Der Zwang zum makellosen Auftritt

Der Körper als endlose Baustelle, Attraktivität, die soviel wert ist wie ein Studienabschluss und neue soziale Pflichten

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An den Zähnen zum Beispiel sieht man doch gleich, wo einer herkommt. Sind die Reihen gleichmäßig - dank dieser unsichtbaren Zahnspangen, die rund 5000 Euro kosten? Oder wuchern da schiefe, krumme Stumpen im Mund und Mike Leigh könnte uns sofort als Bösewicht aus der Arbeiterklasse besetzen? Und dann natürlich auch die Zahnfarbe. Ist das Keramik von Meisterhand, Kronen in zartesten Perlmutttönen, welche nur der Zahntechniker selbst von den echten zu unterscheiden wüsste - oder stehen da übertrieben glänzende, an Heizradiatoren erinnernde Krankenkassengebilde in unnatürlichstem "Toilet White"?

Die Attraktiven haben es leichter, Schönheit erhöht die beruflichen Chancen - was früher als "gepflegtes Aussehen" gefordert wurde, verlangt jetzt mehr. Irgendwann wird die Nummer des Schönheitschirurgen gewählt. Weil er die Aussichten verbessert, irgendwie mit dem Glück im Bunde steht. In den Netzwerken, wo Attraktivität zum Erfolg gehört, baut sich der Zwang zur Schönheit vor allem unter Freundinnen auf, sagt eine Marketing-Managerin, die sich auf "Reputation" spezialisiert hat.

Das geht von positiv formulierten Tipps bis zu subtiler Beleidigung, manchmal auf gnadenlose Art. Keiner hat so großen Einfluss wie die Freundinnen, niemand sonst, der den Widerstand gegen einen chirurgischen Eingriff auf so stetige Weise unterhöhlt und den Blick darauf fixiert, dass die Energiehügelchen neben dem Kinn unbedingt weg müssen. Die richtige Adresse ist angeblich kein Problem. Obwohl sich so manche danach wünscht, einen anderen Chirurgen aufgesucht zu haben. Aber auch dazu ist es ja noch nicht zu spät.

Die Merkel-Falte suggeriert Erschöpfungszustände

Noch sind es vor allem Frauen, die im Nachteil sind, wenn das Äußere nicht top ist. Sie dürfen nicht schwach oder erschöpft aussehen, so erklärt es eine prominente Geschäftsfrau. Hinter dem Business-Lifestyle-Modell, das schönheitschirurgische Eingriffe als notwendig betrachtet, steht ein eigentümliches Erzählmuster, das mit einem groben Darwinismus spielt: Wer zu den Siegern gehört, das sieht man sofort.

Es gehe gar nicht mal nur um Schönheit, sondern um Leistungsfähigkeit, sagt eine Frau, die zu jener Elite gehört, welche in der sogenannten höheren Gesellschaft zuhause ist. Als erfolgreiche Frau müsse man Fitness ausstrahlen und dürfe niemals erschöpft oder fertig aussehen. Stirn- oder "Merkel"-Falten würden Krankheit oder Erschöpfungszustände suggerieren. Das New Age des Marktes verlange gutes Aussehen, das auf gute Stimmung schließen lässt, auf die richtige Einstellung zum Erfolg. So gehören für die große Mehrheit der Frauen in diesem Milieu ab Mitte Dreißig Botox und leichte Eingriffe an Augenlidern zum "gepflegten Äußeren" einfach dazu. Was früher ein unerwünschter Fleck auf dem Jackettärmel war, sind jetzt Falten, die entfernt werden müssen. Der Businessanzug ist buchstäblich zur Haut geworden.

"Lieber soft und oft" ist der Entrée-Slogan

Und die Männer? In einem Film von Nick Cassavettes sieht man James Garner, das unvergessen coole smarte Schlitzohr aus der Fernsehserie "Maverick", die in Deutschland in den 1970er Jahren ausgestrahlt wurde, mit einem dicken Hintern in weit geschnittenen Hosen stecken, Altersflecken im Gesicht und auf den Handrücken, vergrößerte Augen hinter Brillengläsern. Ein alter Mann, wie man ihn täglich sehen könnte - wenn man ihn nur bemerken würde. Seine Rolle rührt den Hartgesottensten zu Tränen, wenn er seine Frau, die an Altersdemenz leidet, für Augenblicke aus ihrer Umnachtung holen kann. Seine Liebe und seine Treue machen ihn zum außergewöhnlichen Mann, der äußerlich so gar nichts Außergewöhnliches hat. Die Zeichen der Zeit stehen aber nicht so, als ob Männer mit dicken Hintern und glotzig vergrößerten Augen künftig überhaupt noch Rollen bekämen, nicht im Film, nicht im Geschäftsleben und auch nicht in der Liebe.

Wie ein einziger Tag. Bild: Warner Bros.

Noch nie gab es so viele Angebote, um unerwünschte Makel im Gesicht und am Körper zu korrigieren. Zwar könnte man noch immer sagen, dass die Verschönerungstechnik ihren Grundtätigkeiten treu geblieben ist, Schneiden, Ziehen, Sägen, Hobeln, Rubbeln, Einfügen und Entnehmen. Doch werden diese eher gröberen Tätigkeitsbegriffe nicht dem Trickreichtum gerecht, für die der thermische Laser, die Mini-Liftings, die vielen Filler und die variationsreichen abrasiven Methoden sorgen. "Lieber soft und oft" ist der Entree-Slogan.

In Deutschland herrschende Lügen von Schlaf und Gurkenscheibchen

Spuren werden nur von Kennern gesehen, Männer gehören in der Regel nicht dazu. "Die glauben, das ist alles nur Botox", so eine Schönheitschirurgin. Kaum jemand kommt so nah wie die Freundinnen, welche die Frau mit dem verjüngten Gesicht hinterm Ohr streicheln und mit den Fingerspitzen das Geheimnis ertasten: "Du warst in Marbella?"

Das Ärgerlichste an den Diskussionen über Schönheitschirurgie sei die in Deutschland herrschende Doppelmoral, sagt eine Geschäftsfrau mit Kundenstamm in Deutschland und den USA. Während man dort Komplimente höre wie "well done job", täten deutsche Prominente alles, um das Publikum im Glauben zu lassen, dass viel Schlaf und ein paar Gurkenscheibchen reichen. Die Lüge weist auf die Klemme hin, in der die Frauen stecken. Wozu aber das schlechte Gewissen, das Schönheitsoperationen im öffentlichen Gespräch zu begleiten scheint?

Ist es nicht auch denkbar, dass Frauen mit Hilfe des Schönheitschirurgen glücklicher sind? Der Sex sei mit dem größeren Vertrauen und dem neuen Körpergefühl besser, sagt eine Ärztin, die darauf verweist, dass die Studie zur Wirkung der schönheitschirurgischen Eingriffe fehlen würde, welche die Frage stellt, ob die Frauen danach glücklicher sind.

Beauty-Updates: So wichtig wie ein Harvard-Abschluss?

Für die Soziologin Catherine Hakim, die Autorin von Honey Money: The Power of Erotic Capital, ist die Antwort ziemlich eindeutig. Hakim stellt Jugendlichkeit, Schönheit und Sexappeal als Kapital hin, das ebenso zählt wie ein Harvard-Abschluss. Sie zitiert Statistiken, die dokumentieren, dass die Schönen nicht nur die besseren Körper haben, sondern auch die besseren Jobs und die besseren Partner und in besseren Wohnungen und Umgebungen wohnen.

Das gute Gefühl, welches ein geglücktes Beauty-Update verspricht, hat jedoch eine dunkle Unterseite. Das hat auch damit zu tun, dass man Teil einer Bewegung ist, die vor der Jugend nicht haltmacht. So wird der Collegeabschluss öfter mit einem "Nose- oder Boob-Job" belohnt, um die Aussichten bei der Arbeits-und Beziehungswahl zu optimieren. Neulich bekam eine britische Siebenjährige eine Brust-OP von der Mama geschenkt. Den Gutschein löst sie "erst" in einigen Jahren ein. Die zu kindlichen Einheits-Schmollmündern aufgespritzten Oberlippen zeigen auch, wie sehr Moden im Spiel sind. Nach einiger Zeit werden sie als lächerlich empfunden und machen einem neuen Muster Platz.

Auf einem Markt, der das Streben zum Glück mit Erfolgskriterien pflastert, die "immer besser", "immer mehr" fordern, ist Perfektion der Himmel, den man auf die Erde holen will. Der Körper wird zur ständigen Baustelle. Wenn die Mode nach dünnen Körpern verlangt, muss dafür das Gesicht künstlich aufgefüllt werden, damit es nicht eingefallen wirkt. Die Selbstoptimierung des Individuums ist zur Forderung geworden. Der Widerstand gegen die Fitness- und Schönheits-Vorgaben hat es schwer.

Der Kampf gegen den Hass auf den eigenen Körper

Susie Orbach sieht eine ganze Industrie darauf ausgerichtet, unser Körperempfinden zu zerstören: "The body hatred Industry", deren Wirkungsweise sie in ihrem Buch "Bodies" darlegt. Der Name ihres Projektes sagt deutlich, wie groß sie die Gefahr einschätzt: "Die gefährdete Art".

Kein Zufall, dass sie auf Darwin anspielt. Wird doch der Darwinismus auf eine neue populäre Weise so auf den Einzelnen heruntergebrochen, dass aus dem schönen Angebot der möglichen Schönheitsverbesserungen ein Zwang wird, der eigene Empfindlichkeiten hintan stellt. Orbach kämpft gegen den Hass auf den eigenen Körper, den Hass auf die Falten- und Fettpakete. Und sie propagiert die Akzeptanz der Unzulänglichkeiten und den Mut, für sie einzustehen, nur so sei eine innere Entwicklung überhaupt möglich. Sie warnt vor dem, was auf die Kinder zukommt.

Der Konformismus bahnt sich unter dem Zepter der Leistungsbereitschaft, der Leistungsfitness und der Leistungsattraktivität den Weg zur Haut und unter die Haut. Die Illusion der Meritokratie dehnt die Herrschaft des Machbaren gnadenlos aus. Königinnen und Könige, Fürsten und Fürstinnen durften auf andere Weise altern, keiner dokumentierte den missbilligenden Blick auf ihre schlechten Zähne und die welke Haut. Lange Zeit hat das Bürgertum die Aristokratie für ihren Stil bewundert. Zumindest von ihrer Nonchalance beim Altern könnte es sich auch heute noch eine Scheibe abschneiden - und dafür etwas weniger vom eigenen Fleisch.