Wohngeld vom Vermieter

Der Sozialismus der Reichen in der Schweiz

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Viele Menschen haben von der Schweiz das Bild eines urkapitalistischen Paradieses für Steuersünder. In allen Statistiken über die Verteilung des Reichtums in der Welt liegt sie auf den ersten Plätzen der Ungleichheit. Sie beherbergt je Einwohner mehr Milliardäre als jedes andere Land der Welt. Ebenfalls weltbekannt ist, dass man in der Schweiz nur etwa 20 Prozent Steuern auf sein Einkommen bezahlt. Österreicher und Deutsche, die mit bis zu 45 Prozent dabei sind, blicken neidvoll über den Bodensee. Nicht wenige überqueren ihn noch immer einmal im Monat mit einem Betrag zwischen 5.000 und 10.000 Euro in bar - Schwarzgeld, das sie oft nicht nur dem Fiskus, sondern auch Geschäftspartnern, Kindern und der Exfrau vorenthalten möchten.

Wenn man die Rhetorik vieler Schweizer Lokalpolitiker hört, dann gehört die Warnung vor sozialistischen oder gar kommunistischen Umtrieben seit Jahrzehnten zum politischen Inventar der bürgerlichen Parteien. Dabei ist bereits das Prinzip der Eidgenossenschaft selbst das wohl sozialistischste Regierungs- und Politikmodell aller Staaten: In einer direkten Demokratie sind Volksabstimmungen erlaubt. Jeder Bürger darf kandidieren. Die meisten Kandidaten für politische Ämter stammen deshalb aus dem Volk, nicht aus Parteikadern. Im Bundesrat regieren die Parteien zusammen, nicht gegeneinander.

Anders als in Deutschland und Österreich gibt es in der Schweiz eine Vermögenssteuer. Aktiengesellschaften zahlen Steuern auf ihr eigenes Grundkapital. Wohlhabende Großverdiener müssen ohne Beitragsbemessungsgrenze in die gesetzliche Rentenversicherung AHV einzahlen - und erwerben damit nur einen Anspruch auf die Mindestrente, die zwischen 1.200 und 2.000 Schweizer Franken monatlich beträgt. Das heißt: Ein gut verdienender Vorstand mit einer Million Jahreseinkommen zahlt 95.000 Franken in die gesetzlichen Kassen. Kein Wunder, dass der Schweizer Staat, der im Jahre 2000 das Beamtentum abschaffte, nur Überschüsse erwirtschaftet.

In Deutschland kann man auch ganz einfach ohne Steuern und Sozialabgaben leben, wenn man nämlich so reich ist, dass man keine Einkünfte benötigt. Bis heute haben deutsche Finanzpolitiker das nicht verstanden und konzentrieren alle Steuern auf Einkommen und Verbrauch. Die eidgenössischen Steuereintreiber sind da cleverer: Neben einer Vermögenssteuer muss der Reiche sogar das Wohnen in der eigenen Villa versteuern und darauf Sozialabgaben entrichten. Der Verkehrswert der Immobilie wird einfach geteilt und dann als fiktive Mieteinnahme berechnet.

Der Text ist ein Kapitel aus dem gerade im Oekom-Verlag erschienenen Buch "Gemeinsam sind wir reich. Wie Gemeinschaften ohne Geld Werte schaffen" von Alexander Dill. Der Autor plädiert im Buch, wie auch bereits in Telepolis-Beiträgen, für eine neue Gemeingüterwirtschaft. Jenseits wirtschaftlicher Zwänge entstehen Formen von Wohlstand, die sich nicht direkt in Geld messen lassen. Werte wie Vertrauen, Hilfsbereitschaft und Ehrenamt geben Gemeinschaften so die Chance, ihre Probleme mit nichtmateriellen Ressourcen zu lösen.

Größere Beschwerden gegen die hier geschilderten Sondersteuern für Reiche sind kaum bekannt. Das hat einen Grund, der auch den Titel dieses Abschnittes bildet: der Sozialismus der Reichen.

Er hat eine lange Tradition, die sogar vor die Reformation zurückreicht. Im Jahre 1260 war Basilea, das heutige Basel, bereits eine erfolgreiche Handelsstadt. Zu diesem Zeitpunkt übernahmen erstmals wohlhabende Stadtbürger die zuvor von den Klöstern betriebene Krankenversorgung in Eigenregie. Das Bürgerspital gibt es noch heute. Mit einem Jahresumsatz von rund 100 Millionen Franken beschäftigt es 1.400 Menschen.

Der Schweizer Kaufmann Christoph Merian vermachte seiner Heimatstadt ein Milliardenvermögen, das heute in der Christoph-Merian-Stiftung vom Kanton verwaltet wird. Da es sich überwiegend um Immobilien handelt, gehört ein Teil der Wohn- und Geschäftsimmobilien Basels damit der Allgemeinheit. Aus dem Park der Privatvilla von Merian wurde ein öffentlicher Garten. Die Merian-Stiftung verfügt über 1.500 Wohnimmobilien und für Schweizer Verhältnisse nahezu unvorstellbare 900 Hektar Land.

Wer als Tourist nur die Altstadt Basels kennt, sollte an einem Wochentag einmal den großen, neu angelegten Park "Grün 80" besuchen. Dort sind die Basler unter sich. Großmütter schieben Kinderwagen. Erwachsene genießen die in der Schweiz übliche 70- oder 80-Prozent-Teilzeitarbeit. Der Park erinnert in seiner Anlage sehr an Parks in der DDR. Das Restaurant Seegarten gehört natürlich der Migros-Genossenschaft, einer Art sozialistischer Kooperative, die zusammen mit ihrer Schwester Coop fast den gesamten Einzelhandel und die Großgastronomie der Schweiz betreibt. Kündigungen, Streiks, Dumpinglöhne sind dort ein Fremdwort.

In der Industriestadt Basel gehört auch heute ein Großteil der Wohnungen staatlichen und halbstaatlichen Wohnbaugenossenschaften und Stiftungen. Die Zünfte haben meist historische Häuser in bester Altstadtlage, die sie aber nicht zu Marktpreisen verkaufen oder vermieten. Viele kleine, alteingesessene Geschäfte, Galerien und Boutiquen können an einer der teuersten Ecken der Welt bleiben. Einmal jährlich machen die Zünfte ihre "Vergaben", das heißt sie stellen einen Betrag zwischen 50.000 und 100.000 Franken für soziale und kulturelle Projekte zur Verfügung.

Das Handelsregister von Basel zählt in der 180.000-Einwohner-Stadt rund 1.000 Stiftungen. Viele sind sehr klein und vergeben "nur" 10.000 Franken im Jahr. Aber es gibt kaum einen wohlhabenden Menschen in Basel, der nicht entweder selbst eine Stiftung hat oder aber als Stiftungsrat in einer Zunft oder Stiftung mit über die Vergabe der Mittel entscheidet. Weltberühmt ist auch die Fondation Beyeler mit ihren Sammlungen von Gemälden und Skulpturen der klassischen Moderne. Ist das nun alles nur historische Überlieferung, die gut gepflegt wird? Und wo ist nun der gelebte Sozialismus der Reichen?

Vergesellschaftung der Wohnimmobilien

Szenenwechsel: Der Spaziergang führt am frühen Abend durch schmale Altstadtgassen zum Jazzclub Bird's Eye am Kohlenberg 20. Er wurde 1994 gegründet, also zu einer Zeit, als fast alle Jazzclubs in anderen Städten bereits ihre Pforten geschlossen hatten. An der Theke bedient mich eine unscheinbare Dame mittleren Alters. Sie kellnert dort zweimal in der Woche.

Sie ist die Präsidentin des Vereines, der den Jazzclub betreibt. Zur Zeit beherbergt sie bei sich zu Hause einige brasilianische Musiker, die für einen Gig ins Bird's Eye aus Brasilien eingeflogen wurden. Das klingt nicht profitabel und muss es auch nicht sein. Beatrice Oeri, so heißt die Dame, ist ein passionierter Jazzfan und kann sich dieses Hobby leisten. Es gibt nämlich in Basel ein Unternehmen namens Roche, dessen Miteigentümerin sie ist.

Die Roche Holding AG hat 2010 einen Jahresgewinn vor Steuern von 5,919 Milliarden Schweizer Franken erzielt. Davon geht ein Viertel an den Kanton. Wer weiß, dass viele amerikanische Unternehmen überhaupt keine Steuern zahlen, da sie ihren Sitz im US-Steuerparadies Delaware haben (Höchststeuersatz dort: 180.000 Dollar pro Jahr) - unter ihnen Google Inc. -, der wird dem Unternehmen eine gewisse Sozialverpflichtung nicht absprechen können. Beatrice Oeri hat aus ihren Dividendeneinnahmen eine Stiftung namens Habitat gegründet. Diese kauft und renoviert Wohnimmobilien, um sie dann billig an Alternativprojekte zu verpachten. Ein Ertrag, gar eine Rendite, soll nicht erwirtschaftet werden.

Das Besondere: Die Stiftung bietet für die Mieter ein Mietzins- Subventionsmodell, eine Art Wohngeld. Wohngeld vom Vermieter? Das wäre in Deutschland oder Österreich undenkbar. Die sozialistischen Reichen der Schweiz, in der zudem auch ein Sozialhilfegesetz mit der vollständigen Übernahme der Mietkosten gilt, sehen darin keinen Widerspruch. "Die Stiftung setzt sich für eine lebensfreundliche und wohnliche Stadt ein" - mit diesem bescheidenen Credo greift die Stiftung Habitat in den Grundstücksmarkt ein. Inzwischen hat sie große Grundstücke erworben und zusammen mit einer zweiten Stiftung, der Stiftung Edith Mayron, und der Gemeinschaft der genossenschaftlichen Wohnbauunternehmen eine Bodeninitiative gegründet. Unter dem Motto "Boden behalten - Basel gestalten" hat die Initiative folgende Forderungen aufgestellt:

  1. Landverkauf durch den Kanton nur noch bei gleichwertiger Kompensation.
  2. Boden erwerben für gemeinnützigen, familien- und umweltfreundlichen Wohnungsbau …
  3. … finanziert aus dem gut gefüllten Mehrwertabgabefonds des Kantons.
  4. Abgabe von Land des Kantons nur noch im Baurecht, denn …
  5. … Land im Baurecht macht das Wohnen darauf bezahlbar.
  6. Tafelsilber des Kantons nicht verscherbeln - langfristige Erträge aus Baurechtszinsen für uns alle.

Da im dicht besiedelten Basel ohnehin nur wenige Immobilien und Grundstücke als Spekulationsobjekte auf den Markt kommen, könnte die Initiative das historische Ende der Spekulation mit Grundstücken, Wohn- und Geschäftshäusern im Ballungsraum Basel bedeuten.

Wenn die Vermieter selbst beginnen, Wohngeld zu bezahlen, dann wird das Wohnen ganz aus der angeblichen Selbstregulierung der Märkte herausgenommen. Während in Städten wie im rot-grün regierten München der Immobilienmarkt völlig privaten Interessen überlassen wird und hunderttausende Bürger aus der Stadt gedrängt werden, weil nur noch Erben und Vermögende die Miet- und Kapitalkosten finanzieren können, strebt die jahrhundertealte Kaufmannsstadt Basel eine völlige Vergesellschaftung der Wohnimmobilien an.

Dass diese Initiative von den Reichen selbst ausgeht, lässt den Titel "Sozialismus der Reichen" keineswegs übertrieben erscheinen. Beatrice Oeri begnügt sich allerdings nicht mit Jazz und günstigem Wohnraum. Nachdem immer mehr Basler mit der politischen Linie der größten Zeitung der Stadt, der ehemals linksliberalen Basler Zeitung, unzufrieden waren, warb Oeri den stellvertretenden Chefredakteur der Basler ab. Unter dem Titel TagesWoche finanzierte sie mit jetzt bereits 25 angestellten Mitarbeitern ein Gegenmedium. Es hat seinen Sitz im legendären Unternehmen Mitte, einer ehemaligen Bank im Stadtzentrum von Basel. In Deutschland hat der Spiegel-Erbe Jakob Augstein mit der Wochenzeitung Freitag ein vergleichbares Projekt gestartet. Es ist aber zu erwarten, dass die TagesWoche in Basel derart große Marktanteile erobern wird, dass ein anzeigenfinanziertes Medium im Besitz von profitorientierten Privatverlegern kaum überleben kann.

Die sozialistischen Unternehmen in Basel, wie Migros, Coop, die Basler Kantonalbank, die Merian-Stiftung, die Habitat-Stiftung, die Stiftung Edith Mayron, verdrängen die Wirtschaft aus Handel, Wohnen und Kommunikation an den Stadtrand. Die staatlichen Großunternehmen Post, Bahn und Telekom lassen keine Konkurrenz aufkommen. In harmonischer Übereinstimmung zwischen Staat, Kantonen, Aktiengesellschaften und Privatstiftungen geht der Sozialismus in der Schweiz seinen Lauf. Und anders als in der DDR halten ihn Ochs und Esel nicht auf.

It's up to you - warum die New Yorker so gut mit der Finanzkrise fertigwerden

Zu den vielen Rätseln der Weltfinanzkrise zählt es, dass ausgerechnet das Zentrum der internationalen Finanzwirtschaft, die Millionenmetropole New York, kaum unter der Krise gelitten hat. Bereits 2004, lange vor der Finanzkrise, lag der Durchschnittspreis für ein kleines Apartment im 1,6 Millionen Einwohner zählenden Bezirk Manhattan bei einer Million Dollar.

2008, kurz vor Ausbruch der Finanzkrise, lag der Durchschnittspreis bereits bei 1,7 Millionen Dollar und rutschte dann 2009 ab, um sich 2010 bei 1,43 Millionen zu stabilisieren. Der monatliche Mietpreis für ein 1-Zimmer-Apartment betrug 2.500 Dollar, für zwei Zimmer 5.000 Dollar. Er ist gleich geblieben. Das bedeutet: Man muss Dollarmillionär oder Bezieher eines Einkommens von mindestens 5.000 Dollar netto im Monat sein, um überhaupt in Manhattan leben zu können. Wie aber ist das möglich?

Angeblich gingen in der Finanzkrise Zehntausende hoch bezahlte Jobs an der Wallstreet verloren. Top-Werber und Medienleute saßen von heute auf morgen auf der Straße. Im September 2011 betrug die Arbeitslosenquote in New York City 8,7 Prozent - etwas mehr als in Deutschland, aber die Folgen einer Weltfinanzkrise, deren Verursacher fast alle in NYC ihren Hauptsitz haben, stellt man sich doch etwas anders vor. Was hat dieser überraschende Erfolg mit der Gemeinschaft von Big Apple zu tun?

Neben Manhattan besteht New York noch aus anderen Millionenstädten, etwa Brooklyn und Queens. Nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung New Yorks sind noch Weiße. Je ein Viertel sind Schwarze und Hispanics. Erstaunlicherweise setzt sich auch die Bevölkerung Manhattans nur zur Hälfte aus den alteingesessenen Nachfahren der deutschen, englischen, irischen, italienischen und französischen Einwanderer zusammen; 12,7 Prozent sind Schwarze, 24 Prozent Hispanics.

Die verschiedenen Einwanderergruppen haben eine jahrhundertelange Tradition in der gegenseitigen Hilfe bei der Wohnungs- und der Jobsuche, bei der Heiratsvermittlung und beim Schutz gegen Diebstahl und Betrug. Obwohl sie in einer Stadt leben, in der offiziell Englisch die Amtssprache ist, haben sie ihre Muttersprachen und die Slangs bewahrt. Man könnte sagen: Ähnlich wie Deutschland in 16 Bundesländern föderal organisiert ist, organisieren sich die New Yorker in etwa 80 Sprach- und Kulturgruppen, deren einziges Mitgliedermerkmal oft die Sprache ist.

Selbst kleinere Minderheiten wie Koreaner, Japaner, Chinesen, Malaien, Vietnamesen, Thailänder, Inder und Pakistanis unterhalten in New York ein großes Netzwerk nicht nur von Restaurants, sondern auch von Anwälten und Ärzten, Fabriken und Taxidiensten. Sie betreiben eigene Schulen, Kindergärten, Zeitungen und Radiosender. Sie haben Abgeordnete im Stadtparlament.

Wenn also jemand in New York in Gefahr steht, seinen Job oder gar seine Wohnung zu verlieren, dann setzt sich das Netzwerk des lokalen Sozialkapitals in Bewegung. In der ersten Stufe werden Vorgesetzte angesprochen, die der eigenen Ethnie angehören. Dann geht es zu den Hilfsorganisationen und Gewerkschaften, zu Banken und Pfandleihern und wenn schließlich alle Bemühungen erfolglos bleiben, jemanden in Lohn und Brot zu halten, bekommt er die Chance, mit einem ganz anderen Job beim Freund des Onkels neu anzufangen - in Brooklyn oder Queens. Wer aber in Brooklyn und Queens erfolgreich ist, nimmt den Platz des abgestürzten Gutverdieners in Manhattan ein.

Viele New Yorker rotieren so bereits seit Generationen ständig zwischen diesen drei Stadtteilen, in denen sie mehrfach die Wohnung und die Arbeit wechseln. Es gibt keine ethnische Mehrheit von Alteingesessenen, nicht einmal Deutsche und Briten, die den Neuankömmlingen den Zutritt verwehren könnten. Den Auf- und den Abstieg erreichen alle Ethnien und Klassen. Dies verheißt die Aussicht des American Dream: "If you can make it there, you'll make it anywhere. It's up to you, New York, New York", brachte es Frank Sinatra auf den Punkt.

Das Geheimnis der Multikulti-Metropole New York besteht darin, dass alle ihre Bewohner, inklusive des jüdischstämmigen Bürgermeisters Michael Bloomberg, selbst Minderheiten angehören. Dessen Mutter war einst aus Russland eingewandert.

Mir verriet einmal die Milliardärin Vera List, die Frau des Finanzmagnaten Albert List, die als Buchhändlertochter aus Riga in den 20er Jahren nach New York kam, bei einem Tee in ihrem Penthouse in der Park Avenue ihr Erfolgsgeheimnis als Kunstsammlerin. "So, wie Sie hier sitzen", begann sie - übrigens brühte sie den Tee selbst und beschäftigte keine Dienerin - "saßen auch Picasso, Dubuffet und Duchamps hier bei mir. Sie waren verzweifelt und hatten kein Geld." "Und, was taten Sie?" "Ich kaufte ihnen ein Bild ab. Für 1.000 Dollar. Das war damals ein Vermögen." Ich blickte auf die Bilder an den Wänden: Emigranten hatten sie von Armutsflüchtlingen erworben. Heute waren sie Millionen wert. Und auch für mich erfüllte sich der American Dream: Bei meiner Heimkehr nach Berlin fand ich im Briefkasten ein kleines, handbeschriebenes Kuvert mit amerikanischer Briefmarke. Darin befand sich nur ein Scheck über 35.000 Dollar, sonst nichts.

Auch wenn die Finanzkrise in New York noch mehr Jobs und Vermögen kosten wird, ist nicht anzunehmen, dass sich die vielen intakten Völkergemeinschaften in der niemals schlafenden Stadt davon deprimieren lassen. Sie werden sich auch dann gegenseitig aushelfen, wenn wie in der Zeit der Great Depression bereits eine Bockwurst oder ein Bier zum Wohlstandserlebnis werden. Die Stadt New York kann darauf bauen, dass die ethnischen Communities nicht alle, aber die meisten ihrer Probleme in Eigenregie lösen. Für den Rest ist die New York City Police zuständig, die jedoch seit Jahren durch zurückgehende Gewalt und Kriminalität immer seltener ausrücken muss.

Das friedliche und grüne Berlin hatte 2005 eine Arbeitslosenquote von 19 Prozent. Inzwischen ist sie auf 13,6 Prozent gesunken - aber auch das sind 50 Prozent mehr als in New York. Könnte man also deshalb schlussfolgern, dass sich auch in Berlin die Quote senken würde, wenn dort Ethnien und andere Gemeinschaften einander helfen? Weit gefehlt. Unter den Berliner Türken waren 2011 sogar 42 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos gemeldet. Die geringste Arbeitslosigkeit haben in Berlin - wie übrigens auch in New York - die Asiaten. Sie machen sich nämlich lieber selbstständig, als zu Dumpinglöhnen für andere zu schuften oder die Sozialkasse zu bemühen.

Was wäre die Schlussfolgerung aus solchen Beispielen? Zunächst muss festgehalten werden, dass nicht abstrakt Arbeitsplätze fehlen, die sozusagen als statistischer Faktor auf Besetzung warten, sondern dass Arbeitslosigkeit sehr viel mit Gemeinschaft und Sozialkapital zu tun hat. Sowohl die Einstellung wie die Entlassung eines Mitarbeiters sind Akte des Ausschlusses und des Einschlusses in die Gemeinschaft. Warum also nicht die Gemeinschaften fördern und entwickeln, statt Jobcenter und Entwickler von wenig nachhaltigen Teilzeit- und Zeitarbeitsplätzen? Dann würde jede Gemeinschaft selbst zum Jobcenter und könnte selbst darüber entscheiden, wer unter welchen Bedingungen Arbeit bekommt.

Die Jobcenter hätten sich dann nur noch um die Klienten zu kümmern, die keiner ethnischen, kulturellen oder religiösen Gemeinschaft angehören. Sie könnten dann mit einer Bürgerarbeit dazu beitragen, dass auch Jobcenter und ihre Mitarbeiter wieder zu Teilen der Gemeinschaft werden.

Eine gelungene Gemeinschaft braucht keine Harmonie - die Norweger

Aus noch zu klärenden Gründen halten wir Harmonie für einen besonderen Erfolgsfaktor zum Gelingen von Familie, Gemeinschaft und Staat. Es gibt einige Rezepte zum Herstellen von Harmonie, die wir bereits als Kleinkinder lernen: Stelle Deine eigenen Interessen nicht in den Vordergrund, höre dem anderen zu, teile mit anderen, nimm stets Rücksicht auf andere, nimm an Gemeinschaftsaktivitäten teil. Sie kollidieren bereits im Kindergartenalter mit den entgegengesetzten Rezepten zur Selbstwerdung: Sei du selbst, mach das, was dir am besten liegt, sag, was du wirklich willst, versuche, in deinem Bereich der Beste zu sein, setz dir klare Erfolgsziele.

Der Psychoanalytiker Paul Watzlawick hat solche widerstrebenden und paradoxen Anweisungen und Rezepte als Nullsummenspiel bezeichnet. Das heißt: Am Ende heben sich die widersprüchlichen Kommandos auf und man ist überhaupt nicht mehr handlungs- und entscheidungsfähig. Ungeachtet solcher tieferen Fragen der Kollision von Selbst und Gruppe hat die Harmonie weiter ein hohes Ansehen. Es gilt als großes Kompliment, wenn eine Familie, ein Team oder gar eine Stadt oder ein Staat als harmonisch charakterisiert werden.

Ein Land, dem man diesen Wert in hohem Maße zuerkennt, ist Norwegen. Zwar ist Norwegens bedeutendster Dichter Hendrik Ibsen durch kritische Stücke über die verlogene Kleinstadtgesellschaft Norwegens (z.B. "Der Volksfeind") berühmt geworden, die er als Emigrant in Deutschland verfasste. Zwar ist Norwegens berühmtester Beitrag zur Weltkunst ein grässliches Gemälde von Edvard Munch mit dem furchtbaren Titel "Der Schrei". Zwar haben norwegische Fischereifunktionäre Jahrzehnte für die Beibehaltung des Walfangs gegen jede ökologische Einsicht gekämpft. Zwar hat gerade ein Norweger das größte Massaker der europäischen Geschichte ausgeführt, das je ein Einzelmensch vollbrachte.

Aber nur wenige Menschen werden widersprechen, wenn die norwegische Gesellschaft als harmonisch, der Umgang der Norweger mit sich selbst und Fremden als menschlich und das Leben im Fjordland als gemütlich bezeichnet werden. Diese Prädikate werden auch Dänen und Schweden zugeschrieben, wenn auch nicht in diesem Ausmaß. Völkerkundler könnten sagen: Wir projizieren auf die Norweger Werte, die wir glauben, auch besessen, aber verloren zu haben. Norwegen ist sozusagen eine Rückkehr in die heile Welt der Kindheit. Oder in den Zustand der Gesellschaft vor ihrer "Verderbnis". Der deutsche Skandinavienreisende kehrt seit Jahrzehnten mit der Kunde von Menschlichkeit und Liberalität zurück, die er angeblich in Deutschland vermisse. Skandinavischer Lebensstil ist in Deutschland und auch Holland zum Synonym für eine zeitgemäße, bürgerliche Harmonie geworden.

Weitere Erklärungen zum Harmonisch-Sein der Norweger bestehen darin, die geringe Bewohnerzahl und damit Überschaubarkeit der Verhältnisse als Quelle von Harmonie und Menschlichkeit auszumachen. Allerdings sind auch Afghanistan, der Sudan und Tschetschenien dünn besiedelt, ohne dass deshalb dort ein erwähnenswertes Übermaß an Harmonie und Menschlichkeit festgestellt würde.

Blicken wir ein wenig in die Geschichte. Die Norweger befreiten sich einst von der dänischen Herrschaft. Dänemark war sozusagen das Portugal Skandinaviens und versucht noch heute, die grönländischen Naturschätze zu vereinnahmen. Nach dem Ende der dänischen Herrschaft wählten die Norweger ihr eigenes Parlament, den Korting. Mit der kurzen Unterbrechung der deutschen Besatzung 1940 bis 1945 - in der übrigens der Korting nicht aufgelöst wurde, sondern zu einem erheblichen Teil mit den Nazis kollaborierte - praktizieren die Norweger nun seit über 200 Jahren Demokratie.

Diese dürfen wir uns keineswegs harmonisch vorstellen. In den Monaten vor dem Anschlag von Anders Breivik machte eine ausländerfeindliche Oppositionspartei von sich reden, die eine Überfremdung und sogar Islamisierung Norwegens befürchtete. Die Kritik an der inzwischen nicht mehr amtierenden linkssozialistischen Finanzministerin, die radikal für hohe Steuern und Verstaatlichung von Industrie und Banken eintrat, hatte oft deftige Formen. Liest man die Leserkommentare der führenden norwegischen Tageszeitung Aftenposten, stößt man auf drastische, radikale und auch verletzende Kritik an Norwegens NATO-Mitgliedschaft und Mitwirkung bei der Ausbeutung der Dritten Welt.

Die Norweger, die ihre Meinung öffentlich artikulieren, tun dies oft in einer für deutsche Verhältnisse ungewohnten Direktheit und Radikalität. Sie wissen, dass sie in der Tradition der freien Bauern und Fischer als freie Bürger die Besitzer und Regierenden ihres Staates sind, nicht nur Wähler und Konsumenten. Die norwegische Öffentlichkeit ist sozusagen ein ständig tagendes Parlament, in dem täglich diskutiert und abgestimmt wird.

Anders Breivik hat versucht, unter Pseudonym an diesen oft intellektuell anspruchsvollen Debatten teilzunehmen, ohne dort wirklich auf Resonanz zu stoßen. Breivik hat sich auch nicht in den oppositionellen Gruppen wiedererkannt und ist deshalb Einzelgänger geblieben. Die Vorstellung allerdings, dass ein Einzelner durchaus Einfluss auf den ganzen Staat haben kann, hat in Norwegen eine lange Tradition. Damit dies möglich ist, der Einzelne also tatsächlich das komplexe Gemeinwesen maßgeblich beeinflussen kann, muss er eigene Erkenntnisse haben, die sich vom Allgemeinwissen der Mehrheit unterscheiden.

In Ibsens Drama "Der Volksfeind" ist es der Arzt, der weiß, dass das Schwimmbad wegen gefährlicher Keime geschlossen werden muss. Der Polarforscher Fridtjof Nansen, der 1922 den Friedensnobelpreis erhielt, erkannte inmitten von dumpfer Nationalstaaterei, dass ein Völkerbund dazu beitragen könne, Kriege und Eroberungen zu verhindern. Breivik glaubte ganz im Sinne von Thilo Sarrazin ("Deutschland schafft sich ab"), dass sein Volk in seiner Existenz bedroht sei. Der hohe Wert, den die einzelne Meinung in Norwegen genießt - und damit auch die abweichende Meinung -, führt dazu, dass Norweger zu allem eine Meinung haben. So wird zum Beispiel in Norwegen viel mehr über den Nahostkonflikt diskutiert, obwohl Norwegen dazu historisch in keinerlei Beziehung steht.

Kein Staat der Erde gibt prozentual mehr Geld für Entwicklungshilfe aus als Norwegen. Und kein Staat nimmt gemessen an seiner Bevölkerungszahl mehr Flüchtlinge auf. Wo immer in der Welt Ungerechtigkeit offenbar wird - schnell meldet sich die norwegische Regierung zum Leidwesen von Israel, den USA, Russland und China zu Wort. Norwegen versteht sich als eine Art institutionalisiertes Weltgewissen und da Norwegen auch einer der reichsten Staaten der Erde ist, leistet es sich eine große Informations- und Meinungsindustrie. Man muss sich als Norweger schon sehr zurückhalten, um nicht einmal in einer Zeitung mit einem eigenen Satz zu Worte zu kommen.

Aber sind die Norweger harmonischer? Norwegische Männer wie Frauen sind in erster Linie häufig auffallende und ausgesprochene Einzelgänger und Individualisten. Sie lassen sich ungern auf Gemeinschaftspositionen oder einen Common Sense festlegen. Ihr Staat ist derart streng und effektiv organisiert, dass die Bürger wenige Dinge in Eigenregie organisieren müssen. Wenn Missstände entdeckt werden, behebt sie die Verwaltung durch die Schaffung neuer Einheiten und Etats. Die sprudelnden Steuereinnahmen und Gewinne aus der staatlichen Öl- und Energiewirtschaft lassen die Frage nach dem Abbau staatlicher Leistungen gar nicht erst aufkommen.

In Norwegen funktioniert vieles, fast alles geräusch- und reibungslos. Eisenbahnen und Fähren fahren pünktlich und fallen nur selten wegen Defekten aus. Die Straßen werden geräumt. In der Natur liegt kein Müll. Asylbewerber leben in schmucken Siedlungen, nicht in Lagern. Die Menschen blicken einem offen ins Gesicht und nicken einen Gruß. Dienstleistungen werden nicht hektisch, sondern geruhsam erbracht. Man hat das Gefühl, dass die Menschen viel Zeit haben. Diese Erfahrung des In-sich-selbst-Ruhens wird dann von uns als Harmonie interpretiert.

Die Norweger selbst sehen sich keineswegs als Menschen, die sich ständig um des lieben Friedens willen unterordnen, sondern eher als kämpferische Zivilbürger. Das Attentat von Anders Breivik hat die Norweger in einer ganz besonderen Form herausgefordert, denn gerade Breivik, der ja auch verlangte, vor Gericht Erklärungen verlesen zu dürfen, berief sich rechtlich und politisch auf das Widerstandsrecht des Einzelnen - und damit auf einen der norwegischen Grundwerte. Dass er im Namen dieser Werte einen Anschlag auf das Regierungsviertel verübte und 69 Jungsozialisten erschoss, mag die intellektuelle Herausforderung verdeutlichen: Nicht ein böser Fremder, vor dem auch in Norwegen xenophobe Kreise nicht aufhören zu warnen, sondern ein selbst ernannter Kämpfer für die norwegische Freiheit von Fremdherrschaft hat das schlimmste Ereignis in der norwegischen Geschichte seit der Besatzung durch Deutschland zu verantworten. Umso verblüffender die Reaktion: Anstatt die Schuld bei fehlender Überwachung von potenziellen Attentätern oder bei fremdenfeindlichen Kreisen zu suchen, entschieden sich die Norweger dafür, zu trauern statt zu diskutieren.

Zu dem Zeitpunkt, als der norwegische Ministerpräsident Stoltenberg stockend seine Trauerrede vortrug, zeigte sich in Norwegen das Moment einer nie gekannten Harmonie. Aller Streit um die rechte Politik und die richtige Meinung war auf einmal vergessen. Zum ersten Mal empfanden sich die sonst so individualistischen Norweger als Teil eines Kollektivs. Dieses bestand nur aus Schmerz und Trauer. Die Harmonie lag nicht in einem gemeinsamen Bekenntnis, sondern im Schweigen.

Eine gelungene Gemeinschaft braucht weder in sich harmonische und ausgeglichene Menschen, noch benötigt sie Rituale zur Beschwörung, Erhaltung und Wiederherstellung von Harmonie. In den Vereinigten Staaten, in denen Vertrauen und sozialer Zusammenhalt als Privatsache gelten, handelt fast jede politische Rede nur von der Harmonie, Gemeinsamkeit und Zusammenhalt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Beschworen wird das, was am meisten fehlt.

Vergleicht man die Reaktionen der Amerikaner auf "9/11" mit denen der Norweger auf das Attentat von Oslo, dann wird deutlich, warum die norwegische Gemeinschaft so erfolgreich und die amerikanische vergleichsweise erfolglos ist: Statt zu trauern, riefen die Amerikaner zu Rache und Krieg auf. In der Folge verschwendeten sie mehrere Billionen Dollar für Kriege, die sie als Staatsschulden aufnehmen mussten. Sie ruinieren sich mit der Beschwörung einer Gemeinschaft, die auf Rache und Feindbildern beruht, nicht auf Menschlichkeit und Fairness. Und so kommt es zu einem sicher unerwünschten, aber leider feststellbaren Effekt: Während die individualistische Gesellschaft Norwegens durch die gelassene und ruhige Reaktion auf das Attentat von Oslo gestärkt wurde, hat sich die amerikanische Gesellschaft in den Ritualen rund um "9/11" als angeblich ständig von äußeren Feinden bedrohte nur geschwächt.

Wenn man glaubt, durch Gemeinschaftsrituale eine gestörte und misslungene Gemeinschaft herstellen oder stärken zu können, muss man zugleich darauf bauen, dass die Mitglieder der Gemeinschaft derart wenig eigene Urteilskraft haben, dass sie durch einfachste Propaganda zur Unterstützung eines absurden War on Terror gebracht werden können. Die unmündigen Mitläufer der Gemeinschaft werden aber dann zum Nachteil, wenn die Gemeinschaft nicht mehr in der Lage ist, ihre symbolischen Gemeinschaftsaktionen wie Krieg oder Weltraumfahrt zu finanzieren. Da sie ja nur den Aufrufen ihrer Politiker folgen, können sie nicht aktiv an der Verhinderung des Bankrotts mitwirken. Sie fallen als aktive Bürger aus.

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