Auf dem rechten Auge blind

Sebastian Edathy (SPD) ist Vorsitzender des Untersuchungsausschusses. Bild: S. Duwe

Im Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) gibt es harte Kritik an der Arbeit der Polizei

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Mit seiner ersten öffentlichen Sitzung hat der Untersuchungsausschuss des Bundestages zu den Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) seine inhaltliche Arbeit aufgenommen. Seine Aufgabe wird es sein, die Fehler zu ermitteln, die Polizei und Geheimdienste bei der Aufklärung der Mordserie gemacht haben, die von einer dreiköpfigen Nazi-Zelle unbehelligt von den Sicherheitsbehörden begangen werden konnte. Doch noch fehlen dem Untersuchungsausschuss die notwendigen Akten - weshalb der Ausschuss noch keine kritischen Zeugenvernehmungen durchführt, sondern erst einmal Opfervertreter anhört. Kritik an der Arbeit der Polizei wird trotzdem schon jetzt laut.

Hauptperson in der ersten Anhörung des Untersuchungsausschusses war Barbara John, die 22 Jahre lang Ausländerbeauftragte des Berliner Senats war und heute dem Berliner Paritätischen Wohlfahrtsverband vorsitzt. Seit dem 20. Dezember ist sie die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der von den Neonazis ermordeten Menschen, soll ihnen als ihre erste Ansprechpartnerin mit praktischer Hilfe zur Seite stehen. Leicht ist diese Aufgabe nicht, etwa 70 Personen gilt es zu betreuen. Ein Büro hat ihr die Bundesregierung dafür nicht zur Verfügung gestellt, sie nutzt die Räumlichkeiten des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Selbst die Telefonkosten, die für ihre Arbeit anfallen, zahlt sie aus eigener Tasche.

Immerhin wurde ihr am Montag eine Hilfskraft auf 400-Euro-Basis zugesagt, so dass sie die anfallenden Arbeiten künftig nicht mehr komplett allein erledigen muss. Über diese Arbeitsbedingungen klagen will John trotzdem nicht, stattdessen tritt sie selbst auf Nachfrage der Opposition nach ihren Arbeitsbedingungen äußerst bescheiden auf. Sie verabscheue es, irgendetwas zu fordern, noch bevor sie überhaupt einen Handschlag gemacht habe, erklärte sie dem verwunderten Ausschussvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD).

Dabei hat die Einzelkämpferin durchaus schon etwas geleistet: John hält nicht nur Kontakt zu den Angehörigen, sondern auch zu deren Rechtsanwälten, verschiedenen Ministerien, dem Generalbundesanwalt und setzt sich mit Ämtern und Behörden auseinander, die mit ihrer bürokratischen Starrheit die Hinterbliebenen immer wieder zur Verzweiflung bringen. So muss die Ombudsfrau beispielsweise darum kämpfen, dass die 10.000 Euro, die einige aus einem Opferfonds des Justizministeriums erhalten haben, nicht auf andere staatliche Sozialleistungen angerechnet werden. John schildert Fälle, in denen sich die Behörden weigern, Arbeitslosengeld II zu zahlen, bevor nicht die Entschädigung aufgebraucht ist.

Auch ein Opfer des vom NSU verübten Nagelbomben-Anschlags in Köln, welches von John betreut wird, muss mit den Behörden kämpfen. Die Behörden verlangen von dem Anschlagsopfer, dessen halber Oberkörper laut John zerfetzt worden sei, sich in psychologische Behandlung zu begeben - dabei sei seine Psyche in Ordnung. Die Zahlungen nach dem Opferentschädigungsgesetz jedoch werden von der zuständigen Stelle sofort eingestellt, sobald er die psychologische Behandlung absetzt. Jedes Amt, so Johns Fazit, sei nicht besser als sein schlechtester Mitarbeiter.

Doch auch die Arbeit der Polizei kritisierte John deutlich. Es sei wichtig, dass sich der Untersuchungsausschuss die Polizeiarbeit anschaue, insbesondere, ob diese auf die Bedürfnisse in einem Einwanderungsland zugeschnitten sei. Jeder, der mit der Polizei zu tun gehabt habe, wisse, dass es dort einen Korpsgeist gebe. Dieser ist der Ombudsfrau zufolge ein Grund dafür, warum Missstände nicht an die Öffentlichkeit kommen. Deshalb regte sie an, eine unabhängige Clearingstelle zu schaffen, an die sich beispielsweise Opfer von fremdenfeindlichen Einstellungen seitens der Polizei wenden könnten.

Barbara John, Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der von den Neonazis ermordeten Menschen. Bild: S. Duwe

Hintergrund von Johns Forderungen sind die einhelligen Berichte der Hinterbliebenen zu ihren Erlebnissen mit der Polizei. Bis in alle Verwandtschaftsgrade seien die Familien gleich nach den Taten von den Polizisten bedrängt worden. Die einzige Ermittlungsrichtung der Beamten sei dabei die Ausländerkriminalität gewesen. Dabei hätten einige der Angehörigen den Ermittlern durchaus gesagt, dass auch Rechtsradikale als Täter in Frage kämen, doch dieser Ansatz wurde offenbar konsequent ignoriert. Stattdessen habe die Polizei mit ihrer Arbeit das soziale Umfeld der Angehörigen erschüttert, die entstandenen Schäden bestünden bis heute fort.

Viele Menschen hätten sich von den Hinterbliebenen abgewandt, im Glauben, an den Vorwürfen der Polizei wäre schon etwas dran. Einige Familien hätten irgendwann sogar selbst angefangen, daran zu glauben, dass irgendein Verwandter etwas mit der Tat zu tun hat. Teilweise hätten die Polizisten die Angehörigen mit erfundenen Behauptungen konfrontiert, nur um deren Reaktion zu testen. John ermunterte deshalb den Ausschuss, auch einmal einen Angehörigen zur Polizeiarbeit zu befragen. Auch einen Vorschlag zur Verbesserung der Ermittlungsarbeit hatte die Ombudsfrau dabei: Künftig solle bei allen Taten, bei denen ein Mensch mit Migrationshintergrund Opfer sei, die Ermittlung in Richtung eines fremdenfeindlichen Hintergrunds zum Standard werden.

Dass es auf der anderen Seite jedoch für Menschen mit Migrationshintergrund nicht leicht ist, selbst eine Anzeige aufzugeben, wenn sie Opfer einer Straftat geworden sind, konnte Christina Büttner von der Mobilen Opferberatungsstelle Ezra in Thüringen berichten. So sei es einem Afrikaner, der in einer Bankfiliale von mehreren Tätern bedroht und anschließend seines vor der Filiale geparkten Fahrrads beraubt wurde, nicht möglich gewesen, bei der örtlichen Polizei eine Anzeige zu erstatten. Der Mann habe dies erst mit Hilfe eines Anwalts erzwingen müssen.

Zudem machten Opfer oft die Erfahrung, dass ihnen die Schuld für den rechtsextremen Übergriff gegeben werde, insbesondere dann, wenn der Polizei bekannt sei, dass sie sich gegen Nazis engagieren und auch entsprechende Demonstrationen besuchen. Rassismus, so Büttner, finde sich nicht nur in rechtsextremen Denkstrukturen, sondern auch in den Behörden wieder, dem müsse sich eine freie Gesellschaft stellen.

Die Untersuchungsausschüsse zum NSU, die mittlerweile im Bund und in den Ländern entstanden sind, können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Ob sie ihrer Arbeit jedoch effektiv nachgehen können, hängt auch davon ab, ob den Parlamentariern die dafür notwendigen Akten schnellstmöglich zugänglich gemacht werden. Hieran wird sich festmachen lassen, wie groß das Aufklärungsinteresse der Politik tatsächlich ist. Die Opfer, so John, erwarteten von dem Untersuchungsausschuss jedenfalls, dass diejenigen, die dafür verantwortlich sind, dass lange Jahre in die falsche Richtung ermittelt wurde, identifiziert und zur Verantwortung gezogen werden. Doch dass das tatsächlich so passiert, daran mag auch Barbara John nicht glauben.