Selbstmordwelle in Russland

Seit Anfang Februar haben 13 Jugendliche in Russland Selbstmord begangen. Soziale Probleme, autoritärer Erziehungsstil und Depressionen sind die Hauptgründe.

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Eine Welle von Selbstmorden unter Jugendlichen hat in Russland eine heftige Debatte ausgelöst. Der Psychotherapeut Konstantin Olchowoj macht im konservativen Massenblatt Komsomolskaja Prawda das Winterwetter und eine nicht näher beschriebene "Spannung in der Gesellschaft" für die Selbstmorde verantwortlich. "Februar und März, das sind die Monate, wo psychische Störung verstärkt auftreten", so der Experte. Nach Meinung des konservativen Blattes tragen auch die Medien Schuld, da sie mit ihren Berichten potentielle Nachahmer anspornen.

Der Moskowski Komsomolez rät den Eltern, mehr den Kontakt zu ihren Kindern zu suchen, meint aber auch, es gäbe möglicherweise auch eine erbliche Veranlagung für Selbstmorde. Allgemein herrscht in der Bevölkerung Bestürzung und Ratlosigkeit. "Warum wollen unsere Jugendlichen nicht leben?", fragte das Massenblatt und gibt keine Antwort.

Selbstmord aus Trauer über die tote Freundin

Der letzte Selbstmord einer Jugendlichen ereignete sich Mitte Februar. Die 15jährige Alena Grafskaja sprang aus dem 15. Stockwerk eines Hauses im Südwesten von Moskau. Der Grund für den Selbstmord war nach Meinung der Freundinnen, dass Alena seit der vierten Klasse von einem Mitschüler gehänselt und gequält wurde. Für die Hänseleien gab es folgenden Anlass: In der Schule war bekannt geworden, dass Alenas Mutter wegen eines Nervenzusammenbruchs in einer Psychiatrischen Anstalt und arbeitslos war. Das Hänseln verstärkte sich, nachdem sich Alena einen Emo-Look zulegte, sich die Haare schwarz färbte und die Lippen piercte.

Die finanzielle Situation von Alenas Familie war äußerst schwierig. Das Mädchen lebte mit ihrer Mutter und Großmutter zusammen, wobei die Großmutter für das Einkommen sorgte. Die alte Dame sammelte Blechdosen und klebte Reklame. Dass von Alenas Vater keine finanzielle Hilfe kam, ist nicht untypisch für Russland, wo die Väter wegen Unterhaltszahlungen juristisch nur selten belangt werden.

Mit dem Todessprung von Alena war die Tragödie jedoch noch nicht zu Ende. Einen Tag später zerschnitt sich eine Freundin von Alena aus Trauer über den Tod die Venen durch. Das Mädchen konnte in einem Krankenhaus gerettet werden und wurde dann auf Bitten der Eltern in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, berichtet die Komsomolskaja Prawda.

Alena Grafskaja ist seit Anfang Februar bereits das fünfte Selbstmord-Opfer im Großraum Moskau. Weitere Fälle wurden aus den südrussischen Gebieten Rostow und Krasnodar sowie den sibirischen Regionen Tomsk, Amur, Krasnojarsk und Jakutien gemeldet.

"Klub der Selbstmörder"

Die Zeitungen berichteten in den letzten Tagen über bisher Verschwiegenes: Das Schicksal gescheiterter Suizidanten und ihre "Klub samoubiystv" (Suizidgruppen), in denen Jugendlichen ihre Erfahrungen austauschen oder Suchanzeigen nach Gleichgesinnten zur gemeinsamen Durchführung der Tat aufgeben. Wer sich zum Freitod entscheidet, meldet sich aus der Internetgruppe ab, so lautet die Regel. Damit sollen die Spuren zu möglichen weiteren Selbstmordkandidaten verwischt werden.

Meist sind Angst vor harten Strafen in der Schule oder Streit mit den Eltern der Auslöser für den Freitod. Experten sind der Meinung, dass sich Konflikte zwischen Jugendlichen und ihren Eltern oft unnötig zuspitzen, weil viele Eltern keine Geduld haben und ihre Kinder einfach nur anschreien. So fühlen sich die Heranwachsenden alleine gelassen. Der Kontakt zu den Eltern bricht ab. Einen Psychologen aufzusuchen, dafür ist entweder das Geld nicht da oder man schämt sich.

Der 14jährige Moskauer Schüler Sascha Filipjow sprang am 8. Februar aus der 16. Etage seines Hauses in den Tod. Sein Vater hatte ihn beschuldigt, er habe von einem Klassenkameraden den Fotoapparat gestohlen. Am Abend des 7. Februar fassten sich die Freundinnen Lisa Pelyza und Nastja Koroljowa an den Händen und sprangen gemeinsam vom 15. Stockwerk eines Wohnhauses in die dunkle Winternacht. Die Mädchen aus der Kleinstadt Lobnja bei Moskau hatten sich nach zwei Wochen Schulschwänzen aus Angst vor der Strafe in der Schule zum Selbstmord entschlossen, las man in ihrem Abschiedsbrief.

Nach einer 2011 von dem Kinderhilfswerk UNICEF gemeinsam mit dem russischen Gesundheitsministerium erstellten Studie sind die Abschussprüfungen im Juni und Feiertage wie der Valentinstag – der Tag der Verliebten – ebenfalls Anlässe für Selbstmorde.

Russland liegt bei Selbstmorden von Jugendlichen international auf Platz drei

Nach der UNICEF-Studie war die Selbstmordrate im zaristischen Russland niedrig, weil Selbstmorde von der Kirche verurteilt und vom Staat juristisch verfolgt wurden. In der Sowjetunion waren die Selbstmordzahlen besonders hoch in den Jahren der Repression - 1937 und 1947 -, der Zeit "sozialen Stagnation" - Mitte der 1960er bis Mitte der 1980er Jahre – und während der wilden Umbruchszeit Ende der 1980er bis Anfang der 2000er Jahre.

Russland liegt nach Angaben von UNICEF bei den Selbstmorden unter Jugendlichen weltweit auf Platz drei. 200 Kinder und 1.500 Jugendliche verüben pro Jahr Selbstmord. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 2009 – neuere Zahlen liegen noch nicht vor – 21 Kinder und 194 Jugendliche. Während die Selbstmordrate der Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 20 Jahren in Deutschland bei vier Personen pro 100.000 Einwohner liegt, wählen in Russland 20 Jugendliche dieser Altersgruppe den Freitod.

Besonders dramatisch ist die Situation in den abgelegenen Gebieten Sibiriens, wo es viele soziale Probleme, einen hohen Alkoholkonsum und keine Hoffnung auf Veränderungen gibt. Die an der Grenze zu China gelegene Region Tuwa ist mit 120 Selbstmorden pro 100.000 Jugendliche der traurige Spitzenreiter in Russland.

Hohe Zahl von Depressionen

Nach der UNICEF-Studie sind zwanzig Prozent der russischen Jugendlichen depressiv. In den entwickelten Ländern des Westens seien es hingegen fünf Prozent der Jugendlichen. 92 Prozent der Kinder, die Selbstmord begangen haben, kommen – so die Studie - aus sozial gefährdeten Familien, wo die Eltern tranken und die Kinder brutal behandelten.

Eigentlich sei die Zahl der Selbstmorde noch viel höher, sagt der Kinderschutz-Beauftragte des russischen Präsidenten, Pawel Astachow. Pro Jahr gäbe es 4.000 Selbstmordversuche. Die Behörden würden den Versuch, aus dem Leben zu scheiden, oft als Unfall kaschieren. Mit der Vorsorge sieht es in Russland schlecht aus. 69 Prozent der Schulen haben keinen Schulpsychologen. Schulen mit 800 Kindern müssten mit ein bis zwei Psychologen auskommen.

Früher hätten die Kinder mehr unter Aufsicht gestanden, erinnert sich der Kinder-Beauftragte des russischen Präsidenten. Staatliche Organisationen kümmerten sich um kostenlose Freizeitaktivitäten. Doch diese Maßnahmen wurden Anfang der 1990er Jahre ersatzlos gestrichen. Heute hängt es vom Geldbeutel der Eltern ab, ob ein Kind einen Tanz-, Schwimm- oder Malkurs besuchen kann. Bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 450 Euro ist das Geld für bezahlte Freizeitaktivitäten äußerst knapp.