Mensch-Boliden, Boliden-Menschen

Was vom Menschen in der uns bekannten Gestalt bleiben wird

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Trotz seiner allseits bekannten Sterblichkeit hat sich der Menschenkörper bislang als überaus robust und erstaunlich resistent erwiesen. Darum ist es auch viel einfacher, ihn mit Schminke, Silikon und Plasmochirurgie upzudaten, ihn mit künstlichen Apparaturen oder chemischen Substanzen funktions- und leistungsfähiger zu machen als einem Roboter das Anziehen von Socken, den genialen Pass oder das Komponieren einer Sinfonie beizubringen.

Wunschbilder, die man sich über die Zukunft des Menschen macht, scheinen weniger am Himmel als vielmehr in den Loipen und Stadien, in Fitness-Studios und Schönheitsklinken zu gedeihen, und zwar dort, wo das Aufpumpen und Aufhübschen des Körpers und seiner Leistungskraft längst Normalität ist.

Aufpeppen und Screenen

Wer kennt sie nicht, die "Helden der Landstraße", wie sie auf ihren Rennmaschinen über den Tourmalet auf den Mont Ventoux oder den Galibier nach Alpe-Huez "fliegen"; wer kennt sie nicht, die wuseligen Japanerinnen, die technisch und taktisch versiert den deutschen und US-amerikanischen Kickerinnen bei der Frauen-WM das Leben schwer gemacht haben; und wer kennt sie nicht, die wuchtigen Langläufer, die mit raumgreifenden Schritten und ihren langen Stöcken Abhänge hinaufstürmen.

Dass diese Jagd nach Titeln und Rekorden, Werbeverträgen und Images nicht ganz ohne Wachstumshormone, Aufputschern und anderen Pillen zu schaffen ist, dürfte bekannt sein. Müsli und Veganertum, Fleisch und Pasta reichen bei weitem nicht dafür aus. Und von Wissenschaftlern und Physiotherapeuten entworfene Trainingsprogramme oder die von Computern gesteuerte Abgleichung von Ausdauer-, Blut- und Laktatwerten gewiss ebenso nicht.

Schon 1924 begleitete der rasende Kriegsreporter Albert Londres die Tour de France und schreckte seine Leser mit allerlei Seltsamkeiten. Für ihn war das härteste Straßenrennen der Welt ein futuristisches Spektakel, bei dem die Teilnehmer, frei nach Nietzsche und d’Annunzio, zu technisierten Barbaren und "superuomo" (Übermenschen) mutierten, wenn sie das Rennen erfolgreich beenden wollten. An den Verpflegungsstationen fielen sie wie Hunde über die dargebotenen Speisen und Getränke her, und am Bahnhof von Cherbourg ertappte er die Brüder Pélissiers beim Einwerfen von allem, was die Beine "mit Dynamit" versorgt.1

Um über Nacht zum Titanen zu werden und in der Hall of Fame des Weltsports Aufnahme zu finden, brauchte es mithin schon damals der Einnahme von Enhancern, "Kokain für die Augen" oder "Chloroform für das Zahnfleisch". Mittlerweile werden sie von wirkungsvolleren Kampfstoffen wie anabolen Steroiden und Kortekoiden, Dutch-Cocktails und anderen, Blutdoping verschleiernden Mitteln, wie etwa den Stoff Probenicid, ersetzt.

Den Body mit Medikamenten, Drogen oder anderen chemischen Stimulantien aufzupeppen, ihn mit Prothesen oder im Labor gezüchteten Materialien leistungsfähiger zu machen, liegt auch anderweitig im Trend. Weswegen wir dieses Hochtrimmen eines als mangelhaft erfahrenen Menschenkörpers zu neuen Höchstleistungen überall dort finden, wo Fitness und Nonstop-Engagement für die Firma, die Organisation oder die Nation verlangt werden, wo, wie in der Showbranche, der eigene Body zum Kapital und Markenzeichen im Kampf um Schlagzeilen und Prominenz wird, und wo, wie im Sport, sensationelle Höchstleistungen verlangt werden, über die berichtet und dem Akteur Zigmillionen an Werbedollars einbringen.

Giftstoffe injizieren

Auch Reproduktionsmedizin und Diätetik, Sportmedizin und Schönheitschirurgie bieten inzwischen eine Vielzahl raffinierter Praktiken und Techniken an, um Lippen, Geschlechtsteile oder Brüste aufzuschäumen, runzelige Häute und Stirnfalten zu glätten, unschöne "Höcker" abzuhobeln oder überflüssige Pfunde durch Liposuktion abzusaugen. Der Wille zur Körperoptimierung geht soweit, dass mancher Zeitgenosse sich einer regelmäßigen Darmspülung in einer Klinik unterzieht, um nach zu kalorienreichen Genüssen bei Empfängen, Partys oder Diners wieder mit Waschbrettbauch in der Öffentlichkeit glänzen zu können.

Andere wiederum lassen sich neue Airbags implantieren, um ihre Körbchengrößen zu steigern und das Dekolleté besser zur Geltung zu bringen. Gern lassen sie sich auch giftige Substanzen unter die Haut spritzen, um nach diesem Eingriff für vier bis sechs Monate mit wunderbar frisch wirkenden Gesichtspartien herumzulaufen. Botox, ein Nervengift, das jugendliches Aussehen ohne schmerzhafte Operationen verspricht, heißt diese neue Wunderwaffe der Schönheitsindustrie. Es wird vom Bakterium Clostridium Botulini gebildet. Zwischen Augen und Mundpartie gespritzt, lähmt das Gift die umliegende Muskulatur und glättet dadurch Falten und Runzeln der Haut.

In den USA ist Botox längst ein kosmetischer Hit. Und auch hierzulande wächst die Fangemeinde stetig. Den Nachteil, den diese subkutane Verabreichung von Bakterien hat, scheinen die auf juvenil getrimmten Personen bereitwillig in Kauf zu nehmen. Da durch das Gift die Signalübertragung zwischen Muskel und Nervenzelle gelähmt wird, sind die behandelten Personen nur noch zu eingeschränkten Regungen der Wut, der Angst oder der Freude fähig. Der Mimik des Gegenübers ist jedenfalls nicht mehr zu entnehmen, welche emotionale Regungen und Empfindungen eine face-to-face-Interaktion bei ihm hervorrufen. Auf ihre Umwelt wirken diese Leute daher wie eine Figur aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett.

Mensch-Boliden

Vor diesen Möglichkeiten, die Selektions- und Optimierungstechniken der Schönheitschirurgie versprechen, verblassen die Erfolge der Forschungen zur Robotik, zur künstlichen Intelligenz und zum künstlichen Leben. Weder den AI- noch AL-Forschern ist es bislang gelungen, eine Intelligenz zu modellieren, die der menschlichen auch nur annähernd gleichkommt. Der Mensch ist, wenn man so will, das hybrideste System, das die Evolution jemals hervorgebracht hat. Er verbindet Mechanik und Intuition, Analoges und Digitales, Erleben und Formalismus auf eindrucksvolle und bislang unerreichte Art und Weise.

Bereits im Gebrauch von Sprache und Werkzeugen unterscheiden Menschen sich erheblich von Tieren. Aufwändige Versuche, Maschinen Sprache und Kommunikation beizubringen, sind zwar am Laufen, scheitern bislang aber kläglich.

Wahrscheinlicher ist deshalb eine Kooperation und schrittweise Annäherung von Mensch und Maschine. Auf diese "Vermanschung" des Menschen machte Rodney Brooks aufmerksam. In seinem Buch "Menschmaschinen"2 wagte der Direktor des Artificial Intelligence Lab am MIT einen Ausblick, wie man sich die technische Manipulation des Menschenkörpers in naher Zukunft vorzustellen habe: Cochlea-Implantate (Gehörschnecken), die eine direkte Verbindung zum Nervensystem herstellen, und Gehörlosen ihr Gehör wiedergeben; Retina-Chips für Blinde, die einfache Wahrnehmungsbilder erzeugen; Arm- und Beinprothesen aus Metall, durch die antimagnetische Flüssigkeiten fließen und die womöglich vom Gehirn aus gesteuert werden, um erwünschte Bewegungen wieder zu stimulieren.

Auch wenn das eine oder andere noch Zukunftsmusik sein mag, sind Schlussfolgerung und Stoßrichtung doch klar. Herzschrittmacher, künstliche Gelenke und Ellbogen, die dem Menschen eingesetzt werden, gibt es längst; "Schutzengel", die den Blutzucker, die Atmung oder die Körpertemperatur überwachen, wird es bald geben; und wem die Mängel, die sein Körper aufweist, zu groß und folglich zu teuer sind, der findet im Netz inzwischen ein breites Angebot, um wenigstens sein "virtuelles Äußeres" zu verschönern oder zu perfektionieren.3

In aller Regel will man Funktionen oder Kräfte, die der Mensch im Laufe der Evolution verloren hat oder für die er zu langsam, zu schwach oder ungeeignet ist, durch elektronische Bausätze oder andere Komponenten erweitern, steigern oder ersetzen. Der beinamputierte südafrikanische Läufer Oscar Pastorius etwa, der trotz seiner Behinderung und mit speziell für ihn aus Karbon gefertigten Prothesen es bei der WM in Daegu in Südkorea bis ins Halbfinale des 400-Meter-Laufes schaffte, mag da als Vorbild gelten, was nicht nur, aber auch im Sport künftig zu erwarten ist.

Boliden-Menschen

Das heißt aber nicht, dass Menschen sich mit dem Upgraden ihres Körpers oder der Erhöhung seines Wirkungsgrades begnügen werden. Dem japanischen Wissenschafter Hiroshi Ishiguro etwa gefiel offenbar sein eigenen Spiegelbildes nicht. Er schuf sich daher mit dem Roboter Geminoid HI1, den er auf der Ars Electronica 2009 vorstellte, einen maschinellen Doppelgänger, der sich genauso verhält wie er.

Zwar kann der Android nicht fortlaufen, er kann bislang nur sitzen. Doch mithilfe unzähliger Kleinmotoren, die sich hinter dem Gesicht und im Körper verbergen, sowie über ein Motion-Capture System, das die Bewegungen Ishiguros von seiner Wohnung aus in den Hörsaal oder in den Seminarraum übertragen, gelingt es dem Androiden, Motorik, Atmung sowie Mimik, Gestik und Lippenbewegung des Professors so perfekt zu imitieren, dass es gelingt, Studenten in Vorlesungen mit ihm zum Narren zu halten.

Ersetzen soll der Android ihn jedoch auf Dauer nicht. Zumal es dann vielleicht auch Probleme mit der Bezahlung und den Versicherungen gäbe. Den Wissenschaftler interessiert vielmehr, ob die Interaktion aus der Ferne auch seine persönliche Präsenz übertragen kann. Experimente hätten nämlich gezeigt, dass man rasch den Unterschied zwischen den beiden Ishiguros vergisst, wenn man mit ihm kommuniziert.

Gefühlsmatsch

Damit wären wir wieder bei den "Menschen-Boliden" des Sports. Gern bewundern wir die Spannweiten ihrer Oberschenkel, Brustkörbe und Oberarme, die technische Präzision, mit der sie ihr Sportgerät ins Ziel lenken, ihren Mut, mit dem sie sich in die Tiefe stürzen, aber auch das modische Outfit ihrer Rennanzüge, die ihnen einen merkwürdig androgynen Status verleihen.

Was sie uns sympathisch macht, ist vielleicht weniger die Perfektion oder das Timing, mit der sie Siege erringen oder Rekorde erzielen, als vielmehr jenes Leid und jener Schmerz, die sie dabei erleben. So galt Lance Armstrong, in den Nullerjahren unangefochtene Herrscher über die "Tour de France", unter Kollegen als "Kannibale". Die generalstabsmäßige Planung und Präzision, mit der er alle Rivalen niederrang, rief keine Emotionen beim Publikum hervor. Während seiner aktiven Zeit wurde er zwar geachtet, von Rivalen und Radsportfans, aber nie geliebt.

Was wir an ihnen bewundern, ist womöglich weniger das Uhrwerkhafte, das nach erwartbaren, beschreibbaren und erkennbaren Regeln funktioniert, als vielmehr das Blut, der Schweiß und die Tränen der Athleten und Athletinnen. Wir möchten teilhaben an ihren Emotionen, an ihren Glücksgefühlen, ihren Enttäuschungen und ihrem Schmerz, aber auch am Ungewissen darüber, ob sie dem Leistungsdruck standhalten oder ein anderer Heroe oder Heroine sie vom Sockel stürzt.

Schon allein wegen dieses ganzen Gefühlsmatsches, der uns Menschen durchzieht und der nicht nur im Sport, aber dort besonders gut ausgeprägt ist, werden die imperfekten "Mensch-Boliden" den perfekten "Boliden-Menschen" immer eine Nasenlänge voraus sein.