Merkels Zukunftsdialog wird von rechts unterwandert - und die Kanzlerin schweigt

Bundesregierung zeigt deutliche Schwächen beim direkten Umgang mit den Bürgern

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Angela Merkels Zukunftsdialog geht in eine neue Runde. Seit dem Mai 2011 beschäftigt die Kanzlerin ein über 120köpfiges Expertengremium, aufgeteilt in 18 Arbeitsgruppen, mit drei Fragen, die Merkel zu den Leitfragen für die Zukunft Deutschlands ausgewählt hat: "Wie wollen wir zusammenleben?", "Wovon wollen wir leben?", "Wie wollen wir lernen?". Seit dem 1. Februar dürfen nun auch die Bürger Vorschläge für diese Fragen einreichen. Doch der Bürgerdialog zieht vor allem ungeliebte Gäste von Rechtsaußen an - und die Organisatoren igeln sich ein und schauen weg.

Vor allem bei den selbsternannten "Islamkritikern" erfreut sich der laut Spiegel Online 1,5 Millionen Euro teure Bürgerdialog, den das Bundeskanzleramt da ins Leben gerufen hat, größter Beliebtheit. Die mit Abstand beliebtesten Vorschläge entstammen der Rubrik "Wie wollen wir zusammenleben?" und geben eine bunte Mischung der Themen wieder, die auch in rechten Blogs heiß diskutiert werden.

Mit über 68.000 Stimmen auf dem ersten Platz befindet sich der Vorschlag "Offene Diskussion über den Islam", in dem die Behauptung aufgestellt wird, "Islamkritik" werde "pathologisiert und kriminalisiert". Deshalb müsse endlich eine "argumentative Auseinandersetzung über den Islam" in Politik und Medien stattfinden.

Der Vorschlag wurde bereits am ersten Tag des Bürgerdialogs gepostet, ist von Beginn an der Liebling der Nutzer und nahezu durchgehend auf Platz eins. Dazu beigetragen haben auch Blogs wie der islamfeindliche Blog "Politically Incorrect" (PI), der mittlerweile offenbar auch vom Verfassungsschutz beobachtet wird und bereits am 2. Februar begann, für den Vorschlag auf Merkels Dialogplattform zu werben. PI erinnert seine Leser immer wieder in Beiträgen an den Online-Dialog und weist auch auf weitere politisch genehme Vorschläge wie den zur "Rückführung krimineller Ausländer und Sozialhilfeempfänger" hin, der mit über 8.000 Stimmen immer noch fast drei Mal so viel Zustimmung erfährt wie der bestbewertete Vorschlag aus der Bildungsrubrik, der "Empathie im Alltag" einfordert.

Leugnung des Völkermord, Zuwanderung, schariakonforme Schlachtung, Ende des Cannabis-Verbots

Den dritten Platz in der Gesamtwertung mit über 54.000 Stimmen hat der Ruf nach einem "Gesetz gegen die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern und Aramäern". Mehr als 32.000 Waffennarren fordern unter dem Motto "Waffenrecht - Fakten statt Lügen" ein Ende der von "linken Ideologien gesteuerten Diffamierungskampagnen" gesteuerten Diskussion über das "überzogene deutsche Waffen und Sprengstoffrecht".

Ebenfalls gut im Rennen liegen Diskussionen über den "Sinn und Unsinn der praktizierten Form der Zuwanderung" und das "Verbot schariakonformer Halalschlachtung sowie der Handel mit Halalprodukten mit jeweils gut 19.000 Stimmen.

Die weiteren Vorschläge auf den vorderen Plätzen sind zwar frei von jedem Verdacht, von rechts unterwandert zu sein, dürften im Bundeskanzleramt aber für Kopfzerbrechen sorgen. So konnte der Vorschlag, Cannabis künftig auf einem regulierten Markt frei verfügbar zu machen, mehr als 62.000 Stimmen auf sich vereinigen und ist damit der einzige Vorschlag, der noch ansatzweise Chancen hat, den Islamophoben den ersten Rang abzujagen. Angela Merkel zollte der Cannabis-Community zwar in einem Interview Respekt, weil sie es schaffe, sich für ihr Anliegen einzusetzen. Von der praktischen Umsetzung der Idee hält die Kanzlerin freilich gar nichts.

Durch stillschweigende Ausgrenzung gießt die Kanzlerin Öl ins ausländerfeindliche Feuer

Trotzdem kommt der Äußerung der Kanzlerin in dem Interview große Bedeutung zu, denn ohne es zu wollen, gab sie damit den Islamkritikern Futter. Michael Stürzenberger, ein vergleichsweise radikaler PI-Autor und Landesvorsitzender der rechtspopulistischen Partei "Die Freiheit" in Bayern, unterstellte der Kanzlerin auf PI nach dem Interview, sie würde das Thema Islam immer dreister vertuschen - immerhin liege das Thema ja in Führung, und Cannabis nur auf Rang zwei. "Man fragt sich schon: ist der Bundeskanzlerin ein zugekifftes und apathisches Wahlvolk lieber als ein kritisches, was sich mit der Islamisierung beschäftigt und diese als brennende Gefahr für dieses Land ansieht?", so Stürzenberger.

Zuvor war angekündigt worden, dass Angela Merkel in dem Video die drei bestbewerteten Fragen beantworten würde. Fragen, die extra dazu eingereicht werden mussten wohlgemerkt, die Vorschläge der Bürger waren ausdrücklich nicht gemeint. Bei den so genannten "Islamkritikern" jedoch rief es Proteste hervor, dass ihr Anliegen nicht behandelt wurde. Es wäre gut, "wenn sie (Angela Merkel, der Autor) das nächste Mal bei ihrem nächsten Zukunftsdialog nicht verschweigen, dass ganz oben, an allererster Stelle, mit großem Abstand diese Forderung zur offenen Islamdiskussion steht", nutzt Stürzenberger die Gelegenheit, die "offene Aussprache" über den Islam als von vielen gewollt, aber von der Politik unterdrückt hinzustellen.

Die Bundesregierung macht es den Rechtspopulisten leicht, sich derart zur unterdrückten Minderheit zu stilisieren: Die Fragen, die sich für das Interview mit der Kanzlerin in der Abstimmung durchgesetzt haben, wurden depubliziert, der Hergang ist nicht mehr so leicht nachvollziehbar.

Anstatt Gerüchten, die den Islamhassern in die Hände spielen, entgegenzutreten, schweigt die Kanzlerin und das Bundespresseamt, welches die Aktion betreut. Man lässt den braunen Spuk einfach laufen.

Der vorgeschaltete Themenfilter macht den Dialog zur Farce

Bei der ersten von insgesamt drei Dialogveranstaltungen mit Bürgern in Erfurt wird dieser Fehler wiederholt. Jede der drei Dialoge mit der Kanzlerin steht im Zeichen einer der drei Leitfragen, und in Erfurt macht ausgerechnet der von Rechtsaußen unterwanderte Komplex zum Zusammenleben den Anfang. Die Kanzlerin, so teilt das Bundespresseamt Telepolis vorab auf Anfrage mit, wird zu den Forderungen der Anti-Islam-Szene nicht von sich aus Stellung beziehen. Was aber, wenn diese die Gelegenheit nutzen um die Veranstaltung zu unterwandern und in ihrem Sinne zu nutzen? Dass sich unter den 100 Bürgern, die zur Hälfte von zivilgesellschaftlichen Institutionen vorgeschlagen und zur anderen Hälfte in einem Losverfahren der Thüringer Allgemeinen Zeitung ausgesucht wurden auch Vertreter jener kruden Thesen befinden, ist ja nicht auszuschließen.

Doch auch hier wurde vorgesorgt: Die Anliegen aller teilnehmenden Bürger seien vorab in Gesprächen ermittelt worden, "Islamkritiker" seien daher wahrscheinlich keine zu erwarten, so das Bundespresseamt. Offenbar soll es der Kanzlerin erspart werden, gegen krude, aber auch all zu kritische Themen argumentieren zu müssen. Dabei wäre es ein wichtiges Zeichen, wenn die Kanzlerin auch im Dialog mit den Bürgern gegen die These der "Islamisierung Deutschlands" argumentieren würde . Den harten Kern der Islamophoben könnte sie zwar nicht erreichen, aber sie würde dafür sorgen, dass deren Behauptung, es fände keine offene Diskussion statt, weil die etablierte Politik dann zugeben müsste, im Unrecht zu sein, Schritt für Schritt der Nährboden entzogen würde. Nur so lassen sich jene Verunsicherten, die von der Aura der unterdrückten Mehrheitsmeinung, die Blogs wie PI umgibt, angezogen fühlen, noch überzeugen, nicht auf die kruden Überfremdungstheorien hereinzufallen und sich doch noch einmal mit den Fakten zu beschäftigen.

Das Thema Islam kommt in Erfurt tatsächlich nicht zur Sprache, der vorgeschaltete Teilnehmerfilter hat offenbar ganze Arbeit geleistet. Kritische Situationen für Merkel sind ohnehin nicht zu erwarten, zu kurz ist dafür die Zeit für die einzelnen Redner. 100 Bürger wollen immerhin in nur 90 Minuten der Kanzlerin ihr Anliegen vortragen, und eine kurze Antwort der Kanzlerin hören. Dazwischen gibt es noch kurze Einspielfilme. Zieht man die Moderation auch noch ab, bleiben am Ende bleiben pro Bürger vielleicht 30 Sekunden Zeit. Weil sich daran nun auch wieder niemand halten kann, kommt nicht jeder zu Wort. Nachhaken ist ohnehin kaum möglich.

Der Bürgerdialog ist so angelegt, dass die Kanzlerin die Ideen der Bürger sammeln muss wie am Fließband, zwischendurch spricht sie anerkennende Worte für die Ideen der Bürger und verspricht, ihr Möglichstes zu tun. Ein echter Dialog, so viel steht fest, ist das nicht - viel eher schon eine schöne Inszenierung einer Kanzlerin, die auch mal zu den Menschen geht und zuhört. Der Vorwurf der Opposition, es handele sich um vorgezogenen Wahlkampf, scheint angebracht.

Zum Abschluss zeigt sich die Kanzlerin dann auch ermutigt von den Redebeiträgen ihrer Bürger, die sich zum Abschluss als Kulisse für die Fotografen um sie herum versammeln dürfen. Die Kanzlerin erklärt, dass die Wertschätzung aller Menschen verbessert und für die Toleranz "ein bisschen mehr" getan werden müsse - wer die von Intoleranz geprägten Vorschläge auf der Internetplattform des Zukunftsdialogs ansieht weiß: "ein bisschen mehr" wird da wohl nicht reichen.

Vorerst allerdings ist die Kanzlerin dem Problem erfolgreich aus dem Weg gegangen und durfte mit ihrer Bürgernähe glänzen. Dabei wäre es angebracht, wenn Angela Merkel an die Worte Stürzenbergers denken würde: "Verschweigen, Frau Bundeskanzlerin, führt dazu, dass dieses Land islamisiert wird. Und dann tragen Sie die Verantwortung, dass es demnächst nicht mehr ganz so friedlich wahrscheinlich aussehen wird."

Am 15. April ist der Bürgerdialog vorbei. Dann steht fest, ob Merkels Schweigen dazu führen wird, dass sie im Bundeskanzleramt Thesen zur Überfremdung Deutschlands durch den Islam Raum geben muss. Bisher jedenfalls hat das Schweigen der Politik genau jene Thesen populär gemacht.