Ex oriente lux?

Wie China dabei ist, dem Westen den Rang abzulaufen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ein europäischer Diplomat beschrieb Anfang des 15. Jahrhunderts die chinesischen Importe als "die reichsten und wertvollsten aller", weil die "[chinesischen] Handwerker als die bei weitem geschicktesten gegenüber jenen aller anderen Nationen gelten". Asien war damals nicht zu schlagen. Bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts existierten hier die leistungsfähigsten Volkswirtschaften: Rund zwei Drittel der Weltbevölkerung - Asiaten, allen voran Chinesen und Inder - produzierten um 1800 vier Fünftel aller Güter. Während Goethe über seinem Faust hockte und Hegel über den Gang des Weltgeistes grübelte, kletterte Asiens Anteil an der Weltbevölkerung auf die Marke von 70 Prozent zu: Im Osten, nicht im Westen spielte die Musik.

Den Charakter der Chinesen kennzeichnet Fleiß, an Fatalismus grenzende Geduld, Anstelligkeit, Genügsamkeit, Verschlagenheit, vor allem praktischer Sinn. Als Kaufleute stehen sie in allererstem Rang.

Meyers Großes Konversations-Lexikon: China. 6. Aufl. 1905-1909

Als größte und produktivste Wirtschaft der Welt war China zugleich der Motor, der die frühneuzeitliche Wirtschaft antrieb. Im 16. Jahrhundert waren es unbestritten die chinesischen Fertigprodukte, die den Weltmarkt dominierten; sie galten als besser, ausgereifter und preiswerter als die europäischen. Bei einer Bevölkerung, die im ausgehenden Mittelalter dabei war, die 100-Millionen-Grenze zu überschreiten, verfügte das Reich über eine äußerst produktive Landwirtschaft, hochentwickelte Handelsbeziehungen und ein in jeder Hinsicht überlegenes Gewerbe, das in ganz Eurasien anerkannt war.1

"Die Zukunft der Weltpolitik entscheidet sich in Asien, und die USA werden direkt im Zentrum dieser Entwicklungen stehen", schrieb die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton jüngst in der Zeitschrift Foreign Policy unter der Überschrift "America’s Pacific Century" (Nov. 2011). Unausgesprochen bleibt in ihrem Resümee die heute vorherrschende Ansicht westlicher Politik, dass China der notorische Sitzenbleiber ist, der den Anschluss erst noch schaffen muss. China, das ist für viele Experten im Westen nur ein zivilisatorischer Zögling.

Jüngling oder Greis?

Wenn China heutzutage in deutschen Medien weltpolitisch als "Teenager" angesehen wird, so findet sich hier zwar einerseits Hegelsches Gedankengut leicht fasslich wieder, andererseits nimmt sich ein solches Urteil geschichtlich - angesichts der tatsächlichen Rolle und Geschichte Chinas - reichlich doktrinär und oberflächlich aus.

Die orientalische Welt ist in dieser Ideologie die junge und unreife Welt; sie gleicht auch nach Hegels Ansicht (Hegel lebte von 1770 bis 1831) dem Kindes- und Knabenalter, gefolgt von der griechischen Adoleszenz, dem römischen Mannes- und dem germanischen [= westeuropäischen] Greisenalter. Und der Greis ist der Weise. Ist er das? "Die Weltgeschichte", so sinniert Hegel in seinen Berliner Vorlesungen, "geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang. (…) Hier geht die äußerliche physische Sonne auf, und im Westen geht sie unter; dafür steigt aber hier [ergo im Westen] die innere Sonne des Selbstbewußtseins auf."2 So erblickt der preußische Staatsphilosoph das wahre Licht der Weisheit im Westen, nicht im Osten. Hegels Sichtweise sollte prägend für das Denken Europas über das Riesenreich in Asien sein. In Fernost, da liegen demnach die Teeniejahre der Zivilisation.

Es waren ein Schotte und ein Brite, Adam Smith (1723-1790) und Thomas Malthus (1766-1834), die etwa zeitgleich über die demografische Entwicklung des fernen Imperiums spekulierten - und sie lagen ihrerseits falsch. Vor allem letzterer unterschätzte die Kapazitäten der chinesischen Wirtschaft und auch die enorme Flexibilität der Chinesen, die es verstanden, die Bevölkerungsexplosion im eigenen Lande effektiv zu kontrollieren: Bevorzugte Methoden waren, wenn nötig, geschlechtliche Enthaltsamkeit und die Kindstötung, besonders die von Mädchen. Diese führte über kurz oder lang zu einem erheblichen Ungleichgewicht im Geschlechterverhältnis. Dank enormer Leistungen in der Landwirtschaft brachte es die chinesische Bevölkerung aber von 140 Millionen (um 1650) über 225 Millionen (um 1750) auf an die 400 Millionen bereits um 1850. 3

Jüngling hin oder her, das moderne China gebärdet sich, wie jeder weiß, als selbstbewusster und dabei stets mehrdeutiger Akteur auf der Weltbühne. Von den heute weltweit gut 7 Milliarden Menschen leben in China 1,34 Milliarden. Zum Vergleich: Indien hat 1,17 Milliarden, die USA haben knapp 310 Millionen, Japan 127,5 Millionen und die BRD rund 81,7 Millionen Einwohner. Die russische Föderation zählt 141,75 Millionen Bewohner. Chinas Anteil an der Weltwirtschaft liegt nach IWF-Angaben bei circa 11 Prozent und wurde damit in der Einschätzung 2007 deutlich nach unten korrigiert.

Ostasienexperte Markus Taube sah die Volkswirtschaft Chinas einige Jahre zuvor (2003) auf dem Niveau von Italien, nannte jedoch in einem Atemzug - bezogen auf die Kaufkraftparitäten - die VR China bereits die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Taube warnt aber vor allzu simplen Antworten: China, das sei eben beides - "das rückständige Entwicklungsland und das High-Tech-Labor."

Sohn des Himmels, Vater des Volkes

Die Autokratie des Kaisers beruht auf dem Princip des patriarchalischen Regimentes, der Kaiser (Tient-se) führt den Titel Ho-ang-ti (erhabner Gebieter) od. mongolisch Bogdo-Khan (Sohn des Himmels, Vater des Volkes, alleiniger Beherrscher der Welt) (…) Er genießt sklavische, fast göttliche Verehrung; das Gesetz verlangt sogar bei Todesstrafe vor seinen Briefen niederzuknieen u. die Erde neun Mal mit der Stirn zu berühren; seinem Bilde werden Opfer gebracht (…)

Pierers Universal-Lexikon

Die Charakteristik des kaiserlichen Regiments aus dem 19. Jahrhunderts wirkt überraschend modern. Es ist eine Tatsache, dass auch Mao, "der große Vorsitzende", von vielen Chinesen als mythischer Heilsbringer verklärt wird, und das, obwohl er den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortgang des Imperiums über weite Strecken des 20. Jahrhunderts hemmte und Millionen zu Tode brachte.

"Historisch gesehen haben die Chinesen immer eine einzige, unmißverständliche Autorität bevorzugt", wird Lucian W. Pye (1921 - 2008), Sinologe und ehemals Professor für Politikwissenschaft am renommierten Massachussetts Institute of Technology (MIT) gern zitiert (hier: 1972).

Für den weitaus größten Teil seiner Geschichte stellt China sich als immenses Imperium dar, das von einem einzigen Potentaten regiert wurde. Das macht auch das Geheimnis der Herrschaft Maos aus: Unter dem Mantel eines Revolutionärs herrschte er als monarchischer Despot. Henry Kissinger, der im Mai 89 Jahre alt wird, gibt in seinem publizistischen Spätwerk ein in mancherlei Hinsicht einseitiges Bild Chinas, wenn er im Rückblick so manche Hässlichkeit ausblendet, darunter auch die Schattenseiten der cäsarischen Allüren Mao-Tse-tungs. In dem voluminösen Wälzer "On China", 2011 erschienen, zeigt sich der westliche Politstar Kissinger eher beeindruckt von fernöstlicher Denkkraft, Taktik und Diplomatie. Das brachte ihm herbe Kritik ein; sein Vermächtnis sei ein "ärgerlicher Kotau" vor "welthistorischen Individuen", die über moralische Kategorien erhaben scheinen.

Mao mit Henry Kissinger (Peking, 1972). Bild: U.S. Government

Mao, dessen Porträt zu Lebzeiten zigtausendfach durch die internationale Medienlandschaft geisterte, traf wenige Jahre vor seinem Tod persönlich mit Kissinger zusammen. Henry Kissinger, von 1973 bis 1977 Außenminister unter Nixon und dessen Nachfolger Gerald Ford (und bis 1973 US-Sicherheitsberater), reist im Juli 1971 von Pakistan aus nach Peking - in geheimer Mission. Er sollte den Besuch Richard Nixons bei Mao Tse-tung vorbereiten. Es war die vorsichtige Annäherung zweier Welten.

Richard Nixon trifft Mao (1972). Bild: White House

Der "Große Vorsitzende" Mao hatte die Volksrepublik China mit einer spektakulären Bekanntgabe auf dem Tiananmen-Platz in Peking am 1. Oktober 1949 gegründet. Rund 300.000 Soldaten der Volksbefreiungsarmee mussten antreten. Im darauffolgenden Jahr startete die Partei (KPCh) eine Kampagne gegen "Konterrevolutionäre". Schon die Jahrzehnte nach 1934 hatten Hunderttausenden von "Volksfeinden" das Leben gekostet, manche Quellen sprechen von mehreren Millionen Hinrichtungen während der Zeit der Landreform und der politischen Feldzüge. Es war die Hochzeit der Propagandisten und Denunzianten. Bis in die Familien hinein war niemand mehr sicher vor Spitzeln und Zuträgern. Die Not der Jahre 1960 bis 1962 - eine Folge von Maos Landreform - forderte 30 Millionen Opfer - Menschen, die verhungerten: Maos Idee der Volkskommunen und sein beabsichtigter "Großer Sprung nach vorn" in der Landwirtschaft erwiesen sich als monströser und todbringender Fehlschlag.

Massenversammlungen, öffentliche Propagandatänze, Huldigungen von Werktätigen und Rotgardisten, enthusiastische Studenten, die armen Bauern den Fortschritt erklärten, Kinder, die vor Fabrikarbeitern aus Maos Werken zitierten und in den Schule Revolutionslieder absangen, das waren die "revolutionären Jahre". 1,2 Milliarden rote Bibeln (im Jargon der 68er genannt "Mao-Bibel") einten das Volk quer durch alle Schichten und Ethnien, massenhafte Exekutionen von Klassenfeinden und Konterrevolutionären hielten die Masse in Angst und Spannung.

"Mao-Bibel" (deutschsprachige Ausgabe, Peking 1972)

Während des Jahrzehnts der Kulturrevolution (1966 bis 1976) wurden Tausende in Ochsenschuppen inhaftiert zwecks "Umerziehung": Intellektuelle, Geschäftsleute und Beamte, die in Ungnade gefallen waren und die dann in aller Öffentlichkeit von jedermann als Revisionist, Konterrevolutionär oder Reaktionär stigmatisiert werden durften. In zugigen Ställen sollten sie Maos Denkweise pauken und lernen, ihre Einstellung zur Revolution zu ändern.