"Die Europäische Union zerbricht"

Yanis Varoufakis. Foto: Verlag Antje Kunstmann

Der griechische Ökonom Yanis Varoufakis über Griechenlands Zukunft, die sozialen Verwerfungen in seiner Heimat und die deutsche Suche nach einer Strategie für die Euro-Zone

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"Diese Art der Rettung ist unser Untergang", sagt Yanis Varoufakis über das letzte Hilfspaket für Griechenland vom Europäischen Rettungsfonds und dem Internationalem Währungsfonds. Varoufakis ist ein renommierter griechischer Wirtschaftswissenschaftler, der an der Universität von Athen lehrt. Gerade ist sein Buch "Der globale Minotaurus" auf Deutsch erschienen. Die Europäische Union hat, jedenfalls in ihrer gegenwärtigen Form, keine Zukunft, glaubt er: Wegen des faktischen, nur mühsam verschleierten Staatsbankrotts Griechenland und Portugals werden diese Länder wahrscheinlich bald den Euro verlassen müssen.

Nur mit großer Mühe konnte sich die Europäische Union auf das jüngste sogenannte Rettungspaket und einen Schuldenschnitt einigen. Wie lange wird sich ein Staatsbankrott Griechenlands noch aufhalten lassen?

Yanis Varoufakis: Griechenland ist bereits bankrott, das Land kann seine Verpflichtungen nicht bedienen. Bleibt nur die Frage, ob und wann die dominierenden Kräfte in der Union sich dazu entscheiden werden, Griechenland aus der Eurozone auszuschließen.

Diese Entwicklung kann ja eigentlichen niemanden überraschen. Der schwächsten europäischen Nationalwirtschaft wurden durch die "Rettung" 2010 große Summen neuer Schulden aufgehalst und gleichzeitig eine tiefgreifende und allgemeine Sparpolitik verordnet – die natürlich dafür sorgte, dass die Mittel abnehmen, um die Schulden zu bezahlen. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte um 15 Prozent und die Staatsschulden wuchsen um 20 Prozent.

Wenn es um die griechische Staatsschuldenkrise geht, kennt die deutsche Presse eigentlich nur zwei Standpunkte. Der eine lautet: "Wir Deutschen müssen solidarisch sein und Griechenland retten!", der andere: "Wir verschwenden nur Steuergelder, wenn wir den Staatsbankrott aufhalten wollen!"

Yanis Varoufakis: Ich finde es skandalös, dass deutsche Steuerzahler erzählt bekommen, all das wäre ein Akt der Solidarität, während die griechische Regierung wegen der Sparvorgaben nichts unternehmen darf, um die siechende Wirtschaft des Landes anzukurbeln. Am schlimmsten an den sogenannten Rettungspaketen seit 2010 war meiner Meinung nach, dass sie in Wirklichkeit nur den Sinn hatten, dem Finanzsektor zwei Jahre zu schenken, um die faulen Kredite dem staatlichen Sektor aufzuhalsen.

Neue Kredite dienen eigentlich dazu, den tatsächlichen Zustand der nordeuropäischen Banken zu verschleiern. Das heißt konkret: Der insolvente griechische Staat und seine geschundene Bevölkerung machen weitere Schulden, die sie nicht zurückzahlen können, einfach um diese Kredite an die nordeuropäischen Banken weiterzureichen, die ansonsten insolvent wären! Und um dieses Vorgehen politisch durchzusetzen – zum Beispiel im deutschen Bundestag –, müssen die Regierungen der Mitgliedsstaaten zeigen, dass Griechenland neue Kredite auch "verdient", weil es leidet und Opfer bringt und verkauft, was es verkaufen kann.

Letztlich profitiert niemand davon – außer natürlich die großen Anteilseigner der Banken, die durch eine Welle von Bankenpleiten sowohl die Kontrolle als auch ihr Geld verloren hätten, wenn die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds damals nicht eingeschritten wären. Das Geld dafür kommt von deutschen und niederländischen Steuerzahlen, aber es ist weder im Interesse der Bürger des europäischen Nordens, noch der des Südens.

Wie hat sich die soziale Situation in Ihrer Heimat entwickelt?

Yanis Varoufakis: Die Menschen in Athen können kaum über etwas anderes als die Krise reden. Vielen Familien, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, wurde der Strom gesperrt – in der Stadt gehen die Lichter aus. Zahlreiche Geschäfte haben geschlossen und die Ladenbesitzer, die sich noch irgendwie durchschlagen, warten eigentlich nur noch auf das Ende. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 45 Prozent.

Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Die gegenwärtigen Situation in Griechenland entspricht der Großen Depression in den 1930er Jahren. John Steinbeck hat in seinem Epos "Die Früchte des Zorns" die sozialen Verwerfungen durch die Depression in den USA beschrieben. Wäre er noch am Leben, würde er eine neue Version schreiben wollen: eine über Griechenland.

Ende Februar waren Sie in Deutschland, um für den britischen Sender Channel Four einen Dokumentarfilm über die europäische Krise zu drehen. Bei Ihrer Recherche haben Sie auch Interviews mit Vertretern des deutschen Finanzsektors geführt. Welche strategischen Optionen für die Zukunft des Euro werden dort diskutiert?

Yanis Varoufakis: Ich habe wichtige Entscheidungsträger getroffen und bei meinen Gesprächen mit ihnen den Eindruck gewonnen, dass man in Frankfurt der einhelligen Meinung ist, dass Griechenland und Portugal aus dem Euro ausgeschlossen werden müssen, möglicherweise auch Irland, sobald die französischen Präsidentschaftswahlen am 22. April vorbei sind. Gleichzeitig, sagt man dort, soll die Europäische Zentralbank neue Milliarden in den Banksektor pumpen, damit Italien und Spanien in der Union bleiben können.

Die Situation ist verworren

Das überrascht. Glauben Sie wirklich, dass der Rauswurf der Peripherieländer aus der Eurozone dort schon eine beschlossene Sache ist?

Yanis Varoufakis: Nein, ich denke, die letzte Entscheidung ist noch nicht getroffen. Mir scheint es scharfe Gegensätze zwischen mindestens drei Machtzentren in Deutschland zu geben: "Frankfurt", "Berlin" und schließlich die deutsche Industrie. Der "Frankfurter" Finanzsektor plädiert für den Rauswurf Griechenlands und Portugals. Die "Berliner" Staatspolitiker sind aber von dieser Aussicht nicht begeistert, andererseits gehen ihnen langsam die Möglichkeiten aus, weil die Rettungspakete die Staatsschuldenkrise nicht bereinigen. Ich vermute, dass auch Kanzlerin Angela Merkel von diesem Plan nicht überzeugt ist. Sie weiß, dass eine solche Schrumpfkur ihren Preis hätte: Die Euro-Staaten werden dem Finanzsektor nicht nur neue Liquidität zur Verfügung stellen müssen, sondern die Bundesbank und die anderen Zentralbanken Rest-Europas werden auch die Gelder abschreiben müssen, die von der griechischen und portugiesischen Zentralbank im Rahmen des europäischen Clearing–Systems Target 2 gehalten werden. All das wäre ein systemisches Risiko, der Ausgang ungewiss.

Die deutsche Industrie wiederum fürchtet um ihre Exportmärkte, denn sie sieht im Schrumpfen der Euro-Zone einen ersten Schritt hin zu einer Wiedereinführung der Deutschen Mark. Das möchte sie eigentlich vermeiden, aber scheinbar akzeptieren immer mehr Industrievertreter widerwillig diese Aussicht. Kurz: Die Situation ist ziemlich verworren, aber starke Kräfte arbeiten auf dieses Szenario hin.

Wie wird es also Ihrer Meinung nach weiter gehen mit Griechenland und der Europäischen Union?

Yanis Varoufakis: Unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen habe ich keine Hoffnung für die EU. Europa ist in einem Prozess der Zersetzung aufgrund von völlig irrationalen Maßnahmen, die die zentrifugalen Kräfte weiter anregen. Aber wenn die Union auseinanderbricht, dann wird Griechenland nur eines der vielen Opfern einer postmodernen Großen Depression sein.

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