Schutzlos

Wie deutsche Ämter zur Freude der Filialisten kleine Selbstständige jagen

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Während Selbstständige in ganzen Branchen unter gesetzlichem Schutz seit Jahrzehnten Preisgarantien für ihre gutbezahlten Dienste bekommen, etwa Erzeuger von Biomasse- und Solarstrom, Ärzte, Rechtsanwälte, Landwirte, Steuerberater, Psychologen, Apotheker, Ingenieure und Architekten (HOAI), sind kleine Händler und Handwerker, Gastronomen und Künstler den Launen der Märkte schutzlos ausgeliefert. Statt staatlichen Schutz zu erhalten, werden sie von Finanz- und Gewerbeämtern noch drangsalisiert - bis sie hochverschuldet aufgeben müssen.

Edward W. verkauft seit 15 Jahren seine Produkte auf Kunsthandwerkermärkten. Er hat Frau und zwei Kinder, ist aber geschieden. Vor kurzem erwarb er im ländlichen Bereich ein renovierungsbedürftiges Haus zum Preis von 52.000 Euro. W. ist 53. Das Haus sollte seine Altersversorgung sein. Doch mit dem Kauf begann der Ärger: Woher er das Geld habe, fragte das örtliche Finanzamt.

Eine gute Frage, denn kleine Selbstständige können und dürfen offiziell kein Geld besitzen. Ab 17.500 Euro Umsatz müssen sie Umsatzsteuer abführen, meist 19 Prozent. Dadurch verteuern sich ihre ohnehin bereits schwer absetzbaren Produkte und es entsteht ein Buchhaltungs- und Verwaltungsaufwand, der in keinem Verhältnis zum Ertrag steht. Wenn dem Umsatz etwa 200 Buchungen entsprechen, ist mit einem Aufwand von mindestens 7 Euro für Rechnungsstellung, Buchhaltung und Umsatzsteuerabrechnung je Beleg zu rechnen. 1.400 Euro Aufwand, um 3.610 Euro Umsatzsteuer abzuführen. Ab 8.004 Euro Gewinn wird Einkommenssteuer fällig. Hinzu kommt die Pflichtversicherung für Krankheit und Rente, die in ihrer günstigsten Version, etwa bei der Künstlersozialkasse (KSK), mit 1.800 Euro jährlich zu Buche schlägt.

Die Jagd auf Kleinselbstständige hat in Deutschland eine lange Tradition. Bereits im Kaiserreich wurden sie als Hausierer des Platzes verwiesen. In fast allen Städten und Gemeinden ist es auch heute noch verboten, seine Dienste auf der Straße anzubieten. Bereits 1992 musste ein Jahreseinkommen oberhalb von 5616 Mark mit einem Eingangssteuersatz von 19 Prozent versteuert werden. Heute, nach 20 Jahren liegt der Freibetrag bei 8.004 Euro jährlich. Wie kann ein Staat von Menschen, die 900 Euro im Monat verdienen, die sie dann umsatzsteuerpflichtig konsumieren, die sich selbst mit 233 Euro monatlich versichern, anstatt dem Staat zur Last zu fallen, die anderen Menschen mit günstigen Diensten und Produkten eine Freude machen, wie kann ein Staat von denen noch weitere Steuern fordern?

Spitzfindige Zyniker können zu dieser Tabelle sicher bemerken, dass Umsatzsteuer keine Ausgabe ist, dass der Eigenaufwand Teil der Arbeit ist, dass Kinderfreibeträge die Bilanz verbessern könnten, dass der Vorsorgeaufwand ja steuermindernd berücksichtigt wird. Oder sie können darauf hinweisen, dass die Umsatzsteuer ja aus der Bruttoeinnahme noch herausgerechnet wird. Allerdings ändert sich durch diese inhumanen Gemeinheiten nichts am Ergebnis: Fast 50% Abzüge hat der Kleinselbstständige. Von 19.000 Euro Einnahmen, die er mit dem Verkauf von 200 Kunsthandwerksprodukten erzielt hat, bleiben ihm 900 Euro im Monat.

Die Gemeinden, in denen diese Märkte stattfinden, werben mit den Märkten als Touristenattraktion. Die Veranstalter erzielen Standgebühren. Ordnungs- und Gartenbauamt, Gewerbeaufsicht und Feuerwehr werden tätig. Der kleinste Gemeindemitarbeiter in einer Halbtagsstelle kann nicht unter 1.300 Euro netto nach Hause gehen - und erwartet dann eine Pension von 1.000 Euro. Der Rentenanspruch von Edward W.: 343 Euro monatlich.

Darf man Edward W. vorwerfen, dass er mit dieser Bilanz nicht leben kann und will? Dass er seine Umsätze ohne Rechnung macht? Darf man ihn kriminalisieren?

Vor einigen Jahren führten die Finanzverwaltungen NRW die Aktion "Luft und Liebe" durch, bei der sie den kleinen Gewerbetreibenden auf den Pelz rückten. Die Ämter möchten nicht akzeptieren, dass es die von ihnen vertretenen Gesetze sind, die den Großteil der Kleingewerbler dazu zwingen, die Gesetze zu umgehen. Um ihnen hier nicht weiter zu schaden, müssen wir darauf verzichten, Details zu nennen.

Eine Welt, in der es nur noch Supermärkte gibt, die von ethisch korrekten Großspendern und Umwelt- und Sozialaktivisten wie Götz Werner, Dirk Rossmann und Karl Erivan Haub betrieben werden, hat keinen Platz mehr für Kerzen und Ostereier, für Schals und Tassen vom örtlichen Kunsthandwerker. Die Filialisten zerstören jeden Anflug von regionalen Produkten und damit regionaler Wertschöpfung.

Dies schadet auch den Gemeindekassen, wirkt sich aber nicht auf die Gehälter der regionalen Steuereintreiber aus. Ihnen ist es völlig gleichgültig, ob sie Lohnsteuer per Inkasso von der dm-Kassiererin oder eben Umsatz- und Einkommenssteuer vom Kleingewerbler eintreiben. Es gibt keinen volkswirtschaftlichen Verstand in den Finanzministerien und Finanzverwaltungen. Im Zweifelsfall erhöhen sie einfach immer weiter die indirekten Steuern, also Energie- und Umsatzsteuer, wenn ihnen die Kleinen entwischen. So steigen die Steuereinnahmen bundesweit kontinuierlich, obwohl die Aussage erlaubt sein darf: Wer als Kleingewerbler überhaupt Steuern zahlt, beweist damit ein Ausmaß an Altruismus, an dessen physischen, psychischen und finanziellen Folgen er zugrunde gehen kann. Er opfert sich für eine Gemeinschaft, die sein Opfer nicht anerkennt und ihm stattdessen das Leben schwer macht.

Edward W. hat einen Weg gefunden, seine persönliche Bilanz zu verbessern. Auf den Märkten ist er bei Mitausstellern und Kunden sehr beliebt und geschätzt. Oft hilft er anderen mit Geld und Sachleistungen aus. Strahlend steht er an seinem Stand. Schade, dass wir hier nicht erfahren dürfen, was er verkauft. Sein Produkt würde sicher einige unserer Leserinnen und Leser erfreuen.