"Es gibt vier natürliche Feinde: Frühling, Sommer, Herbst und Winter"

Lothar Seiwert, Professor für Zeitmanagement, über die Salamitaktik, die richtige innere Einstellung zu den (falschen) Umständen und Wünsche, die allein nicht ausreichen

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Eigentlich wollte ich nur wissen, was die Salamitaktik ist, von der Ende des vergangenen Jahres alle geredet haben, meistens in dem Zusammenhang, dass unser Ex-Bundespräsident mit ihr aufhören soll. Irgendwie erfuhr ich, dass Salamitaktik etwas mit Zeitmanagement zu tun hat, und kurz darauf hatte ich einen Interviewtermin mit Lothar Seiwert, dem Zeit-Professor, Zeit-Guru oder Zeit-Papst, kurz: Deutschlands führendem Experten für Zeitmanagement.

Der Heidelberger ist Mitautor des Super-Schlagers "Simplify Your Life", den jeder kennt, aber keiner gelesen haben will, und Autor von "Simplify your Time" sowie diversen anderen Büchern. Er gibt Vorträge, berät Manager. Wenn einer den Wert von gutem Zeitmanagement kennen müsste, dann Seiwert. Überraschenderweise nimmt er in seinem neuesten, 2011 erschienenen Buch, "Ausgetickt: Lieber selbstbestimmt als fremdgesteuert, Abschied vom Zeitmanagement". Pünktlich ist er dennoch: Exakt um 11.11 ruft er an. Wie angekündigt.

In vergangenen Jahr war oft von Salamitaktik zu lesen, sei es nun bei Guttenberg oder bei Wulff. Können Sie mir erklären, was das eigentlich bedeutet?

Lothar Seiwert: Meiner Kenntnis nach geht das Konzept auf René Descartes zurück. Er hat 1637 eine kleine Anleitung zur Arbeitsorganisation geschrieben, quasi zur Salamitaktik. Er sagte: Wenn du ein großes Projekt erledigen willst, teile es solange in kleine Schritte auf, bis jeder einzelne Schritt für sich gangbar ist, und erledige dann eins nach dem anderen. Kontrolliere das Ganze und wenn du alle Teilschritte erledigt hast, hast du auch das gesamte Projekt gut zu Ende gebracht. So wie es Wulff und Guttenberg gemacht haben, hat das Descartes freilich nicht gemeint, also dass sie nur Stück für Stück das zugeben, was Journalisten herausgefunden haben.

Lothar Seiwert. Bild: L. Seiwert

Also war die Salamitaktik in diesem Fall fehl am Platz?

Lothar Seiwert: Die Salamitaktik ist für mich ein Instrument wie ein Skalpell, damit kann ich als Chirurg heilen oder ich kann als Triebtäter jemandem die Kehle durchschneiden. Das Werkzeug ist nicht schuld, sondern der Mensch, der es anwendet.

Sie beschäftigen sich ja seit vielen Jahren mit Zeitmanagement und damit verbunden auch immer mit Stress und Überforderung. Fehlt den meisten Menschen, die unter Stress stehen, das richtige Werkzeug, oder fehlt es ihnen an einem Verständnis, es richtig anzuwenden?

Lothar Seiwert: Ich würde es nicht Verständnis nennen. Ich behaupte mal, alle Leute haben die Methodik mehr oder weniger drauf.

Das heißt, die Leute müssten eigentlich nicht mehr ihr Buch "Simplify your Time" lesen?

Ja, das meiste haben sie sowieso ge-wusst, mein Job ist es, es ihnen wieder be-wusst zu machen. Den absoluten Engpass sehe ich in der inneren Einstellung. Es sind nicht die äußeren Umstände, unter denen wir alle zu leiden haben, sondern es liegt an mir, ob ich mich stresse, mich zum Sklaven anderer mache, oder ob ich selbst aus meiner inneren Haltung in meinem Aktionsradios das Heft in der Hand halte.

Brauchen wir also weniger Zeit-Coaches und mehr Psychiater?

Das Wort "Psychiater" ist in unserer Kultur eher negativ besetzt, es erinnert ans Kranksein und an geschlossene Anstalten. Ich finde den Begriff Coach oder Life-Coach besser … ich bin überzeugt, dass jeder diese inneren Ressourcen zum Leben in sich trägt und somit auch erwecken und stärken kann.

Ist der Stress also das Produkt der falschen inneren Einstellung anstatt der falschen Umstände?

Lothar Seiwert: Ja. Das beste Beispiel ist das Straßencafe. Im gleichen Cafe, bei einer völlig identischen Versuchsanordnung, ist der Kellner, der Sie unglücklicherweise bedient, ständig genervt. Er schaut gequält und schafft es, zehnmal an Ihnen vorbei zu gehen und den Blickkontakt zu vermeiden, und Sie schaffen es kaum, einen Cappuccino zu bestellen. Und dann gibt es den anderen Kellner, der genauso viele Tablette herumträgt, aber einfach gut drauf ist, freundlich die Bestellung aufnimmt und zu Recht dicke Trinkgelder erhält ...

Kann es nicht sein, dass der gestresste Kellner einfach den falschen Beruf hat?

Lothar Seiwert: Nein. Wenn ich diese Person in eine andere Lebenswirklichkeit transportiere, wird genau dasselbe passieren. Es macht keinen Unterschied, ob ich ihn in ein Taxi oder eine Redaktion setze. Ich will das mit einer kleinen Geschichte verdeutlichen: Es wurde eine neue Westernstadt gebaut und ein älterer Herr empfing die Neuankömmlinge. Sie fragten ihn: Sag mal, was wohnen hier für Leute? Und er fragte zurück: Wie waren denn die Leute, wo ihr herkommt? Manche antworteten: Die waren schlimm, deswegen sind wir ja weggezogen. Denen sagte er: In dieser Stadt wird es euch nicht besser ergehen. Anderen, die sagten, sie hätten sich in der alten Stadt mit allen Leuten gut verstanden, denen sagte er: Ihr werdet auch hier gute Freunde finden...

Warum ändern die Leute ihre innere Einstellung nicht einfach?

Lothar Seiwert: Meine persönliche Meinung: Viele Menschen sind bequem. Faul. Das hat auch gute Aspekte, wären wir nicht so, würden wir noch heute in einer Höhle leben. Der Fortschritt kommt aus dem Bedürfnis, es bequemer und besser haben zu wollen. Auf der anderen Seite ist es eben auch bequem, die Verantwortung auf andere zu schieben. Das ist überall so, in der Wirtschaft oder in der Schule. Im Außendienst sagt man, es gibt vier natürlich Feinde, von denen einer immer schuld ist: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Anstatt zu jammern und die Schuld auf andere oder auf die Umstände zu schieben, sollten sich die Leute an die alte Weisheit des Sozialpsychologen Kurt Lewin erinnern: Love it, Change it or Leave it. Alles andere macht einen kaputt.

Vertraue auf Allah, binde aber dein Kamel fest

Wann ist Ihnen denn in den Sinn gekommen, dass es nicht das Werkzeug des Zeitmanagements ist, das Stress verhindert, sondern die innere Einstellung?

Lothar Seiwert: Im Laufe der letzten zehn Jahre etwa. Das war (m)ein persönlicher Wachstums- und Reifeprozess. Kann ich noch eine kurze Geschichte einfügen?

Gerne.

Lothar Seiwert: Das Hochwasser steigt und steigt, und mehrmals kommt ein Rettungsboot, um die Leute aus den Häusern rauszuholen, doch da gibt es einen, der sagt: Ich bin gläubig, der Herrgott wird mich retten. Und er schickt das Rettungsboot immer wieder weg... kennen Sie die Geschichte?

Ja.

Lothar Seiwert: Dann wissen Sie ja, nach dem Boot kommt der Hubschrauber und dann noch ein Auto, aber der Mann ertrinkt, kommt in den Himmel und fragt den Herrgott schimpfend: Wo warst du denn, um mich zu retten, ich habe doch so ein gutes Leben geführt? Und der Herrgott sagt: Ich war doch da, ich habe dir ein Boot, einen Hubschrauber und ein Auto geschickt … Das ist die Geschichte mit der inneren Einstellung. Der Klassiker mit dem positiven Denken, Sie kennen Murphys Gesetz, die Macht des Unterbewusstseins. Man müsse nur sein Unterbewusstsein aktivieren und das immer wieder - und schon wird man reich und glücklich …

Der Wille kann Berge versetzen. Sie meinen: man muss auch handeln, anstatt nur zu wollen?

Lothar Seiwert: Richtig. Wünsche allein haben noch niemandem geholfen. Das ist für mich eine weitere Bestätigung des taoistischen Prinzips des Sowohl-als-auch. Wir im Okzident sind sehr auf das Entweder-Oder fixiert, entweder ist es richtig oder es ist falsch, entweder wir handeln oder wir träumen, und so weiter. Im Orient hat man eher das Sowohl-als-auch, nämlich dass es verschiedene Möglichkeiten gib. Eine meiner liebsten Weisheiten lautet: Vertraue auf Allah, binde aber dein Kamel fest.

Wir können die Zeit nicht managen, nur den Umgang mit der Zeit

Nochmal zu Ihrem Umdenken. Wann kam für Sie der Abschied vom Zeitmanagement? Gibt es ein konkretes Ereignis?

Lothar Seiwert: Ganz verabschieden tu' ich mich nicht. Im Hinblick auf Vermarktung & PR muss man die Dinge ja schon überspitzt formulieren, sonst wecken Sie keine Aufmerksamkeit. Wir müssen einfach beide Aspekte sehen. Vertraue auf Allah, binde aber dein Kamel fest. Natürlich muss ich mich entsprechender Hilfsmittel bedienen, das Wichtige vom Unnötigen unterscheiden, eine Tagesplanung machen, um alles in den Griff zu kriegen. Sonst habe ich eben ein Dauerchaos. Diese Hilfsmittel sind heute für jeden selbstverständlich.

Aber unsere Welt hat sich nachhaltig gewandelt, alles ist schneller und komplexer geworden und quantitativ unglaublich gewachsen. Auch die Erwartungshaltung des Umfelds ist gestiegen, wenn jemand eine Email schreibt, ruft er gleich darauf an, "Always on!", immer erreichbar sein zu müssen, das wird zu einer neuen Erscheinung. Die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit fällt ...

Und die Freizeit wird auch noch anspruchsvoller?

Lothar Seiwert: Es gibt ja schon das Wort Freizeitstress. Was mich ja bewegt hat, war, dass VW vor ein paar Wochen, um die Mitarbeiter vor Burnout zu schützen, angewiesen hat, dass der Server Mails von Freitagnachmittag bis Montagmorgen nicht mehr weiterleitet, außer bei Führungskräften. Das ist grundsätzlich eine gute Maßnahme, aber ich habe gehört, dass der Chef trotzdem am Abend anruft oder eine SMS schreibt und eine Antwort erwartet. Die Zeiten sind einfach anders als früher, als man noch etwas beschaulicher seinen Tag gestalten konnte. Heute haben wir Multitasking - das ist zwar nicht möglich, aber gewünscht -, man muss ständig erreichbar sei, die Informationsdichte und -flut schwillt an, ständig kommt was Neues rein...

Ist diese Masse an Information und Beschleunigung mit den Methoden des Zeitmanagements noch zu packen?

Lothar Seiwert: Es wird schwieriger. Die Zeit verrinnt so, wie sie will, insofern ist auch, nebenbei bemerkt, der Begriff "Zeitmanagement" falsch: Wir können die Zeit nicht managen, nur den Umgang mit der Zeit. Für mich gibt es keine Zeitprobleme, sondern nur Prioritätenprobleme, und das macht eben was mit uns. Bei Stress, Burnout oder Depression in der dritten Stufe kann das Zeitmanagement nur die Symptome lindern, nicht die Ursachen verhindern.

Und wie kann man die Ursachen abstellen, ohne die globale Wettbewerbsfähigkeit unserer Industriegesellschaft zu verlieren?

Lothar Seiwert: Ja, das ist eben die Schwierigkeit. Der Druck nimmt immer mehr zu. Die Rahmenbedingungen sind härter geworden. Was früher fünf Mitarbeiter machen mussten, müssen jetzt drei machen, aber doppelt so schnell und mit halbem Gehalt. Es wird naturgemäß schwerer, sowohl innerhalb der Unternehmen als auch von außen.

Aber Sie sagten ja, die Umstände seien nicht entscheidend.

Lothar Seiwert: Die Umstände sind der Rahmen, in dem wir uns bewegen, der es uns leichter oder schwerer macht. Als Vorstandsvorsitzender mit großem Office oder als Minister mit Leuten, die mir zuarbeiten, ist der Rahmen anders, aber es gibt dennoch Stress, weil man hundert Termine wahrnehmen soll, aber nur Zeit für 30 hat. Darum der Rückbezug: Das ist einfach Fakt bzw. Realität. Nochmal das Bild vom Kellner: das ist meine Situation, aber durch die innere Einstellung kann ich mir ein positives Bild bauen in meiner inneren Welt, ein beruhigendes, oder ich kann es als lebensfeindlich oder bedrohlich empfinden. Diesen Filter mache ich mir selbst.

Aber ist das nicht ein Einknicken vor den Umständen? Quasi ein Schönreden einer schlechten Welt?

Lothar Seiwert: Nein, die Umstände sind, wie sie sind. Entscheidend ist: Was mache ich draus? Es ist wirklich erstaunlich, was wir durch eine Veränderung unseres inneren Fokus’ bewegen können. Vor einigen Jahren befand ich mich auf einer Veranstaltung in den USA und hatte mich mit einer Teilnehmerin für den Abend verabredet. Sie kam spät, es wurde immer später. Mein klassisches Verhaltensmuster wäre es gewesen, stinkig zu werden, aber ich habe versucht, mich zu fragen, wie ich es noch interpretieren könnte. Dann habe ich mir klar gemacht: Sie könnte sich auch stylen und schön machen, und je länger sie das tut, umso attraktiver und wichtiger bin ich für sie, und plötzlich fing ich an, jede Minute Wartezeit als zunehmend angenehm anzusehen...