Mit der Bundesregierung nachhaltig in die Krise

Die Bundesregierung lobt sich im aktuellen Nachhaltigkeitsbericht für ihre gefährliche Austeritätspolitik

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Die Bundesrepublik möchte ein nachhaltig agierender Staat sein: Seit zehn Jahren verfolgen die verschiedenen Regierungen daher eine so genannte nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Doch was zunächst ganz sympathisch nach moderner, über die nächsten Wahlen hinaus weitergedachter Politik klingt, birgt seine Tücken. Denn ein gutes Drittel der Deutschen weiß gar nicht, was sich hinter dem Begriff Nachhaltigkeit überhaupt verbirgt (Ein Drittel der Deutschen kann mit dem Wort Nachhaltigkeit nichts verbinden). Das wiederum lässt der Bundesregierung einen entsprechend großen Spielraum, den Begriff für sich zu besetzen - um so ihrer ganz und gar nicht zukunftsorientierten Sparpolitik ein schönes Mäntelchen umzuhängen.

Wer einen Blick in den aktuellen Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie wirft, der könnte gemeinsam mit Daniela Ludwig (CSU), ihres Zeichens Obfrau für die Unionsparteien im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung, zu dem Schluss kommen, dass Deutschland der Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit schlechthin ist. Immerhin, so betont die CSU-Frau, nehme nachhaltige Haushaltsführung in dem Bericht eine "klar herausgehobene Stellung" ein.

Tatsächlich wird die Finanzpolitik der Bundesregierung, die praktisch vor allem eine Politik des Sparens um jeden Preis ist, in den höchsten Tönen gelobt. Nachhaltige Finanzpolitik ist es demnach, in Deutschland und Europa eine Schuldenbremse einzuführen und das so genannte strukturelle Defizit auf Null zu senken.

Auch die Stabilisierung des Euro-Raumes scheint zum Greifen nah. Denn den Finanz- und Wirtschaftskrisen, die gegenwärtig in den am Rande Europas gelegenen Staaten stattfinden, sich aber mit der Krise in Italien auch immer mehr dem europäischen Zentrum nähern, hat die Politik dank des disziplinierten Handelns der Deutschen etwas entgegenzusetzen: Eine "umfassende Gesamtstrategie zur Stabilisierung und Reform der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion" sei entwickelt worden, damit "sich diese Staatsverschuldenskrise nicht zu einer Krise der gemeinsamen europäischen Währung und gar zu einer Krise der Europäischen Union auswächst".

Es folgt eine Auflistung der Maßnahmen, die vor allem auch von der deutschen Regierung unter der "eisernen Kanzlerin" Angela Merkel durchgedrückt wurden: die verpflichtende und sanktionsbewehrte Schuldenrückführung mit dem mittelfristigen Ziel ausgeglichener Haushalte, die Schuldenobergrenze von 60 Prozent des BIP, die für alle Euro-Länder gilt und nicht zuletzt die schnellen und quasi-automatischen Sanktionen, mit denen ausgerechnet jene Länder zusätzlich belastet werden, die wirtschaftlich ohnehin in einer angespannten Lage sind.

Die Folgen der "Nachhaltigkeit"

Auf die Folgen dieser verordneten, europaweiten Austeritätspolitik allerdings geht der Bericht mit keinem Wort ein. Kein Wunder, immerhin darf sie bereits jetzt als gescheitert gelten. Seit 2008 schrumpft das griechische Bruttoinlandsprodukt von Jahr zu Jahr stärker. 2012, so schätzen Experten, könnte es eine noch stärkere Rezession geben als bereits 2011. Ein Minus von 7,5 Prozent erscheint Ökonomen mittlerweile realistisch - dabei bräuchte Griechenland dringend Wachstum, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien.

Die Verarmung in Griechenland hat mittlerweile auch die Mittelschicht ergriffen. Familien müssen ihre Kinder in SOS-Kinderdörfern abgeben, da sie sie nicht mehr selbst ernähren können, ganz normale Durchschnittsbürger verlieren erst ihre Arbeit, schließlich ihre Wohnung und sind gezwungen, in immer längeren Schlangen vor den Suppenküchen anzustehen, um eine warme Mahlzeit zu erhalten. Gleichzeitig achten die europäischen Finanzminister, allen voran Wolfgang Schäuble, peinlich genau darauf, dass Griechenland ja keine einzige Million in seinem Sparprogramm vergisst. Selbst demokratische Wahlen sieht Schäuble, gemeinsam mit seinen Parteikollegen, als Gefahr an.

Weil nicht klar ist, ob die Griechen auch nach den Wahlen im April an dem oktroyierten Sparprogramm festhalten, wird mittlerweile offen darüber nachgedacht, die eigentlich versprochenen Hilfen in Höhe von 130 Milliarden Euro erst nach dem Urnengang auszuzahlen. Da wäre Griechenland aber längst pleite, denn am 20. März muss die griechische Regierung fällige Schulden begleichen. So kann das Verhalten der europäischen Finanzminister nur als unverhohlene Aufforderung zum Wahlverzicht verstanden werden - für die "nachhaltige" Finanzpolitik, wie sie Deutschland vorschwebt, ist Demokratie vor allem lästig.

Dabei gibt die Bundesregierung vor, mit ihrer Politik genau das Gegenteil zu erreichen: "Jede Generation muss ihre Aufgaben selbst lösen und darf sie nicht den kommenden Generationen aufbürden", beschreibt sie die Grundregel ihrer Nachhaltigkeitsstrategie und erklärt, dass dazu auch der "Zugang zu Bildung oder zur Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand und am Arbeitsleben" zählt.

Ein Blick auf die Auswirkungen der Sparpolitik zeigt: Das Gegenteil ist der Fall. Denn die aufgrund der Austeritätspolitik schrumpfende Wirtschaft bringt notwendigerweise steigende Arbeitslosenzahlen mit sich. In Griechenland ist heute mehr als jeder Fünfte und damit über eine Million Menschen laut offizieller Statistik arbeitslos - so viele wie noch nie in der jüngeren Geschichte des Landes. In Europa sieht es insgesamt nicht besser aus. Wie die Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) jüngst meldete, ist die Arbeitslosigkeit im Jahr 2010 in Europa auf einen Rekordwert gestiegen. 45 Millionen Europäer sind betroffen, und es gilt als sicher, dass diese Zahl aktuell noch höher liegt. So stieg laut Eurostat die Arbeitslosenquote in Spanien zwischen März und Dezember 2011 von 20,8 Prozent auf 22,9 Prozent. Portugal meldet für den gleichen Zeitraum einen Anstieg von 12,4 Prozent auf 13,6 Prozent.

Auch von der "Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand" verabschiedet sich die deutsche Politik zusehends. Denn zu den "Sparmaßnahmen" in Griechenland gehört auch eine Senkung des Mindestlohns in der Privatwirtschaft. Bisher liegt dieser in Griechenland bei 751 Euro. Nach dem jüngsten griechischen "Sparpaket" soll dieser jedoch um volle 22 Prozent, für Jugendliche unter 25 Jahren sogar um 32 Prozent gesenkt werden. Für den Staat bedeutet dies sogar eine zusätzliche Belastung, immerhin bedeuten sinkende Löhne auch sinkende Steuereinnahmen und steigende Arbeitslosigkeit, da der Binnenkonsum noch weiter einbricht und mit weiteren Umsatzrückgängen und Geschäftsschließungen zu rechnen ist.

Dass die Mehrwertsteuereinnahmen im Januar 2012 im Vergleich zum Vorjahr um ein Fünftel einbrechen, obwohl der Steuersatz von 21 auf 23 Prozent erhöht wurde, ist eine logische Folge dieser Politik: Je mehr Menschen auf die Armenspeisung angewiesen sind, je weniger Geld fließt in die regulären Märkte.

Die nachhaltige Finanzpolitik ist ein europäisches Lohnsenkungsprogramm

Michael Schlecht, Chefvolkswirt der Linkspartei im Bundestag, warnt davor, dass dies auch Folgen für Deutschland haben wird. Denn mit dem griechischen Lohnsenkungsprogramm entsteht in Europa ein neues Niedriglohnland. Die niedrigen Arbeitskosten in den Krisenländern, die auch von Deutschland eingefordert werden, könnten künftig jedoch auch als Argument für einen weiteren Ausbau des Niedriglohnsektors hierzulande dienen. "Lohn- und Sozialkürzungen in Griechenland und den anderen Krisenländern drohen sich letztlich auch rückwirkend auf Deutschland auszuwirken", so Michael Schlecht.

Selbst die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung kommt mittlerweile zu dem Schluss, dass die Krise durch ein "mehrfaches Politikversagen" verschärft würde: "Es gründet in der Wirtschaftsphilosophie des Sparprimats, die die Anpassungsprogramme in Griechenland und Portugal, aber auch die Härtung des Stabilitätspakts sowie die im Dezember beschlossene 'Fiskalunion' bestimmt. Die falsche 'Therapie des harten Sparens' beschert Europa zu Beginn des Jahres 2012 eine Rezession, welche die Schuldenkrise weiter vertiefen wird." Doch obwohl die Sozialdemokraten in der Expertise ihrer eigenen Stiftung nachlesen können, dass die deutsche Schuldenbremse "der Gipfel dieser neoliberalen Sichtweise" ist, halten sie nach wie vor an diesem Instrument fest.

Die Bundesregierung betont in ihrem Bericht jedoch auch, dass wirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen den Euro-Staaten ein krisenverschärfendes Problem darstellen. Tatsächlich warnen Ökonomen wie Heiner Flassbeck immer wieder vor der Destabilisierung der Wirtschaft durch die Exportüberschüsse Deutschlands, die ihre Ursache in vergleichsweise geringen Lohnstückkosten haben. Doch von problematischen Überschüssen ist bei der Bundesregierung keine Rede, im Gegenteil:

Um übermäßige wirtschaftspolitische Ungleichgewichte bereits im Ansatz zu verhindern bzw. schnellstmöglich zu korrigieren, wird das Augenmerk vor allem auf Problemstaaten mit Verlusten an Wettbewerbsfähigkeit liegen. Dabei stehen u. a. die Entwicklung der Lohnstückkosten und der realen effektiven Wechselkurse von EU-Ländern unter ständiger Beobachtung.

Das Problem sind also nicht die deutschen Überschüsse, die in den seit Jahren sinkenden Reallöhnen und dem beständig wachsenden Niedriglohnsektor ihre Ursachen haben, sondern vielmehr jene Staaten, in denen der Druck auf die Löhne in der Vergangenheit aus deutscher Sicht zu niedrig war. Unter dem schönen Mantel der nachhaltigen Finanzpolitik verkauft die Bundesregierung so ein europäisches Lohnsenkungsprogramm, das letztlich auch dem Vize-Exportweltmeister Deutschland schaden wird. Denn wenn sich die Rezession bei den deutschen Handelspartnern verschärft, dann brechen die Exportmärkte weg. Der ausgehungerte Binnenmarkt wird dies nicht kompensieren können. Die Folge wäre ein dramatischer Einbruch auf dem deutschen Arbeitsmarkt.

Die Bundesregierung hat es dabei erfolgreich geschafft, ihre selbstgefällige Sicht auf die wirtschaftlichen Ungleichgewichte auch im makroökonomischen Frühwarnsystem der EU zu platzieren. So werden Leistungsbilanzdefizite auf Druck Deutschlands bereits ab einer Höhe von vier Prozent des BIP durch die EU angemahnt, Überschüsse jedoch erst ab 6 Prozent. Deutschlands Saldo lag im Berichtszeitraum von 2008 bis 2010 bei +5,9 Prozent - was Währungskommissar Oli Rehn dazu veranlasste zu erklären, für Deutschland seien "keine exzessiven Ungleichgewichte" erkennbar.

Die Bundesregierung, so scheint es, tritt damit vor allem für die nachhaltige Zementierung von wirtschaftlichen Ungleichgewichten und Abbau von Sozialstandards ein - was zu einer nachhaltigen Verschärfung der gegenwärtigen Krise zu Lasten der wirtschaftlich Schwachen führt.