Zwischen den Räumen

Eine Antwort auf Michael Szameit und Myra Cakan

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Wir könnten weiter Pro- und Contra-Argumente zur These vom „Ende der SF“ austauschen (und im Web 2.0 tun wir das auch), aber die Debatte bleibt frustrierend fruchtlos ohne einen Schritt zurück und einen Blick auf tiefer liegende Mechanismen. Auch lässt sich das eigenartige Gefühl der Enttäuschung und Verunsicherung, das SF-Freunde wie Michael Szameit mal heimlich, mal vernehmlich beim Blick auf und in ihre Literatur anfällt, nicht einfach mit einer nonchalanten Handbewegung vom Tisch wischen. Stattdessen möchte ich mit diesem Artikel eine theoretische Analyse des Genres anstoßen, aus der sich differenziertere Schlussfolgerungen ziehen ließen.

Das erste Wort gebührt einem unbescholtenen Vertreter unserer Zunft, der da offenbarte: „Neunzig Prozent von allem sind Mist.“ Neunzig Prozent der SF sind Mist. Neunzig Prozent der Mainstream-Literatur sind Mist. Neunzig Prozent von allem, was ich selbst geschrieben habe, sind Mist. Neunzig Prozent von allem Gedruckten sind Mist, mit Ausnahme vielleicht von Telefonbüchern und Gelben Seiten (aber Werbung und kostenlose Zeitungen gleichen die Statistik wieder aus). Es geht um die interessanten zehn Prozent: um diejenigen Erzählungen, die Weltenbau betreiben und nicht bloß Kulissenrecycling.

Das zweite Wort gebe ich einem Freund (er ist Buchhändler): „Der SF geht’s so gut wie nie.“ In der Tat: Wir leben in einer Welt, die SF-Motive aufgesogen hat wie ein Schwamm. In einer Welt permanenter wissenschaftlicher Entdeckungen, in einer Welt der institutionalisierten technischen Revolution, in einer SF-Welt. Wir leben heute in der „Welt von morgen“. Die Realität hat die SF eingeholt, zumindest medial – was auch heißt, die Realität ist ohne SF-Metaphern nicht mehr denkbar. SF-Elemente haben längst die Mainstream-Literatur eingeholt, und neben der Literatur auch jedes weitere Medium. Man muss sich bloß mal bewusst Werbung anschauen. Das ist eigentlich eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Aber auch Lady Gaga geht’s vermutlich so gut wie nie – und was heißt das schon!

Kritische SF-Leser (also Leser, die sich nicht nur an großen Raumschiffen und Laserkanonen ergötzen wollen) verfügen über ein sensibles Wahrnehmungssystem, was ihre Literatur betrifft. Und dieses System schlägt immer wieder mal Alarm, ohne dass wir so recht wüssten, warum: Es sind durchaus nicht die von Michael Szameit konstatierten Verfallstendenzen – die gab es ja schon immer, wie Myra Cakan zu Recht deutlich macht. Und die gibt es überall, wenn man Theodore Sturgeon Glauben schenken mag. Auch literarische Serienmörder liefern sich einen Originalitäts- und Überbietungswettbewerb. Und in nicht allzu ferner Zukunft wird jemand auch die Niederungen unterhalb von Charlotte Roches Feuchtgebieten erkunden. Neunzig Prozent von allem, es ist, wie es ist, sind Mist. Wegen dieser neunzig Prozent müssen wir uns keine Platte machen.

Zu den ersten beiden Worten nun eine Bemerkung, die auf meinem eigenen Mist gewachsen ist: Das wesentliche Merkmal phantastischer Literatur ist die Inanspruchnahme des leeren Raums.

Ein großer Teil der Wurzeln unseres Genres liegt in der Romantik. Wo die Aufklärung jeden Winkel auszuleuchten, jedes Detail sichtbar zu machen, die Welt vollständig und abschließend zu beschreiben suchte, insistierte die Romantik auf Nacht und Dunkel, auf Brüchen und Rissen, auf Leer- und Zwischenräumen in unserer Lebenswelt. Die Aufklärung schuf Utopien: Gesellschaftsentwürfe, die einem perfekt ablaufenden Uhrwerk gleichen – die Romantik schuf Phantasien. Selbst der Widerspruch, den die Erben der Aufklärung gegen die Aufklärung vorbringen, wie etwa das Werk de Sades, ist in seiner geometrischen Ordnung, seinem Klassifikationswahn, seinem Willen zur abschließenden Darstellung zutiefst aufklärerisch-utopisch. De Sade verteidigt ja nicht etwa das Chaos der Wollust und des Begehrens, sondern er überführt es in ein methodisches Regelwerk.

In den 120 Tagen von Sodom beispielsweise finden sich vier Protagonisten in einem Schloss im Schwarzwald zusammen. Das Schloss ist in Planquadrate aufgeteilt, die Zeiten sind strikt genormt, die Körper markiert. 600 Fälle werden in viermal hundertfünfzig Perversionen eingeteilt, die in 120 Tagen zu behandeln sind: im November „gewöhnliche Passionen“, im Dezember „ungewöhnliche“, im Januar „kriminelle“ und im Februar „tödliche“. Alles ist genauestens geplant, und strikt nach Plan soll es auch abgehandelt werden. Trotz aller haar- und hirnsträubenden Szenen ist de Sade damit vor allem eins: so ordentlich, langweilig und unerotisch, wie je ein deutscher Kirchenbeamter nur sein konnte.

"120 Tagen von Sodom" Verfilmung von Pier Paolo Pasolini (1975)

Michel Foucault, sonst ein rührender Lobredner für den „göttlichen Marquis“, kommt denn auch zu der Einsicht, dass dieser im Grunde nur ein „Rechnungsbeamter der Ärsche und ihrer Entsprechungen“ sei und aus der Erotik eine Disziplinarmaßnahme mache. Ganz anders die Romantiker: Sie gaben dem Leben seinen uneinholbaren Vorsprung vor jeglicher Beschreibung, Bewertung, Behandlung zurück. Sie versuchten nicht länger, das Chaotische des Lebens zu domestizieren, sondern ließen ihm freien Lauf. Sie wollten die allzu perfekten Oberflächen der vollständigen Systeme aufbrechen, diese Brüche und die darunter liegenden Räume ausloten – das nicht Sichtbare, das Dunkle, die Leere. Aus diesen Leer- und Zwischenräumen erheben sich Ungeheuer … aber in ihnen können wir auch die blaue Blume finden, die uns die vollkommenen Systeme eines Thomas Morus, eines Francis Bacon oder eben auch eines Marquis de Sade verweigern.

Schon in der Antike war der Ausdruck horror vacui geläufig: die Angst oder Abscheu vor der Leere. Die Natur sei deshalb bestrebt, leere Räume mit Gasen oder Flüssigkeiten auszufüllen. Die Romantik begann, diesen Horror des Leeren zu illustrieren und gewann gleichzeitig dem unbesetzten Raum positive Aspekte ab. Beide Tendenzen lassen sich auch in der klassischen SF ausmachen (die freilich den Widerspruch zwischen Phantastik und Utopie nicht mehr empfand und unbekümmert auf beide Traditionen zurückgriff): Im Weltraum hört dich keiner schreien, aber dort warten auch all die neuen Welten und ungeahnten Wunder auf dich. Dabei sucht die SF nicht mehr den Leerraum innerhalb des Lebensraums auf, sondern verlagert ihn in ein Jenseits – in die Leere eben des Weltraums oder der Zukunft. Beide ermöglichten einen optimalen Abstand zur realen Welt.

Die SF füllt mit ihren phantastischen Illustrationen einerseits die leeren Räume, andererseits etabliert sie diese auch immer wieder neu. Sie öffnet Zwischenräume, Diskontinuitäten, Abstände zwischen einer imaginierten Welt und unserer realen Welt, sie schafft leere Räume. Jenseits bloßer Illustration eines „Was wäre wenn“-Szenarios in der Zukunft oder im Weltraum (oder im Weltraum der Zukunft) übt sie damit eine viel wichtigere Funktion aus: Sie hält den Raum des Möglichen neben dem Tatsächlichen offen. Sie verteidigt das Unbesetzte vor dem Zugriff und der Verwertung durchs schnöde Machbare. Sie besteht auf den Abstand, weil er einen Resonanzraum bildet für Ideen und Träume und Gedankenexperimente – für Phantasien. Nicht die wissenschaftlich-technische Eroberung und Kolonisierung des Nichts ist das, was die SF im Innersten antreibt, sondern im Gegenteil immer wieder Leerstellen zu schaffen, Denk-Räume für Unmöglichkeiten, reale Utopien – was wie ein Widerspruch in sich klingt, aber keiner ist: Der unbesetzte Zwischenraum ist der Nicht-Ort, mit dem wir beim Lesen konfrontiert werden. Zwischen uns und Simmons’ Hyperion besteht ein Abstand, in dem Kräfte der Anziehung oder der Abstoßung beider Welten wirken und uns gehörig die Gedanken verwirbeln. Eine SF-Welt braucht also einen fein austarierten Grad von Plausibilität, sonst könnten wir sie nicht auf unsere Welt beziehen, und sie wäre irrelevant. Womit wir zum Problem kommen.

Wenn nämlich die reale Welt die imaginierten Welten der SF eingeholt hat – und das ist nun der Fall, unsere Gegenwart und die Zukunftsszenarien der SF liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wir leben in einer SF-Welt (und darin stimmen die Ausrufer des „Endes der SF“ und ihre Gegner weitgehend überein) –, wenn mithin der Resonanzraum zwischen heute und morgen papierdünn geworden ist, dann bleibt nur noch der Weltraum. Aber auch hier ist der Abstand zwischen imaginierter und realer Welt sehr schmal geworden, oder besser: viel zu weit. Es ist sozusagen zuviel Raum vorhanden, als dass die SF noch Resonanzen erzeugen könnte, und zwar nicht deshalb, weil die reale Welt die SF auch hier eingeholt hätte, sondern weil sich die Szenarien der SF als immer absurder erweisen. Die Menschen sind zum Mond geflogen, nutzen der Orbit, und auch permanente Forschungsstationen auf dem Mond und/oder Mars wären denkbar. Das alles evoziert allerdings noch keinen sense of wonder und keine Ideen, denn es ist machbar und nur eine Frage des Geldes und des politischen Willens. Die space opera jedoch, die Erzählung von der Eroberung und Kolonisierung des fernen Alls, ist mittlerweile nicht viel mehr als eine Münchhausiade.

Wissenschaftliche Forschung zeigt uns eben auch die Grenzen unserer Möglichkeiten, und das Bewusstsein für diese Grenzen ist gewachsen. Nicht nur, weil die Entfernungen einfach viel zu groß sind, als dass sie zu bewältigen wären; nicht nur, weil selbst die Antarktis jeder bisher bekannten außerirdischen Welt vorzuziehen wäre; nicht nur, weil schlicht und einfach Gründe für ein solches Unterfangen fehlen – auch ökonomische, finanzielle, politische, kulturelle und ethische Erwägungen (über die die SF ja gern generös hinweggeht) spielen eine Rolle. New frontier? Aus der old frontier resultierten ein Genozid und die Turboversion kolonialistisch-kapitalistischen Raubbaus – wollen wir das wirklich noch einmal haben, und dann auch noch in Größenordnungen, im Vergleich zu denen Nordamerika wie ein Fliegenschiss aussieht? Fragen des Fortschritts hängen immer auch eng mit Fragen des Wachstums zusammen.

Die klassische, d.h. technophil und kapitalistisch orientierte und zuweilen doch arg hemdsärmelige angloamerikanische SF verstand diesen Zusammenhang oft quantitativ: Höher, weiter und vor allem mehr war meist zugleich auch besser; Wachstum war zugleich Fortschritt. Aber die Träume von ungehemmter Maximierung rufen in unserer Zeit einen doch eher schalen Geschmack hervor und werden überdies hinaus im Genre selbst längst kritisch reflektiert, beispielsweise in Andreas Eschbachs Exponentialdrift mit der eindrücklichen Gruselvision eines Rattenexperiments und der Schlussfolgerung auf die menschliche Ausbreitung in den Weltraum oder in dystopischen Entwürfen wie Kornbluth/Pohls Eine Handvoll Venus. Neben den technischen Grenzen unserer Möglichkeiten gibt es Grenzen des Wachstums, Grenzen des Sinns und am Ende des Tages auch Grenzen des guten Geschmacks.

Um es ganz einfach zu sagen: Die unendlichen Weiten des Weltraums sind nicht unser Bestimmungsort. Die Eroberung des Alls ist ein Mythos. Wir bleiben hier! – Wer SF weiterhin durch die Brille unreflektierter Fortschritts- und Wachstumsverklärung lesen will, wird das nicht so sehen. Einen Kreis eingeschworener Jünger wird es wohl immer geben, und der könnte die SF in den Status zurückversetzen, von dem sie sich einst emanzipierte: die Literatur einer technokratisch-sektiererischen Subkultur. Für den Rest des Publikums fehlt nicht viel mehr als das literarische Pendant zu Cervantes’ Don Quijote, um das Genre zu desavouieren.

Hinsichtlich des Weltraummotivs ist also der Abstand, der leere Raum zwischen realer und imaginierter Welt so groß geworden, dass man ihn als völlig beliebig und daher irrelevant bezeichnen kann. Hinsichtlich des Zukunftsmotivs ist der Abstand zu klein geworden. Offensichtlich benötigen die imaginierten Welten bedeutsamer SF einen Minimal- und einen Maximalabstand zur realen Welt, und erst innerhalb dieser Parameter entstehen das Sog- und Spannungspotenzial des sense of wonder und eine Bedeutungsebene der SF-Erzählung.

Bedeutung, Relevanz – aber was ist das für wen? Ich verstehe darunter keine moralische oder wie auch immer geartete Botschaft, sondern eine Funktion. SF ist ein Diskurs in einem Geflecht vieler weiterer Diskurse, und sie besteht selber wieder aus Diskursen. Solche Diskurse kommen aus der Vergangenheit und laufen unbestimmt lang weiter, sie münden entweder in andere Diskurse oder versiegen irgendwann. Diskurse gibt es, seit Menschen sich auf abstrakter Ebene verständigen können. Sie bringen ihre Bedeutung schon immer mit. Die Bedeutung des SF-Diskurses (man könnte auch sagen: die Funktion) liegt darin, uns Leerräume zu verschaffen, in die wir eindringen und an denen wir uns reiben können, bis irgendein Gedanke zündet.

Wir wussten, wozu die SF imstande ist, lange bevor der Mainstream sie inkulturierte. Aber mittlerweile zehren wir nur noch vom Vergangenen. Die SF wird ihre Bedeutung nicht über Nacht verlieren, und bedeutungslose SF gibt es, seit es die SF gibt. Gleichwohl nähert sich der innere Zeiger vieler Leser und Autoren dem roten Bereich, und ein diffuses Unwohlsein macht sich breit. Mag es der SF auf den ersten Blick auch noch so gut gehen, auf den zweiten Blick – den Blick unter die Oberfläche, den Blick auf die unterschwelligen Diskurse – ist nicht zu leugnen: Ihre Bedeutung nimmt beständig ab. Die klassische SF vermag immer weniger das zu leisten, was sie nun bald 200 Jahre lang leistete (wenn man mit Aldiss Frankenstein als Beginn markiert). Sie verspricht viel und liefert wenig.

Das ist nicht ihre „Schuld“ oder so etwas – der Bezugsrahmen für SF hat sich geändert, und damit ändert sich eben auch die SF (selbst wenn sie sich nicht ändern würde). Das ist auch noch nicht der Tod des gesamten Genres, aber es könnte sich zum Ende seiner Bedeutung entwickeln. Es ist durchaus keine gott- oder naturgegebene Selbstverständlichkeit, dass das Genre genug Kraft hat, sich zu erneuern, wie Myra Cakan meint.

Die letzte große Erneuerung, der letzte echte Bedeutungsupgrade fand mit dem Cyberpunk statt (dessen bedeutendster Vertreter in den Mainstream ausgewandert ist). Durchaus möglich, dass die SF auch heutzutage wieder einen Weg findet, ihre Bedeutung ins öffentliche Bewusstsein einzuschreiben. Anzeichen einer Erneuerung sind da – Anzeichen einer SF, die sich nicht mehr hauptsächlich der Motive Zukunft und/oder Weltraum bedient und es trotzdem versteht, leere Räume zu öffnen und zu verteidigen, Zwischenräume, Resonanzräume für Ideen. Literarische Beispiele: Steve Hall, Gedankenhaie oder Scarlett Thomas, Troposphere; filmische Beispiele: Terry Gilliam, Das Kabinett des Dr. Parnassus (im Originaltitel nicht zufällig ein imaginarium) oder Jaco van Dormael, Mr. Nobody. Möglich auch, dass eine Literatur entsteht, die diese Funktion ausfüllt und als SF nicht mehr erkennbar ist – die eben genannten Beispiele sind von der SF-Szene eher zurückhaltend aufgenommen worden.

Das Kabinett des Dr. Parnassus. Bild: Concorde Filmverleih

Und ebenso möglich ist es, dass die SF völlig in den Niederungen der von Michael Szameit registrierten Bedeutungslosigkeit verschwindet und künftig ein Publikum bedient, dass zur einen Hälfte aus Pulpfreaks besteht und sich an großen Raumschiffen und Laserkanonen ergötzen will, zur anderen Hälfte aus Technogeeks, die als letztes Aufgebot den Plan zur Eroberung der unendlichen Weiten des Weltalls ideologisch korrekt verteidigen.

Ideenliteratur jedenfalls sieht anders aus.

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