Merkels französisches Roulette

Mit der einseitigen Unterstützung des Amtsinhabers Sarkozys und einem informellen Boykott seines sozialistischen Herausforderers Hollande setzt die deutsche Kanzlerin beim französischen Wahlkampf alles auf eine Karte

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Kanzlerin Merkel sei regelrecht "verärgert" gewesen über den jüngsten Rückzieher des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der sie während eines Radiointerviews aus den zuvor geplanten, gemeinsamen Wahlkampfauftritten ausgeladen habe, meldeten kürzlich deutsche Leitmedien. "Die Wahlkampagne ist die Sache der Franzosen, das ist eine Sache unter uns", erklärte Sarkozy. Vor Vertrauten habe Merkel daraufhin über die "Sprunghaftigkeit" des Franzosen geschimpft und diesen am Rande eines Gipfeltreffens zur Rede gestellt, woraufhin Sarkozy der offenbar sehr wahlkampffreudigen Kanzlerin "zumindest einen gemeinsamen Auftritt" zugestand.

Diese undiplomatische Abfuhr stellt den ersten Rückschlag für Merkels derzeitige Frankreichpolitik dar, die wie kein anderer deutscher Kanzler zuvor im französischen Wahlkampf interveniert - zugunsten des Amtsinhabers Nicolas Sarkozy. Die Kanzlerin und die Union seien im Wahlkampfmodus, als ob es darum gehe, eine Wahl in Deutschland zu gewinnen, kommentierte etwa die Financial Trimes. Der Präsidentschaftswahlkampf gerät somit auch zu einem "Rennen" um die Beibehaltung des europäischen Führungsduos "Merkozy", wie die enge Abstimmung der europäischen Krisenpolitik zwischen Merkel und Sarkozy längst tituliert wurde.

Das auf den Begriff Merkozy gebrachte Bündnis zwischen Berlin und Paris resultiert größtenteils aus der Bereitschaft Sarzozys, sich den deutschen Politikvorgaben bei der Krisenbewältigung anzuschließen, die auf eine harte Austeritätspolitik und Exportfixierung abzielen. Paris hat vor allem den von Berlin geformten Fiskalpakt zugestimmt, der die Staaten Europas verbindlich auf Haushaltskonsolidierung und Schuldenreduzierung festlegt. Somit konnten in ganz Europa die harten deutschen Sparvorgaben durchgesetzt werden, aufgrund derer ein Großteil des Währungsraumes inzwischen in Rezession übergeht. Die Sparpolitik, die nahezu alle Eurostaaten inzwischen verfolgen, lässt die Nachfrage einbrechen, was zur der sich beschleunigenden wirtschaftlichen Talfahrt führt. Damit werden übrigens auch die Sparprogramme selber hinfällig, da die dadurch ausgelöste Rezession die Steuereinnahmen einbrechen und die Sozialausgaben ansteigen lässt. Ungeachtet des sich abzeichnenden Desasters der maßgeblich von Berlin geformten europäischen Austeritätspolitik, hofft Sarkozy auch innenpolitisch darauf, am deutschen Wesen zu genesen. Der Präsident präsentiert seinen Landsleuten das deutsche Wirtschaftsmodell als ein großes Vorbild, dem es nachzueifern gelte. Schon Ende Oktober - kurz nachdem er Merkels Forderungen nach einem Fiskalpakt übernommen hatte – erklärte Sarkozy rundweg, dass er das deutsche System übernehmen wolle: "Mein Job ist es, Frankreich näher an ein System heranzubringen, das funktioniert, das Deutschlands", erklärte der Präsident Frankreiches in einem Interview. Frankreichs Staat weise zu viele Ausgaben auf und man müsse "mehr und besser arbeiten", so das an den deutschen "Reformdiskurs" erinnernde Mantra Sarkozys.

Folglich bilden auch die Bemühungen Sarkozys, eine nach Vorbild der deutschen "Agenda 2010" geformte Politik durchzusetzen, ein zentrales Streitthema im französischen Wahlkampf. Im Endeffekt will der derzeitige Amtsinhaber eine weitgehende Prekarisierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durchsetzen, die mit Steuerentlastungen für Unternehmen und Mehrwertsteuererhöhungen einhergehen würde. Damit würden das Lohnniveau und die Binnennachfrage in Frankreich gesenkt, was aber zu einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der französischen Industrie und steigenden Exporten führen soll. Die Ausrichtung der französischen Industrie auf den Export soll – ganz nach dem deutschen Vorbild – durch Lohnsenkungen und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes erreicht werden.

Hollande lehnt Sparkurs ab

Sarkozys sozialistischer Herausforderer François Hollande stellt hingegen dieser Rosskur ein klassisch sozialdemokratisches Programm entgegen, das im krassen Gegensatz zu der europaweit exekutierten Krisenpolitik steht. Für helle Aufregung in Deutschlands Medien sorgte etwa die Forderung nach einem Spitzensteuersatz von 75 Prozent, den Hollande auf Einkommen über einer Million Euro einführen will. Der Sozialist will generell die Besserverdienenden stärker zur Kasse bitten, um so die Mittelklasse zu entlasten. Neben dieser klassisch sozialdemokratischen Umverteilungspolitik sind es aber vor allem Hollandes Forderungen nach einer Kehrtwende in der europäischen Krisenpolitik, die heftigen Unmut in Berlin auslösten.

Der Sozialist lehnt den von Merkel durchgesetzten Fiskalpakt rundweg ab. Er erklärte bereits Ende 2011, im Fall seines Wahlsieges diesen nicht zu unterschreiben: "Wenn ich zum Präsidenten der Republik gewählt werde, verhandele ich die Vereinbarung neu." Stattdessen fordert der aussichtsreiche Präsidentschaftsanwärter eine schuldenfinanzierte Wachstumspolitik, die den drohenden Absturz in die Rezession durch Konjunkturprogramme verhindern soll. Überdies sprach sich Hollande auch für direkte Aufkäufe von Staatsanleihen durch die EZB und für die Einführung von Eurobonds aus. Beide Vorhaben werden von Merkel vehement abgelehnt, weil in der deutschen Öffentlichkeit die Ängste vor einer Hyperinflation stark verbreitet sind. Derzeit kauft die EZB Staatsanleihen unter Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten über den Umweg der Finanzmärkte auf (Geldflut für die Banken).

Diese der knallharten Austeritätspolitik Berlins diametral entgegenlaufenden Politikvorstellungen Hollandes haben Angela Merkel zu einem Tabubruch in den deutsch-französischen Beziehungen verleitet. Die Bundeskanzlerin hat angeblich einen Boykott des sozialistischen Präsidentschaftsanwärters organisiert, bei dem die Regierungschefs Deutschlands, Spaniens und Italiens sich darüber verständigt haben sollen, Hollande nicht zu empfangen. Die Visite des französischen Herausforderers bei den Regierungschefs der Nachbarländer stellt für gewöhnlich eine Selbstverständlichkeit dar. Damit setzt die Kanzlerin alles auf eine Karte, auf den Wahlsieg Sarkozys: Bei einem Sieg Hollandes wären die deutsch-französischen Beziehungen schwer belastet, da diese bekannt gewordene Boykottmaßnahme Merkels nachwirken dürften. Dem Merkozy titulierten Krisenbündnis zwischen Paris und Berlin könnte somit eine Phase verstärkter Konfrontationen dieser europäischen Führungsmächte folgen.

Sarkozy holt gegenüber Hollande auf, aber wohl nicht wegen Merkels Beistand

Der Sozialist hat sich bisher direkte Kommentare zu diesem europäischen Boykott verkniffen, doch sind seine Bemerkungen gegen die deutsche Dominanz in Europa schärfer geworden: "Es ist nicht Madame Merkel, die im Namen aller Europäer entscheidet", sagte Hollande Mitte März, um seine Forderungen nach einem Kurswechsel der europäischen Krisenpolitik zu untermauern. Pierre Moscovici, der Wahlkampfmanager von Hollande, bezeichnete die offene Einmischung Merkels in den Wahlkampf hingegen offen als "irritierend" und "besorgniserregend".

Das Engagement Merkels könnte somit für Berlin ungewollte Nebenwirkungen nach sich ziehen. Die französischen Sozialisten haben bereits Sarkozy vorgeworfen, vor Berlin kapituliert zu haben – und sie haben die Einmischung Merkels zur Mobilisierung ihrer eigenen Wählerbasis genutzt Hollande formulierte gar, Sarkozy "unterwerfe" sich Merkel. Die von Sarkozy nun öffentlich per Radiointerview durchgeführte Ausladung der Bundeskanzlerin ist gerade auf diese Stimmungslage zurückzuführen, bei der die Versuche, Deutschland als Vorbild hinzustellen, auf verstärkte Kritik stoßen. Diese germanophile Argumentation Sarkozys stößt auch aufgrund des offensichtlichen Scheiterns der deutschen Austeritätspolitik in Europa, das sich derzeit buchstäblich in den Bankrott spart, an ihre Grenzen.

Das derzeitige Aufholen in den Umfragen zu seinem sozialistischen Herausforderer verdankt Sarkozy somit nicht seiner Allianz mit Merkel, sondern dem hemmungslosen Rechtspopulismus, mit dem er Wähler der extremen Rechten zu mobilisieren versucht. Hierbei bedient der Präsident gerne die fremdenfeindlichen Reflexe der Wählerschaft der rechtsextremen Nationalen Front von Marine Le Pen, indem er etwa die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an Frankreichs Außengrenzen in Aussicht stellt.

Erstarkt die Linke in Frankreich wieder?

Dabei scheint auch die Linke in Frankreich als ernsthafte politische Kraft wiederzukehren. Die Linke Front mit ihrem Kandidaten Jean-Luc Mélenchon bildet einen weiteren Faktor, der kurz vor der ersten Runde der Wahlen am 22. April den Abstand zwischen Hollande und Sarkozy abschmelzen lässt. Der ehemalige Sozialist, der nun eine Wahlkoalition etlicher linker Gruppierungen und Parteien anführt, konnte in den letzten Wochen einen Popularitätsschub von fünf auf rund 11 Prozent Wählerzuspruch verzeichnen, der größtenteils zu Lasten Hollandes geht. Im Lager der Linken Front sammeln sich diejenigen Kräfte, die Hollandes Rückgriff auf die sozialdemokratischen Rezepte der 70er Jahren als unzureichend ansehen, um mit der derzeitigen Systemkrise des Kapitalismus fertig zu werden.

Inzwischen wird Hollande angesichts des Aufstiegs Mélenchon nervös. Eine Stimme für den linken Kandidaten könne dazu führen, dass Sarkozy gewählt werde, warnte der Sozialist. Bei der linkslastigen Rhetorik Hollandes könnte es sich somit um eine rein taktische Reaktion auf die wiedererstarkende Linke in Frankreich handeln. Somit stellt sich aber die Frage, ob Hollande seine klassisch sozialdemokratischen Forderungen überhaupt ernst nimmt.

Es wäre nicht das erste Mal, dass ein sozialdemokratischer Spitzenpolitiker seiner sozialen Wahlkampfrhetorik eine konservative Politik folgen lässt. Entsprechende Inspirationen könnte sich Hollande ebenfalls östlich des Rheins holen, wo ja Gerhard Schröder mit seiner rot-grünen Koalition Deutschland in den ersten Angriffskrieg nach 1945 führte und mit den Hartz-IV-Arbeitsgesetzen die Prekarisierung des Arbeitslebens einleitete, die Sarkozy nun anstrebt. Somit könnte sich Merkels Boykottpolitik gegenüber Hollande nicht nur als höchst bedenklich und problematisch, sondern auch als schlicht überflüssig erweisen.