"Uns’re Lait werden dann Schossehstein klöppern"

Judenbilder in den Werken der norddeutschen Mundartklassiker Fritz Reuter, Klaus Groth und John Brinckman - zugleich ein Nachtrag zur christlich-jüdischen "Woche der Brüderlichkeit"

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Das Feld der sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts etablierenden neuniederdeutschen Literatur könnte für die literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung sehr ergiebig sein. Man denke nur an die vielen Querverbindungen zur Heimatbewegung, deren Ideologiekomplexe schon im Kaiserreich nichts Gutes erahnen lassen und die sich im Vorfeld der Weimarer Republik dann unter dem unseligen Leitbegriff "Volkstum" neu zu formieren beginnt (eine Berücksichtigung der Minores, der kleinen Mundartdichter des nahen Raumes, würde vielleicht sogar Einblicke in "Quellensegmente von unten" eröffnen). Abgesehen davon, dass viele niederdeutsche Philologen der Vergangenheit weitaus nicht so kritische Forschungen betrieben haben wie etwa in neuerer Zeit ein Claus Schuppenhauer, gibt es dabei natürlich vor allem ein Sprachproblem: Zumindest die "klassischen Texte" sind heute zum Großteil bequem im Netz greifbar. Doch wer kann sie noch lesen?

Negative Judenstereotype findet man in Werken bedeutsamer Dichter des 19. Jahrhunderts, so auch bei Gustav Freytag, Theodor Fontane oder den Brüdern Heinrich und Thomas Mann. Doch einzelne Befunde, so zeigt Thomas Gräfe in einer Sammelrezension auf, geben noch keine hinreichende Grundlage her für Einordnung oder Gesamtbewertung eines Autors: Gustav Freitag verteidigte z.B. die Emanzipation der Juden und war Mitglied im 1890 gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Heinrich Mann vertrat wirklich ein völkisch-antisemitisches Weltbild, von dem er sich dann allerdings nach seiner Wende zur linken Gesellschaftskritik verabschiedete …

Man darf sich also vom selektiven Blick auf abstoßende Texte nicht zu voreiligen Pauschalurteilen über einen Autor verleiten lassen. Zuverlässige Ergebnisse lassen sich jeweils nur über gründliche Einzelstudien erzielen, in denen Persönlichkeit bzw. Biographie, Werkgeschichte, Veröffentlichtes wie Unveröffentlichtes etc. berücksichtigt werden.

Im Nachfolgenden will ich lediglich einige Bausteine zum Forschungsthema beisteuern und eben den Blick auf die neuniederdeutsche Mundartliteratur lenken. Es geht um die kritische Ergänzung einer Veröffentlichung über Fritz Reuter sowie Hinweise auf zwei Gedichte von Klaus Groth, und zum Schluss folgt die Empfehlung einer vergnüglichen Novelle von John Brinckman.

Fritz Reuters "heitere Mundartschwänke" von 1853

Der Mecklenburger Fritz Reuter (1810-1874) hat 1853/1858 in zwei Folgen seine "Läuschen un Rimels" vorgelegt und damit viele ihm nachfolgende Autoren auf dem Feld der populären Mundartschwänke inspiriert. Die Versuchung liegt nahe, diese plattdeutschen Gedichte "heiteren Inhalts" zugunsten von Reuters Prosa zu vernachlässigen, denn besonders erfreulich sind die im Zusammenhang mit unserem Thema ermittelten Befunde hier nicht. Sichten wir zunächst chronologisch die erste Folge der "Läuschen un Rimels" von 1853. In De Pirdhandel verkauft ein Pastor sein Pferd bei Tage und kauft es im Dunkeln von einem jüdischen Händler wieder zurück. Ganz koscher haben wohl beide Seiten ihren Handel nicht betrieben. In De Frigeri versprechen sich zwei vermögende Juden eine Heirat ihrer Kinder, doch beim ersten Stelldichein stellt es sich heraus, dass beide Kinder Judenjungen - also männlich - sind. In As Du mi, so ick Di" bekommen zwei Fuhrleute die Gelegenheit, jeweils den jüdischen Auftraggeber bzw. Fahrgast des anderen zu verprügeln: "Sall slahn hir warden, denn slag’ jeder sinen, / Sleihst Du mi minen Juden, slag’ ick Dinen."

Fritz Reuter (Lithographie von Josef Kriehuber)

In Dat Johrmark wird ein unerfahrener Bauernsohn von einem schlauen Juden dazu überredet, seine Kuh für 50 Brillen und Schnupftabak zu verkaufen. In De Stadtreis’ verführt ein Jude den weintrinkenden, höchstwahrscheinlich also benebelten Bauern erfolgreich zu einer unfairen Wette: "Smittst Du den Kopp, heww ick gewunnen, / Smittst Du de Schrift, hest Du verluren." [Schmeißt du den Kopf, hab ich gewonnen; schmeißt du die Schrift, hast du verloren.]

Ein geiziger, durchaus reicher Jude in Dat heit ick anführen motiviert sich selbst mit dem Versprechen eines Kümmelschnapses dazu, ein schon schimmeliges Erbsengericht zu essen. Doch nach erfolgtem Verzehr des vergammelten Essens gießt er den Schnaps wieder in die Flasche zurück und ist stolz darauf, sich selbst so schlau angeschmiert zu haben. Wer Platt versteht, wird bei diesem Stück - trotz der hässlichen Passagen - zumindest kräftig schmunzeln müssen.

Im Schwank Mudder hett ümmer recht" wird dem lokalen Adeligen 1848 von einer klugen Mutter aus dem Volk zumindest in einem Punkt recht gegeben: "… Juden un Avkaten; / De hadden all so Vel verführt […]. Hei seggt, Ji sälen Jug von Juden un Avkaten / Nich in de Fingern krigen laten; / Un dat möt ick verstännig heiten" [Er sagt, Ihr solltet Euch von Juden und Advokaten / Nicht in die Finger kriegen lassen; / Und das muss ich verständig nennen].

Unerbittlich wird der Fuhrmann Matz im Stück De russ’schen Rubeln von einem Juden wegen Schulden von fünf Talern und sechzehn Groschen belangt und zwar trotz Zahlungswilligkeit. Die Währung zur Begleichung soll einerlei sein; am Ende erhält der jüdische Geldverleiher "russische Rubel", nämlich Prügel: "Hew ’k ok kein Luggedur nich, Jud, / Tahl ik Di russ’sche Rubel ut. / Du seggst jo, ’t is Di einerlei. / De sülw’gen Rubel gew ik Di, / De mi betahlt oll Rosomi, / Un wenn s’ nich klingen, klappen sei." [… und wenn sie nicht klingen, so klatschen sie doch.]

Die "Läuschen un Rimels" von 1858

In der zweiten Folge der "Läuschen un Rimels" von 1858 findet man zunächst den Schwank Dat kümmt mal anners. Mosis Itzig und Slaume Lessen fahren im komfortablen Wagen zur Leipziger Messe. Unterwegs reden sie von der herrschenden Unterdrückung der Judenschaft, wie es "müßt doch mal eins anners warden, / wenn s’ Rothschildten taum König hadden", und von ihren prächtigen Geschäften und Profiten. Auf dem Weg fahren sie an Straßenarbeitern vorbei, die im Schweiße ihres Angesichts Steine behauen. Einer von diesen erblickt die Nase (!) von Slaume (Salomo), und nun schreien die Arbeiter den antisemitischen Hetzruf "Hep, Hep!". Moses beschwichtigt seinen empörten Begleiter Slaume, der sich leichtfertig gegen die Hetzer zur Wehr setzen will:

Laß gut sein, Schlaume, es wird kümmen!
Paß Achtung! Es wird kümm’n die Zeit,
Daß unser Fett tut oben schwimmen,
Denn werd’n mer aach sein ungeßogen.
Paß Achtung! Es wird kümm’n die Zeit,
Wo wir se denn aach ’runtermöppern;
Sie werd’n dann sitzen in den Wogen,
Un Du und ich und uns’re Lait,
Die werden dann Schossehstein klöppern!

Arbeiter und Juden werden hier unter dem Gesichtspunkt des Klassengegensatzes dargestellt. Die Antwort des Moses soll vermutlich auch von Selbstironie bzw. "jüdischem Witz" zeugen: Es wird der Tag der Umkehrung der Verhältnisse kommen, an dem "uns’re Lait" dereinst von ihrem hohen Ross heruntersteigen müssen, um die Pflastersteine zu klopfen. Man darf dieses Stück nicht im Licht des nachfolgenden 20. Jahrhunderts lesen. Mit Blick auf die gewalttätigen Hep-Hep-Krawalle von 1819 wirkt es freilich schon gruselig genug.

Auch untereinander, so erfährt man im Schwank Ümkihrt, ist man bei "uns’re Lait" nicht zum Geben aufgelegt: zum leckeren Gänsebraten kommt ein unerwarteter Gast, der außerdem einen recht weitgedehnten Begriff von "Probieren" hat, denkbar ungelegen. - In Ein Schmuh wird die Familiengeschichte eines unglaublich geizigen und auch raffgierigen Juden zu Prenzlau erzählt, der sich freilich nach außen hin als gotterbärmlich armen Mann hinstellt. Da sich dieser schließlich "sihr rike" Jude nicht einmal einen langen Rock leisten will, kauft ihm sein - assimilierter - jüngster Sohn für neun Taler einen guten Rock. Dem Vater gibt er aber als Preis nur zwei Taler an, sodass dieser - nachdem er den Rock sogleich für vier Taler weiterverkauft hat - sich wegen eines richtig guten Handels rühmen kann: "Mag Gott uns oft so’n Rebbes gewen!" (Sehr ausführlich werden die Söhne vorgestellt, die der jüdischen Aufklärung huldigen, Philosophie und schöne Künste betreiben, auf anspruchsvollere Waren umsteigen, die Religion nicht mehr ernst nehmen oder auch Schweinefleisch essen.) Bewusst einfache Bekleidung kann übrigens durchaus als tradierte Schutzgewohnheit verstanden werden: "Auch wohlhabende Juden kleideten sich eher unauffällig und vermieden es, der Neid ihrer Umwelt zu wecken."1

Der Schwank De Hauptsak zeigt das kranke "Blümchen" im Kursanatorium. Eigentlich geht es ihrem Gemahl Moritz Gimpel, der eine für den Heilungsprozess ungünstige Trauernachricht übermitteln muss, gar nicht um das Wohlergehen der Gattin an sich. Wirklich wichtig ist für ihn die Kosten-Nutzen-Rechnung des Kuraufenthaltes: "Geld is de Hauptsach’ doch".

Einige der genannten Stücke kann man unter Wohlwollen als heitere Zeichnung des mecklenburgischen bzw. jüdischen Leutelebens auffassen. Es überwiegen jedoch die negativen Stereotypen: Juden sind geizig, zumeist gleichzeitig wohlhabend, unerbittlich beim Schuldeneintreiben, berechnend und bei Geschäften oder Wetten nicht vertrauenswürdig. Die Leserschaft aus dem "einfachen Volk" erhält durch einige Schwankgedichte die Aussicht, dass Juden Prügel beziehen oder - in Umkehrung bestehender Verhältnisse - in der Gosse Straßenarbeit verrichten müssen. Die Stimmung wird ganz "ungemütlich", und auch physische Gewaltbereitschaft kommt ins Spiel.