Die Bundesregierung und die "Online-Sucht"

In der neuen "Nationale Strategie zur Drogen- und Suchtpolitik" geht es auch um Online- oder Mediensucht, irgendwie und ungefähr

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Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Mechthild Dyckmans, hat gestern die "Nationale Strategie zur Drogen- und Suchtpolitik" vorgestellt, die den Aktionsplan Drogen und Sucht aus dem Jahr 2003 ablöst.

Die Ziele sind mehr oder weniger identisch, es geht um Reduzierung und Prävention. Irgendwie muss man aber das Neue begründen. Dyckmans sagt, in der neuen Nationalen Strategie werde "die Suchtpolitik auf eine moderne und aktuelle Grundlage" gestellt, zudem nehme man sich "neuer Herausforderungen" an. Das ist wahr. So springt ins Auge, dass 2003 für die damalige rot-grüne Regierung das Internet als Suchtmittel noch kein Thema war. Für die schwarz-gelbe Regierung hat sich drastisch verändert. Die Drogenbeauftragte soricht dagegen von der "Online-Sucht" als einer neuen Suchtform, im Bericht wird darauf hingewiesen, dass etwa 540.000 Menschen als online-abhängig gelten sollen. Weiterhinten werden dann unterschiedliche Zahlen genannt, da schlicht völlig unbekannt ist, wer als abhängig gelten kann, weil die Kriterien fehlen.

Umstritten ist freilich, ob es so etwas wie Internet- oder Mediensucht in Analogie zur länger schon aufgeführten Glücksspielsucht, wie dies die "Nationale Strategie" macht, überhaupt gibt. Klinisch gehört das pathologische Spielen zu den Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, von Sucht spricht man nicht mehr. Die Internetsucht wird aber auch in der nächsten, 2013 erscheinenden Ausgabe des einflussreichen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Geistiger Störungen - DSM) nicht aufgenommen werden. Es wird auch nicht mehr von Abhängigkeit gesprochen, sondern beispielsweise von Alkoholkonsumstörung. Das ficht die Bundesregierung offenbar nicht an. Man nimmt zwar auf, dass "in der Fachdiskussion (…) seit Jahren nicht mehr von Sucht, sondern von Abhängigkeitserkrankungen gesprochen" wird. Aber man hält an der Suchtpolitik fest, weil es "um die Gesamtheit von riskanten, missbräuchlichen und abhängigen Verhaltensweisen in Bezug auf Suchtmittel (legale wie illegale) und um nichtstoffgebundene, riskante Verhaltensweisen (wie Glücksspiel und pathologischer Internetgebrauch)" gehe. Deswegen halte man an den Begriff Sucht fest. Die Begründung habe ich allerdings nicht wirklich verstanden.

Fest steht, dass das Internet bei manchen "zunehmend zu einem exzessiven Gebrauch und in extremen Fällen zum Verlust der Selbstkontrolle bis zu einem Abhängigkeitsverhalten führen (kann)". Auch im Bereich der Glücksspiele stelle das Internet eine wachsende Gefahr zur Ausbildung eines Suchtverhaltens dar. Es sei eine "Tatsache" auch wenn eine diagnostische Zuordnung ausstehe, "dass es eine wachsende Zahl betroffener Personen gibt, für die geeignete Hilfemaßnahmen entstehen müssen".

Es wird zwar auch allgemein von Mediensucht gesprochen , die von anderen Medien als dem Internet verursacht werde. Aber man erfährt dazu nichts. Bei der Online-Sucht geht es sofort weiter zur "Online-Computerspielsucht", da Spiele im Internet eine hohes Suchtpotenzial beispielsweise durch "Belohnungssysteme und Einbindung in ein soziales Spielernetzwerk". Gleichwohl heißt es vorsichtig, es sei "nicht abschließend geklärt, wann tatsächlich von einem Abhängigkeitsverhalten zu sprechen ist". Fragt sich dann, wie überhaupt eingegriffen werden kann, wenn gar nicht bekannt ist, was genau das Problem ist.

Die Bundesregierung will sich darum bemühen, dass der "pathologische Onlinegebrauch in die Neuauflage des diagnostischen Systems International Classification of Diseases (ICD-11)" aufgenommen wird. Da man eigentlich nicht weiß, wie Online-Sucht zu diagnostieren sein soll, ist auch unbekannt, wie viele Abhängige es gibt. Also will man die Epidemiologie einer unklaren Störung verbessern und die Diagnose evaluieren. Was die Vorbeugung betrifft, steckt man in einem Dilemma, denn man muss - Stichwort: Wissensgesellschaft - den Umgang mit dem Internet fördern, aber gleichzeitig "unerwünschte, pathologische Verhaltensweisen" verhindern oder reduzieren.

Die Lösung soll in der Stärkung der Medienkompetenz liegen, also ein "verantwortungsvoller Umgang mit Medien im Allgemeinen und dem Internet im Besonderen". Geschehen soll dies durch Fortbildung und Qualifizierung von Pädagogen und Lehrern und der Aufklärung der Eltern. Konkret wird man nur, dass der Jugendschutz bei Computerspielen "verbessert" werden soll. Neben der Warnung der Kinder, Jungendlichen und Eltern vor den Gefahren der Online-Sucht sollen " Kriterien zur Identifizierung der Suchtgefahr bei Computerspielen" entwickelt und "in den Bewertungskatalog zur Alterseinstufung der Spiele" aufgenommen werden. Beim Internet würde das wohl kaum funktionieren.