Gesundheitsmanagement für mehr Arbeit und weniger Personal?

Prävention im Betrieb entspricht einer wachsenden Management-Sparte. Während Personal weiter reduziert wird und Arbeitsdruck steigt, fühlt man sich an "Human Engeneering" erinnert

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Über den Gesundheitsbericht der Berliner Innenverwaltung im Februar zum Krankenstand im öffentlichen Dienst wurde ausführlich und mit alarmierendem Unterton berichtet: Sieben Wochen im Jahr seien die Bediensteten im Schnitt krankgeschrieben gewesen, das heißt: doppelt so lang wie Berliner Beschäftigte anderer Bereiche. Und für 2010 seien zweieinhalb Fehltage mehr verzeichnet worden als im Jahr davor. Empfehlungen von Gesundheitsmanagement kamen jetzt wieder zum Zug. Der Blick auf Beraterbroschüren zeigt jedoch, dass die betriebliche Prävention von Kosten- und Personalsenkungsplänen begleitet wird. Der allgemeine Trend erinnert an "Human Engeneering" gemäß dem Philosophen Günther Anders.

Dass Sparzwänge und mehr Arbeitsdruck zu den Gründen zählten, wurde in der betreffenden rbb-Sendung zum Thema (rbb aktuell, 22.2.) von der Opposition angeführt, und auch seitens des Staatssekretärs für Inneres Andreas Statzkowski und des Deutschen Beamtenbundes brachte man "Arbeitsdruck aufgrund von Stelleneinsparungen" zur Sprache. Des weiteren wurde darauf hingewiesen, dass das Personal teils schon der vorgerückten Altersklasse zugehöre. Und mithin bedürfe die gesundheitliche Betreuung im Betrieb längst der Erweiterung.

So wird derzeit konkret das betriebliche Gesundheitsmanagement in Aussicht gestellt und z. B. angekündigt, dass man mit Sportverbänden und Führungskräften gemeinsam Gesundheitssportzentren aufbauen wolle.

Der Kritikpunkt "mangelnde Führungskultur" ( Berliner Morgenpost ) zeigt gegenwärtig einen Angelpunkt für Änderungsmaßnahmen an, indem man künftig mit mehr innerbetrieblicher Betreuung gegen den hohen Krankenstand angehen und vorbeugen will. Doch für mehr Personaleinstellungen, auch dringend empfohlen von der Seite des Beamtenbundes, sehen die Chancen schlechter aus. Es kann schon als charakteristisch für die Gegenwart bezeichnet werden: im öffentlichen und privaten Bereich, in Rathäusern und Ämtern und des weiteren auch bei der Berliner S-Bahn wird Personalmangel häufiger als eines von aktuellen Problemen benannt - doch steht Mehrbeschäftigung nicht ernsthaft zur Debatte bzw. wird von politisch Verantwortlichen noch "offen" gelassen.

Für Gesundheitsmanagement sind seit längerer Zeit beim Europäischen Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung die Weichen gestellt. Firmen- und betriebsinterne Anleitung für Prävention ist in den letzten Jahren zu einer bedeutenden Sparte bei Fortbildungsunternehmen und Management-Hochschulen geworden. Zeigt sich dabei die privatwirtschaftliche Ausrichtung als bestimmend, wird doch wie im Berliner Beispiel auch in den öffentlichen Bereichen zunehmend die Nutzung von Gesundheitsberatung angestrebt.

Zum Angebotsspektrum gehören Beratung und Training der Mitarbeiter mit Kursen für Prävention ebenso wie die Anleitung von Führungskräften, Personal- und Betriebsräten und Arbeitsmedizinern. "Arbeit fairbessern" lautet etwa der Anspruch des Gesundheitsmanagements Niedersachsen, das u.a. Sport- und Bewegungsprogramme, Raucherentwöhnungs- und Ernährungskurse anbietet. Längst nimmt auch die Vorbeugung von psychischen Erkrankungen beim betrieblichen Gesundheitsmanagement ein großes Feld ein, so zum Beispiel bei der Gesellschaft "Tüv-Süd" http://www.tuev-sued.de/uploads/images/1298988164446332810381/flyer_stressfrei_durch_den_tag_web.pdf, die von Diplom-PsychologInnen Seminare zur Stressbewältigung anleiten lässt.

"Gesunde Mitarbeiter kosten Geld, kranke ein Vermögen"

Mehr Krankenstand wurde im vergangenen Jahr für Beschäftigte auch in der Privatwirtschaft festgestellt, und die allgemeine Zunahme psychischer Erkrankungen, über die u. a. von der DAK 2011 berichtet wurde, kam seit Jahren. Laut einer Studie der AOK vom letzten Jahr stieg die Zahl der Fehltage am Arbeitsplatz infolge sogenannter Burnout-Erkrankungen zwischen 2004 und 2010 um das Neunfache auf 1,8 Millionen. So trägt man der Tatsache, dass Arbeit zunehmend psychisch krank macht (Arbeit macht zunehmend psychisch krank), heute im Gesundheitsmanagement maßgeblich Rechnung.

Die systematische Senkung der Arbeitsunfähigkeitsquote ist dabei ein vordringliches Ziel, denn "gesunde Mitarbeiter kosten Geld, kranke ein Vermögen" weiß nicht nur der "Tüv-Süd". Die Beratungsfirma Booz& Company, die im letzten Jahr im Auftrag der Felix-Burda-Stiftung ihre Studie über die wirtschaftlichen Kosten von Krankheit veröffentlichte, sah für gegeben an, dass kranke Beschäftigte das Bruttoinlandsprodukt pro Jahr um fast ein Zehntel schmälern – doch hier werden nicht so sehr Fehltage, als das Weiterarbeiten bei Krankheit problematisch erachtet. Eine bemerkenswerte Folgerung der Beraterstudie (im betreffenden Zeit-Artikel) liest sich so:

Würden alle Beschäftigten bis zur Genesung daheim bleiben, wären die Kosten weitaus geringer, heißt es in der Analyse. Ein Weg aus dieser Misere sei mehr betriebliche Gesundheitsvorsorge in den Unternehmen.

Die Genesung zuhause, wenngleich sogar kostensenkend, ist aus dieser Sicht kein gangbarer Weg. Damit liegt die Unternehmensberatung im Trend von Wirtschaft wie auch von Arbeitsmarktpolitik, und möglicherweise auch eines gesellschaftlichen Konsenses. Wenn dem Kurieren von Krankheit nur mehr ein minimaler Stellenwert beigemessen und die wirtschaftliche Zielvorgabe übergeordnet wird, passt dass ebenso zu Arbeitgeberwünschen wie zum Grundsatzdenken der großen Regierungskoalitionen seit der Einführung der Hartz-Reform mit der Ausweitung des Niedriglohnsektors. Am Rande vermerkt erhielt "Arbeit" damit einen besonderen moralischen Stellenwert. Kurieren jedoch gilt als eine zeitliche Phase, an deren Größe gedreht werden soll. Hier wird bekanntermaßen immerzu mit der Formel Prävention hantiert. Dass solche Steuerungswünsche mit unternehmerischen Entwicklungen zu leisten seien, ist ein Grundgedanke beim Gesundheitsmanagement.

Auffällig ist nach den Gesundheits- (oder Krankheits-) berichten des letzten Jahres, dass man wachsenden Arbeitsdruck sogar allgemein eingesteht, aber strukturelle Änderungen verwirft. Weniger Arbeit kann und soll nicht gedacht werden. Und offenbar soll auch von Mehrbeschäftigung kaum mehr die Rede sein.

Beispiel Berlin: Von 2001 bis 2011 wurden an der Spree 30 000 Stellen in der Verwaltung abgebaut. Zunächst wirkte sich seit der CDU-geführten Landesregierung das große Haushaltsloch infolge des Bankenskandals aus, bei gleichzeitiger Privatisierung in Kommunen und in Teilbereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge. Somit wurde der Einsatz von Ein-Euro-JobberInnen in Grünflächenämtern, städtischen Museen, Kitas und weiteren Diensten zu einer Art Tragpfeiler auch unter Rot-Rot. Eine Neuerung war dann noch das Projekt "Öffentlicher Beschäftigungssektor" von Senat und Arbeitsagentur gemeinsam, mit dem für 5000 Langzeitarbeitslose Stellen für eine "nicht nur kurzfristige Beschäftigung" bei einem Mindestgehalt gesichert werden - und das regelmäßig der Verlängerung bedarf ( und zuletzt in 2011 unter der Bezeichnung "Bürgerarbeit" erneuert wurde).

Heute unter der SPD-CDU-Regierung trifft die Privatisierung auch umfassend Wohnungen und Liegenschaften, und der Großtourismus müsste eigentlich gut für die Kassen sein, doch bei der Personalpolitik will niemand das Rad zurück drehen. Im Gegenteil, der Kurs soll, wie Berater für öffentliche Verwaltung klarmachen, weitergehen. "Der vom Senat beschlossene Personalabbau im öffentlichen Dienst ist fortzuführen", empfiehlt ein Ratgeber-Dokument der Industrie-und Handelskammer Berlin von 2011 zum Thema Personalmanagement 2020. Leitlinien für ein zukunftsfähiges Personalmanagement der Berliner Verwaltung. Um bei der Reduzierung und bei weiteren Einsparungen für den Fiskus ein "zukunftsfähiges Personalmanagement" zu leisten und dem "demografischen Wandel" gerecht zu werden, rät die IHK hier u. a. zu Leistungsanreizen für Beschäftigte, zur Nutzung von E-Government und einem installierten Gesundheitsmanagement, um hohe Krankenstände abzufedern.

Mehrbeschäftigung zu fordern, bleibt beim Lager der Gewerkschaften und Berufsverbände, wie z. B. bei den Lehren einer Berlin-Reinickendorfer Grundschule, die in einem "Brandbrief" im Januar Krankenstand und Arbeitsdruck in einen Zusammenhang brachten. Sie hätten, so der Brief, seit einem gewissen Zeitraum eine Mehrbelastung zu tragen und könnten die Schüler nicht mehr zufriedenstellend unterrichten.

Gesundheitsmanagement als Gegenmaßnahme für Beschäftigungsdefizite

Sollte künftig das Gesundheitsmanagement kommen, während Personalreduzierungen öffentlich und privatwirtschaftlich wie gehabt weitergehen, könnte es sich als der andere, nicht vereinbare Weg neben den gewerkschaftlichen Forderungen erweisen; wenn es nämlich nicht als zusätzliches Betreuungsangebot geplant ist, sondern als die wesentliche Gegenmaßnahme für Beschäftigungsdefizite.

Doch das zeichnet sich ab. Es geht für Unternehmensberater wie für die bekannte Firma McKinsey darum, gezielt personalreduzierte Betriebe zu schulen, um "Potenziale zu fördern". In einer Broschüre Wettbewerbsfaktor Fachkräfte. Strategien für Deutschlands Unternehmen vom vergangenen Jahr ging McKinsey Deutschland vom deutschen Fachkräftemangel in "Schlüsselbranchen wie dem Maschinen- und Fahrzeugbau" aus, für die in den kommenden Jahren Engpässe prognostiziert worden seien. Den Bedarf an Fachkräften zu senken, wird hier geradezu angeraten.

Den Fokus richtet die Broschüre auf die Personalbetreuung von Festangestellten in "wissensintensiven Industrien" und großen Konzernen wie Bitkom, Telekom oder O2. Empfohlen wird u.a., zukünftig "die Attraktivität als Arbeitgeber (zu) erhöhen" und die "Bindung der Mitarbeiter (zu) stärken". Gemäß der Unternehmensberatung ist auf einem Status quo der Beschäftigung und mit Begrüßung einer Rente mit 67 auch anzustreben, "die Wertschöpfung älterer Mitarbeiter (zu) steigern". Das Gesundheitsmanagement mit "kostenlosen Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen über Stressbewältigungsseminare bis hin zu Betriebssport und gesundem Kantinenessen" zählt hier zu empfohlenen Maßnahmen der sozialen Betreuung. "Gesundheitsmanagement wird in den nächsten Jahren das Megathema für Unternehmen", wird zudem der Personalvorstand der Deutschen Telekom AG zitiert.

Dass steigendes Arbeitspensum und ein erzielter, wettbewerbsbedingter Fachkräftemangel zu krankmachenden Faktoren zählen könnten, sieht man in dieser Unternehmensanleitung nicht gegeben. Doch trägt Personalmangel, z. B. besonders in der Pflege , längst zu den enormen Leistungsanforderungen für Beschäftigte bei, die freilich Gesundheitsbeschwerden mit sich bringen. Nicht für soziale Berufe, und auch nicht für den Leiharbeitssektor und für Geringqualifizierte gelten die Strategien des McKinsey-Dokuments. Doch könnte solche Unternehmensphilosophie vorbildlich für allgemeine Beschäftigungspolitik werden.

Unsichere Beschäftigung wie Leiharbeit macht krank

Indessen drängen jedoch die Fakten Schlussfolgerungen aus einem arbeitsmarktpolitischen Desaster auf. Da ist besonders das große Feld unsicher Beschäftigter, die durch ihre Arbeitsbedingungen öfter krank werden. Von einem höheren Krankenstand der Beschäftigten im Leiharbeitssektor im Vergleich zu Versicherten aus festangestellten Arbeitsverhältnissen, berichtete die Techniker Krankenkasse 2011.

20,7 Prozent der abhängig Beschäftigten seien nun im Niedriglohnsektor tätig, sagte kürzlich der Soziologe Klaus Dörre von der Universität Jena bei Deutschlandradio. Heute seien in Betrieben 30 bis 40 Prozent der Beschäftigten LeiharbeiterInnen. Infolge der Hartz-IV-Reform habe der prekäre Sektor mit Leiharbeits- und befristeten Beschäftigungsverhältnissen die größten Zuwächse erfahren

Leiharbeitende werden von der Philosophie der betrieblichen Gesundheitsvorsorge noch gar nicht einbegriffen. Dass sie auf solche Betreuung Anspruch hätten, zählte nur zum Bereich des "Empfohlenen" seitens der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) im Dokument "Anforderungen an den Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Arbeitnehmerüberlassung" von 2008. Ein Modellprogramm Gesunde Zeitarbeit (GEZA) von der BAUA mit dem Personaldienstleister Manpower Group und der AOK sollte von 2008 bis 2011 Standards für besseren Arbeitsschutz und gleichzeitig mehr Gesundheitsschutz liefern, die dann, so das Vorhaben, auf die gesamte Branche auszudehnen seien.

Bislang schaffte es das Pilotprojekt aber noch nicht zu einer allgemeinen Thematisierung von bindenden Standards für diesen Sektor. Es wird wohl noch dauern, ehe ein "engmaschiges Betreuungsnetz" mit Gesundheitsberatern und Personaldienstleistern und ein "integriertes Gesundheitsmanagement" bei der Zeitarbeit allgemein bindend durchgesetzt werden. Zu ersten Ergebnissen des Projekts, laut der GEZA-Homepage, gehörte beispielsweise ein Gesundheitstag, bei dem gesundheitsförderndes Verhalten am Arbeitsplatz im Vordergrund stand. Stress war dabei allerdings noch kein Thema, sondern körperliche Schonungsmaßnahmen am Arbeitsplatz, Fitnessübungen und Lauftrainings.

Einheitliche Standards für die Zeitarbeitenden neben den Festangestellten anzustreben, ist natürlich derzeit drängendes Problem. Auf der Hand liegt jedoch, dass hier Controlling-Verbesserungsmaßnahmen an den Start gehen, nachdem wesentliche strukturelle Verschlechterungen den wichtigsten Einschnitt gemacht haben. Zählen doch eben die strukturellen Bedingungen sicher zu wesentlichen Krankheitsfaktoren: Stress aufgrund des häufigen Stellenwechsels, aufgrund von sozial unsicherem Status, und vermutlich auch schlechter pekuniärer Lage. Mehr soziale Sicherheit und mehr Freizeit zu erstreben, ist nicht im Gesundheitsmanagement angelegte Sache – welche Hoffnungen man auch darauf setzen mag. Bei bleibenden strukturellen Missständen sieht es sich eher wie ein Credo von guter Führungskultur an.

Gravierende gesundheitliche Einschnitte der vergangenen Jahre, die so augenfällig mit Arbeitsdruck und mit arbeitsmarktpolitischer Entwicklung einhergehen, müssten eigentlich ein größeres Umdenken verlangen. So könnte z. B. das "Prinzip Arbeit" einmal gesellschaftlich überdacht werden, das mit der permanenten wirtschaftlichen Wachstumsanforderung die Anpassungsleistungen der Beschäftigten forderte und das sich in vielen Jahren gesellschaftlich manifestierte. Beschäftigtsein, noch so mühevoll, wird als (sozialer) Wert an sich erachtet. Das Vorwärtsdrängen wurde zu seinem eigenen Inhalt, verdeutlicht in zeitgemäßen Werbeparolen wie "Jeder hat etwas, das ihn antreibt" (Berliner Volksbank). Das Vorwärts mit eingeschlagenem Kurs bleibt oberste Denkkategorie, und lässt die Forderung nach einem "Zurück", nämlich eine Rücknahme der Liberalisierung und eine Rückgewinnung von Selbstbestimmtheit und sozialer Sicherheit als nicht salonfähig erscheinen.

Trotz der Tatsache Krankenstand kann gemutmaßt werden: Salonfähig ist das Kurieren von Krankheit nicht. Arbeitsbereich und privater Bereich sind heute beträchtlich ineinander verschränkt, und das Eingestehen von Krankheit ist nicht hoch im Kurs, wenn für Freelancer und Stellensuchende besser angeraten scheint, wenngleich erkältet, in der Freizeit auf eine Party zu gehen und Job-Kontakte anzubahnen, anstatt einfach zuhause zu bleiben. Für Erfolgssuchende ist indiskutabel, eine Trennung von Arbeits- und Privatwelt überhaupt noch zu sehen, und im Übrigen erscheint es auch als ein kulturelles Tabu, persönlich begrenzte Konditionen gegenüber äußeren Verhältnissen anzumelden. Mit dem spätfordistisch anmutenden Konzept des Gesundheitsmanagements am Arbeitsplatz könnte eben auch der Anspruch bedient werden, berufliche Sicherheit, gesellschaftliche Wertigkeit und Gesundheit zu vereinbaren.

Human Engineering

Solcher Anspruch erinnert, unter dem heutigen allgemeinen Wachstumszwang und dem akzeptierten höheren Arbeitsdruck, an das "human engeneering", wie es der Philosoph Günther Anders in seiner kulturell-psychologischen Ausführung "Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution" (1956, Beck) konstatierte.

Eine tragende These seines Buches ist, dass der Mensch in der Zeit der industriellen Serienproduktion und der technischen Höchstleistungen – und maßgeblich auch der atomaren Forschung - nicht mehr seelisch auf dem Laufenden, "up to date" mit seinen Produkten sei. Antiquiert sei der zeitgenössische Mensch insofern, als er mit der technischen Produktion und mit der Verwertung alles Verwertbaren fortfahre, ohne die menschheitliche Auswirkung dieser Tätigkeit ins Auge zu fassen und sein Tun neu infrage zu stellen, und zurück zu steuern. Vielmehr hegte man, so der Autor, bei der fortgeführten technischen Produktionstätigkeit den Wunsch, sich der Perfektion der Dinge anzugleichen.

Anders, der nach seinem Exil aus dem faschistischen Deutschland in Kalifornien lebte und sein gesellschaftliches Umfeld beobachtete und analysierte, schreibt von der Scham über unsere menschliche Beschaffenheit angesichts der von uns hergestellten, gekauften und benutzten Produkte: Man "schämt sich, geworden, statt gemacht zu sein". Die Herstellung von Geräten in faszinierender Perfektion habe dazu geführt, dass wir uns, selten bewusst, als "Nachzügler dessen, was wir selbst projektiert und produziert hatten", erfahren mussten. Der Mensch stelle nunmehr in seiner Körperlichkeit fest, dass der Leib "stur" ist: "Frei sind die Dinge, unfrei ist der Mensch".

Eine Folge davon sei der Wunschtraum, neben dem perfekten Gerät in einer "instrumentalen Ko-Substanzialität" dasein zu können und die eigenen Fähigkeiten mit "human engeneering", nach Vorbild des maschinellen Gerätes, das eine einzige spezialisierte Aufgabe leistet, hochzutrainieren. Umgesetzt sieht Anders das sowohl in der Aufbereitung und Maquillage des Körpers, um den äußerlichen Glanz des "polierten Ding-finish" zu erreichen, als auch in dem zeitgemäßen Drang zu sportlichen Rekordleistungen und zur Perfektionierung für die berufliche Aufgabenerfüllung (insbesondere in der Technik). Dabei werde kulturell ein nicht-bewusster, nicht-erklärter "industrieller Platonismus" gelebt. Denn die industriellen Waren zeigten uns ein ideales Dasein, dem wir nachstrebten. Immer wieder re-inkarniert, ersetzbar, führten die Dinge uns schmerzlich ihre "Todlosigkeit" und unsere eigene körperliche Beschränktheit und Sterblichkeit vor.

Mit etwas Skepsis beladen, müsste man auch heute genötigt sein, in der gesellschaftlichen Scham über das Kranksein und im Anstreben des Trainings menschlicher Fähigkeiten für die eine spezialisierte Aufgabe eine Art "human engeneering" wiederzuerkennen.