Ein ungewollter Sarrazin-Effekt?

Die Studie "Lebenswelten junger Muslime in Deutschland" liefert deutliche Hinweise, dass die Diskussion über Sarrazins Buch Dynamiken in Gang setzte, die der Integration schaden

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Die 764 Seiten lange Studie Lebenswelten junger Muslime in Deutschland argumentiert sehr viel vorsichtiger als die gestrigen kurzatmigen Kommentare von CSU-Politikern, die, auf Vorabveröffentlichungen gestützt, Erregungswellen produzierten ("Nährboden für religiösen Fanatismus"). Deutlich abzulesen ist dies etwa in dem Exkurs, der sich mit der interessanten Frage beschäftigt, inwieweit die Diskussion über Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" einen Einfluss auf Einstellungen, Meinungen und Ansichten junger Muslime (14 bis 32 Jahre) hatte1.

Um das Ergebnis in der Art mancher Politiker auf eine kurze Formel zu bringen, unbeeinträchtigt von Widersprüchlichkeiten oder Vorbehalten, lautet die Antwort: Ja, die Diskussion, die im Spätsommer 2010 mehrere Wochen lang die Öffentlichkeit beschäftigte, hatte einen Einfluss und zwar einen negativen. Die Radikalisierungsindikatoren zeigten durchweg höhere Werte bei den nichtdeutschen Muslimen. Abwehr und Entfremdung also und wenn man es plakativer haben wollte, könnte man auch das Wort Animositäten ins Spiel bringen.

Als Kontext könnte man dem noch beistellen, dass Umfragen, welche die Studie zitiert, auf eine relativ hohe Zustimmung zu Sarrazins Ansichten in der Anhängerschaft politischer Parteien verweisen:

Die Zustimmung zu Sarrazins Thesen schien bei den FDP-Anhängern am höchsten zu sein (59 Prozent), aber auch die Wähler der CDU/CSU (51 Prozent stimmten Sarrazin zu), der Linkspartei (52 Prozent) und der SPD (43 Prozent) meinten, Sarrazin habe Recht mit seiner kritischen und provokanten Sicht auf die Integrationsfähigkeit und die Integrationsbereitschaft der Muslime in Deutschland.

Doch wie würde die "Einwanderungsgesellschaft" auf die Sarrazin-Diskussion reagieren. Welche Spuren hat sie hinterlassen? Laut einer vergleichenden Befragung des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), die Anfang 2011 veröffentlicht wurde, sank die Zustimmung zur Frage, ob Mehrheits- und Zuwandererbevölkerung "ungestört miteinander" leben, "nach Sarrazin" deutlich.

Dieser Aussage stimmten 2009 noch 21,7 Prozent der Zuwanderer "voll und ganz" zu. Im November und Dezember 2010, nach der Sarrazin-Debatte, bestätigten diese positive Einstellung nur noch 9,1 Prozent. Umgekehrt verdoppelte sich fast der Anteil der pessimistischen Einschätzungen unter den Zuwanderern: 2009 bewerteten nur 3,5 Prozent die Einschätzung eines ungestörten Miteinanders mit "gar nicht". 2010 stieg ihr Anteil auf 6 Prozent.

Angemerkt wird aber auch: "Im Mittelfeld aber überwiegen nach wie vor die verhalten positiven, gelasseneren Einstellungen zum Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft."

Vor Sarrazin, nach Sarrazin

Da die aktuell veröffentlichte "Lebenswelten junger Muslime"-Studie im August 2010 bis Ende September, eine zweite Erhebungswelle durchführte - also genau in dem Zeitraum, in die Diskussion über Sarrazins Buch auf-und abebbte - konnte sie die Entwicklungen in ihrer Untersuchung erfassen - allerdings mit einer relevanten methodischen Einschränkung, worauf die Verfasser ausdrücklich hinweisen: Es ist nicht derselbe Personenkreis "vor" und "nach" der Sarrazindebatte, der befragt wurde.

Eindeutige kausale Wirkungen der Buchveröffentlichung auf die Einstellungen sind allerdings nicht möglich, da es sich bei den "vor" und "nach Sarrazin" Befragten nicht um identische Personen, sondern um unabhängige Stichproben handelt.

Es bleibt aber der Vergleich der abgefragten Einstellungen und Meinungen der jeweiligen Gruppen - deutsche Nichtmuslime, deutsche Muslime, nichtdeutsche Muslime. Bei den Muslimen wurden die eingangs erwähnten "Radikalisierungsindikatoren" - namentlich Vorurteile gegenüber Juden und dem Westen, Gefühle gegenüber dem Westen, Rechtfertigung von Gewalt - abgefragt, sowie Akkulturationsziele und die Identifikation mit Deutschland, bzw. mit den Muslimen. Abgelesen wurde dies durch Zustimmung bzw. Ablehnung einiger zentrale Aussagen wie zum Beispiel2:

  1. "Die Bedrohung der islamischen Welt durch den Westen rechtfertigt, dass Muslime sich mit Gewalt verteidigen."
  2. "Wir Menschen aus … sollten in Deutschland die Kultur unseres Herkunftslandes bewahren."
  3. "Wir Menschen aus … sollten die deutsche Kultur übernehmen."

Den Studienverfassern fiel bei der Auswertung nun einiges auf, das nicht gerade für die Annahme spricht, wonach die Sarrazin-Diskussion der Integration förderlich war. So zunächst ein seltsam anmutendes Ergebnis: Die Muslime mit deutschem Pass stimmten "nach Sarrazin" deutlich stärker als die Vergleichsgruppe "vor Sarrazin" der Aussage zu, "dass die Deutschen wollen, dass die zugereisten Muslime die Kultur ihres Herkunftslandes bewahren sollten".

Als Aufforderung zur Separation interpretiert

Von den Wissenschaftlern wird dies dahingehend erklärt, dass die deutschen Muslime den Grundtenor der Debatten "als Aufforderung zur Separation interpretiert" haben. Hier zeigt sich jedenfalls eine auffallend andere Auffassung als die der deutschen Nichtmuslime, die "nach Sarrazin" stärker als "vor Sarrazin" meinten, die Muslime sollten die deutsche Kultur übernehmen.

Ein ganz deutliches Bild lieferten die Aussagen der jungen Muslime in Deutschland, die keinen deutschen Pass haben3:

(...) signifikant stärker ausgeprägte Vorurteile gegenüber dem Westen und b) gegenüber den Juden; sie stimmen c) eher religiös-fundamentalistischen Überzeugungen zu; sie meinen d) signifikant eher, dass die Bedrohung der islamischen Welt durch den Westen eine Rechtfertigung sei, dass Muslime sich mit Gewalt verteidigen; überdies stimmen sie e) signifikant häufiger der Aussage zu, die Muslime sollten in Deutschland die Kultur ihres Herkunftslandes bewahren; f) die Aussage, die Muslime sollten die deutsche Kultur übernehmen, lehnen sie signifi kant eher ab; g) sie äußern eine signifikant größere Verbundenheit mit der Gemeinschaft aller Muslime und h) sie äußern signifikant stärker Hass gegenüber dem Umgang der westlichen Welt mit dem Islam.

Daraus, so folgern die Autoren der Studie - W. Frindte, K. Boehnke, H. Kreikenbom, W. Wagner - ließen sich wegen der genannten methodologischen Einschränkungen keine kausalen Schlüsse ziehen, aber wohl "Vermutungen" anstellen. Es gibt statistisch auffällige Unterschiede in den Einstellungen "vor und nach Sarrazin". Sie beschreiben die Ausweitung einer Kluft.

Die Neigung, sich stärker auf die Kultur der Herkunftsländer zu beziehen, ist ausgeprägter, zugleich steigt die Abneigung gegen die westliche Kultur, die Vorurteile gegen Juden und die Tendenz zur "religiös-fundamentalistischen Überzeugung".

Gewollt/nicht gewollt?

Nach diesen Indizien hätte die Debatte "auch einen konträren und sicher von niemandem gewollten Effekt gehabt": Dass sich "möglicherweise die nichtdeutschen Muslime als noch weiter aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen wahrgenommen" haben und mit einer "noch stärkeren Abgrenzung von der Kultur der deutschen Mehrheitsgesellschaft reagiert" haben.

Dies war schon während der Sarrazin-Debatte von einigen als Befürchtung geäußert worden. Dass die Studie dies bekräftigt, dürfte für die nächste Debatte, die im Namen des "Das muss doch auch mal gesagt werden" auf Abgrenzung seitens der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft setzt, allerdings faktisch kaum keine Rolle spielen.

Denn, was die Studienverfasser mit einigem Wohlwollen unterstellen, nämlich, dass die Sarrazin-Debatten einen "sicher von niemandem gewollten Effekt gehabt haben könnten", muss nicht zutreffen. Nach Lage der Dinge, wie sie sich auch gestern darbot, gibt es einen deutlich wahrnehmbaren politischen Willen, die Diskussion über Muslime in Deutschland auf einem Kurs zu steuern, der Muslime im Generalverdacht und auf Abstand hält. Gerade die CSU etwa beutet die Islamfeindlichkeit schon deutlich systematisch aus, das ist schon politisch gewollt - trotz oder wegen der Nazi-Morde.