte Kasten von Medizinmännern, nämlich Psychiater, Psychologen und Sexualwissenschaftler, zu Herren der Wahrheit, denn sie machten sich anheischig, diese "Geheimnisse" zu finden und zu deuten. Das war ihnen möglich, da sie diese "Geheimnisse" erfunden hatten, und darum konnten sie auch Werturteile über die Menschen fällen, mit deren "Geheimnissen" sie sich befassten. Diejenigen Menschen, deren "Sexualität" diesen Medizinmännern missfiel, sperrten sie ein und unterzogen sie "Behandlungen", die auf demselben Prinzip beruhten wie die "Sexualität" selbst, nämlich auf der "Erforschung" der "Geheimnisse".

Foucault hatte zu seiner Zeit die allergrößten Schwierigkeiten damit gehabt, seinen Mitmenschen diese Dinge begreiflich zu machen.3 Damals glaubten nämlich viele Menschen, ihr Leben würde sich verbessern, wenn ihre "Sexualität" befreit würde. Sie wollten nicht einsehen, dass man sich nicht mit etwas befreien kann, das zur Unterwerfung dient. Sie erkannten nicht einmal, dass ihre "Sexualität", ebenso wie ihr zum Zeitpunkt der Geburt festgeschriebenes "wahres Geschlecht", sie wie ihr eigener Schatten überall hin verfolgte und ihr Verhalten reglementierte. Foucault versuchte, ihnen dies nahezubringen, indem er erklärte, was ein Dispositiv ist4:

[Ein Dispositiv ist] ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst.

Michel Foucault

Das Sexualitätsdispositiv war überall, aber die Menschen sahen es nicht. Nur in einigen seltenen Fällen kam es an die Oberfläche. "Alexandras" Geschichte ist ein solcher Fall.

"Alexandra" bestand darauf, dass sie ein Mädchen war, durfte aber kein Mädchen sein. Ihre Mutter unterstützte sie, anstatt sie durch die damals üblichen Disziplinarmaßnahmen dazu zu zwingen, "ein Junge" zu sein. Damit hatten sich beide zu Zielen gemacht. Ein Medizinmann außerordentlich hohen Ranges, nämlich Professor Michael Beier, seines Zeichens Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité, waltete seines Amtes. Öffentlich äußerte er seine Auffassung, "Alexandras" Mutter habe ihrem Kind eine "Störung" ihrer "Geschlechtsidentität" eingeredet, weil sie selbst "Probleme" mit Männern habe und daher ihren "Sohn" ("Alexandra") zu einer Tochter machen wolle. Er pathologisierte also beide zugleich.

Dabei war ihm eine bedeutsame Eigenschaft der Kultur dienlich, in der "Alexandra" lebte. Von deren Anbeginn an hatte man nämlich eins der beiden Geschlechter, die zu "Alexandras" Lebzeiten als ausschließlich, genitalfixiert und "natürlich" galten, mit allen erdenklichen negativen Zügen ausgestattet, nämlich das weibliche. Selbstverständlich diente auch dies dazu, die Angehörigen beider "natürlicher Geschlechter" bestimmten Verhaltensregimes zu unterwerfen. Es war die Aufgabe solcher Medizinmänner wie Professor Beier, dafür zu sorgen, dass dies auch so blieb.

Wie man so etwas anstellte, indem man "Wissenschaft" betrieb, hatte der widerborstige Foucault ebenfalls erläutert.5 Aber zu "Alexandras" Lebzeiten funktionierte so etwas noch ausgezeichnet.

Das Sexualitätsdispositiv bewirkte nun, dass das zuständige Berliner Jugendamt ernsthafte Anstalten machte, "Alexandra" gegen ihren Willen und den ihrer Mutter in die Psychiatrie einzuweisen, also in einer Disziplinarinstitution einzusperren, wo man mit allen erdenklichen Mitteln einen "echten Mann" aus ihr machen würde. Aber auch diejenigen, die sich darüber empörten, erkannten meist nicht, dass es dabei um sie selbst ging.

Denjenigen unter ihnen nämlich, die Eltern waren, wurde zweifelsfrei klar gemacht, was ihnen und ihren Kindern blühte, wenn diese von der "Normalität" abweichen würden: Psychiatrie für die Kinder, Stigmatisierung für sie selbst. Denjenigen unter ihnen, die ahnten, befürchteten oder wussten, dass ihr "wahres Geschlecht" eben nicht ihr wahres Geschlecht war, wurde verdeutlicht, wie man mit ihnen umspringen würde, wenn sie sich weigerten, ein Leben lang auf ein echtes Leben als sie selbst zu verzichten. Und auch denen, die ihre Partner nicht, wie sie sollten, unter dem anderen "natürlichen Geschlecht" wählten, wurde angedeutet, dass die Medizinmänner die Strafmacht über sie zurückerobern konnten, die sie widerstrebend zeitweilig aufgegeben hatten. Und nicht zuletzt verabreichte der Professor Beier allen denjenigen, die mit der Ordnung der Geschlechter in der Kultur nicht einverstanden waren, eine schallende Ohrfeige, die (das ist der Zweck von Ohrfeigen) ihnen ihre Machtlosigkeit vor Augen führte.

An dieser Stelle endet "Alexandras" Geschichte. Vorerst.

Schwierigkeiten mit der Wahrheit?

Für viele, die sich für "Alexandras" Geschichte interessierten, war diese eine Geschichte von einem "Jungen, der ein Mädchen sein wollte", und einem herzlosen Professor, der grausam mit "dem Jungen" umging. Beides stimmte nicht.

Wir wissen heute natürlich, dass Alexandra ein Mädchen war, einfach weil uns heute klar ist, dass ein Mensch so etwas nur selbst wissen kann. Ebenso fragen wir heute nicht mehr nach den persönlichen Motiven des Professor Beier, weil wir wissen, dass er nichts anderes tat als das, was die damaligen "internationalen Standards" vorsahen und vorschrieben.6

Männer, die Vorschriften genau befolgten und sich darauf beriefen, wenn man sie wegen der Folgen kritisierte, hatte es gerade in dem Land, in dem "Alexandra" lebte, schon allzu viele gegeben. Einige in seiner Kaste von Medizinmännern erkannten die Zeichen der Zeit vielleicht besser als er, würgten große Kreidebrocken herunter und erzählten die unwahre Geschichte vom "Jungen, der ein Mädchen sein wollte", einfach in einem süßlichen Tonfall.7 Taten sie das, weil sie um ihre Macht und ihre Privilegien fürchteten, oder taten sie es, weil sie selbst glaubten, was sie erzählten? Wir wissen es nicht, und es spielt auch keine Rolle.

Warum verstanden die meisten Menschen damals diese Dinge nicht? Foucault hatte sich sein Leben lang mit dieser Frage beschäftigt8:

Schließlich habe ich zu klären versucht - und daran arbeite ich auch gegenwärtig noch - auf welche Weise ein Mensch zum Subjekt wird. Dabei habe ich meine Forschung auf die Sexualität ausgerichtet und zum Beispiel untersucht, auf welche Weise der Mensch gelernt hat, sich als das Subjekt einer "Sexualität" zu begreifen. Das umfassende Thema meiner Arbeit ist also nicht die Macht, sondern das Subjekt.

Michel Foucault

Um "Alexandras" Geschichte zu verstehen, hätten die Menschen verstehen müssen, wie sehr sie selbst, auch und gerade diejenigen, die als "normal" galten, dem Sexualitätsdispositiv unterworfen waren.

Es ist gut möglich, dass ihnen das Angst machte.