Große Koalition und Piraten im Landtag

Die vorgezogene Wahl im Saarland lieferte keine großen Überraschungen, aber einige bemerkenswerte Ergebnisse

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Das Superwahljahr, das ursprünglich gar keins werden sollte, hat begonnen. Geht von der vorgezogenen Neuwahl im Saarland eine Signalwirkung für die vorgezogenen Urnengänge in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein aus? Nicht unbedingt, wenn die FDP endgültig in der Bedeutungslosigkeit versinkt und sich Rot-Grün gleichzeitig über die Ziellinie rettet. Doch die große Koalition, die sich im Südwesten abzeichnet, könnte ein interessanter Modellfall für die Bildung der nächsten Bundesregierung werden.

Quittung für Machtspielchen

Die Wahlbeteiligung sank am Sonntag auf einen weiteren beunruhigenden Tiefstand. Nur 61,6 Prozent der Saarländerinnen und Saarländer fanden für den Besuch an der Wahlurne einen Platz im sonntäglichen Terminkalender. Die Verantwortung für das politikmüde Desinteresse tragen im Wesentlichen die Parteien, allen voran die mehr oder minder glücklichen Wahlsieger CDU (35, 2 Prozent) und SPD (30,6 Prozent), denen mehrheitsfähige Wunschpartner abhanden kamen.

Das Saar-Debakel von FDP (1,2) und Grünen (5,0) dürfte sich 2013 in dieser Form nicht wiederholen. Dass CDU und SPD mit ihrem etatmäßigen Koalitionspartner keine solide Mehrheit bekommen, liegt dagegen durchaus im Bereich des Möglichen. Ob Linkspartei (im Saarland 16,1) und/oder Piraten (7,4) dann zu Königsmachern werden - ob sie die beiden selbsternannten Volksparteien in eine neue Kooperation auf Bundesebene zwingen, wird spannend zu beobachten sein.

Im Saarland wollten Union und Sozialdemokraten eine Große Koalition absegnen lassen und signalisierten den Wählern deshalb, dass substanzielle Entscheidungen nicht gefragt waren. Es ging um strategische und machtpolitische Weichenstellungen - und in allererster Linie um die Frage: Wer besetzt den Posten der Ministerpräsidentin/des Ministerpräsidenten? Annegret Kramp-Karrenbauer wollte ihn nicht freiwillig räumen, Heiko Maas, nun abermals und zum dritten Mal gescheitert, mochte nicht ohne Not darauf verzichten.

Eine Regierung, die "den großen Herausforderungen des Landes" gerecht werden wolle, brauche "eine Legitimation für fünf Jahre", meinte die Ministerpräsidentin. Die naheliegende Frage, warum man sich diese nicht auch 2014 hätte holen können, blieb offen. Wie so viele andere. Wofür braucht eine Partei, die seit 1999 regiert, eigentlich ein "100-Tage-Programm"?

Kostenfaktor Neuwahlen

Die Kosten für die vorgezogene Neuwahl werden auf rund eine Million Euro geschätzt. Aber dafür bekommt man nur Wahlzettel, Kugelschreiber, Wahllokale und Wahlhelfer. Für die Wahlkampfkostenerstattung der Parteien müssen die Steuerzahler ebenfalls geradestehen, und dann sind da auch noch die Pensionsansprüche der geschassten Jamaika-Minister.

So haben die vier saarländischen Minister von FDP und Grünen, die wegen des Scheiterns der Jamaika-Koalition (…) trotz ihrer vergleichsweise kurzen Amtszeit von nur rund 2 Jahren bereits ab 60 Jahren Anspruch auf rund 1.700 Euro Pension monatlich. Ein Durchschnittsverdiener müsste für die gleiche Summe mehr als 60 Jahre in die Rentenkasse einzahlen. Außerdem haben die vier Minister trotz ihres nur zweijährigen Intermezzos in der Saarbrücker Landesregierung bereits Anspruch auf zwei Jahre Übergangsgeld von rund 152.000 Euro.

Report Mainz, 24.01.2012

Unter diesen Umständen kann sich der gerade zitierte Durchschnittsbürger gut vorstellen, wer von einer "Legitimation für fünf Jahre" noch mehr profitiert als das Saarland ...

Gute Arbeit, faire Löhne und ein teures Museum

Angesichts von fast 13 Milliarden Euro Schulden müssen allerdings auch Kosten gespart werden. Die Saar-SPD, die sich weit größere Chancen ausgerechnet hatte, als am Ende in Prozentzahlen umgemünzt werden konnte, lieferte für diesen Aufgabenbereich einen ebenso unfreiwilligen wie gedankenlosen Kompetenznachweis. Vorbei die Zeiten, da sich die Partei achselzuckend mit dem Vorwurf abfand, "Sozis" könnten eben nicht mit Geld umgehen.

Für den Wahlkampf im Saarland holten die Sozialdemokraten ein offenkundig attraktives Angebot von einer Druckerei in Berlin ein, die wiederum mit einer Druckerei in Polen zusammenarbeitete, in der die Arbeiter nach Berechnungen der Gewerkschaft ver.di rund 30 Prozent weniger verdienen als ihre deutschen Kollegen. Wenn auf den SPD-Plakaten wenigstens nicht "Gute Arbeit. Faire Löhne." gestanden hätte …

Dem künftigen Koalitionspartner machte derweil ein Kunsttempel zu schaffen. Der "4. Pavillon" des Saarland-Museums wurde ursprünglich mit neun Millionen Euro veranschlagt, doch mittlerweile haben sich die Kosten mehr als verdreifacht. Der kleine Bruder der Hamburger Elbphilharmonie brachte die Ministerpräsidentin in arge Erklärungsnot, denn sie war während der Planungs- und Vorstellungsphase die verantwortliche Kultusministerin.

Knapp zwei Wochen vor der Wahl musste Annegret Kramp-Karrenbauer vor dem Untersuchungsausschuss Stiftung Saarländischer Kulturbesitz - Bau des IV-Museumspavillons aussagen, doch ein medienwirksamer Schlagabtausch mit der SPD blieb aus naheliegenden Gründen aus.

Oskar, der Meister

Was nach einem vergessenen Rührstück des 19. Jahrhunderts klingt, ist die Selbstbeschreibung des Vorsitzenden der drittstärksten Partei. Die LINKE holte mit Oskar Lafontaine und, das sei zugegeben, sicher vor allem wegen Oskar Lafontaine, beachtliche 16,1 Prozent, die sicher keine Signalwirkung haben.

Der ehemalige Ministerpräsident, der plakativ an seinen mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Einsatz für den Saarstahl-Konzern erinnerte und eine Millionärssteuer von 75 Prozent forderte, blieb den Nachweis schuldig, dass er noch in der Lage ist, die Zeichen der Jetztzeit zu erkennen und richtig zu deuten. Auf die Frage, warum er seinen ehemaligen, inzwischen 45-Jährigen Staatssekretär ständig als "Lehrling" tituliere, antwortete Lafontaine:

Das ist eine Retourkutsche auf seine Aussage: Die Linke und ich seien nicht regierungsfähig. Da musste ich ihm doch sagen, dass es undankbar ist, wenn der Lehrling dem Meister sagt, er hätte das Handwerk verlernt.

Oskar Lafontaine

Womit wir denn wieder im 19. Jahrhundert wären. Eine bedenkliche geistige Unbeweglichkeit kennzeichnet auch das Wahlproramm der Linkspartei, das holzschnittartig über sämtliche Urnengänge der Republik gezogen wird. Bei spontaner Veränderung der geographischen Gegebenheiten, versteht sich. Doch die permanente Einforderung der sozialen Gerechtigkeit muss eben auch mit konkreten Inhalten gefüllt werden.

Dass Lafontaines Dauerangebot einer Koalition mit der SPD noch angenommen wird, ist unwahrscheinlich. Nicht nur wegen der persönlichen Animositäten der beiden Spitzenkandidaten (und weil Heiko Maas keinesfalls einen zweiten Fall Ypsilanti produzieren will). Die Linkspartei lehnt die von der roten Konkurrenz für notwendig erachteten Spaßmaßnahmen, inklusive der Schuldenbremse, rigoros ab.

"Definitionsmacht Baby!"

Vor 20 Jahren hätten die Piraten schon aus organisatorischen Gründen keine realistische Chance gehabt, überhaupt an der kurzfristig anberaumten Wahl teilzunehmen. 2012 aber reichten den gut vernetzten Außenseitern wenige Wochen, um Kreisverbände und Spitzenkandidaten zu finden, ein konkurrenzfähiges Wahlprogramm zu erarbeiten und ganz eigene Akzente zu setzen.

Wie etwa das "Socialising Event", das französische, luxemburgische und österreichische Piraten zu einem Meinungsaustausch nach Saarbrücken führte. Auch Ur-Pirat Rick Falkvinge schaltete sich per Video in den Wahlkampf ein.

Derweil wurden aus dem fernen Berlin erhebliche Selbstzweifel laut. Den Kollegen im Saarland schadeten sie nicht, aber viele Fragen des Abgeordneten Christoph Lauer werden klar beantwortet werden müssen, wenn die Piraten ihre Erfolgsserie fortsetzen wollen. Der aktuelle Triumph erleidet durch mögliche Zukunftsszenarien allerdings keinen ernsthaften Abbruch: "Wir haben Nichtwähler gewonnen, darüber freuen wir uns am meisten", meinte ein Pirat mit Blick auf die desaströse Wahlbeteiligung.

Neu wählen oder gleich abschaffen?

Historisch sind diese Tage wohl nicht, denn kein Beobachter hörte bei den politischen Entscheidungen, die im März 2012 in Deutschland getroffen wurden, den Mantel der Geschichte rauschen. Eigentlich flatterte er nicht einmal. Und doch offenbarte sich eine nachgerade unheimliche Parallelität der Ereignisse. Denn während im kleinen Saarland gewählt und im großen Berlin der neue Bundespräsident gekürt wurde, tauchten hier und dort substanzielle Zweifel an der Notwendigkeit des einen oder anderen auf. Braucht Deutschland einen Bundespräsidenten (Die unendliche Diskussion über Gauck), und braucht Deutschland das Saarland?

Keiner weiß es so genau, auch wenn die Umfragemehrheit ein knappes "Ja" zu präferieren scheint. Doch was wird aus dem knappen "Nein"?

Wie verändert sich das politische System der Bundesrepublik, wenn immer mehr Wählerinnen und Wählern, Grundsatzentscheidungen der Nachkriegszeit auf den Prüfstand des 21. Jahrhunderts stellen und zu der Feststellung kommen, dass sich Einrichtungen der föderal strukturierten, parlamentarisch organisierten, von einem Staatsoberhaupt bewachten Demokratie ganz einfach überholt haben?

Dann wird die Sachlage noch komplexer als sie jetzt schon ist. Das wäre unproblematisch oder vielleicht sogar eine Chance für die Zukunft, wenn die gesellschaftlichen Akteure konstruktiv auf die neuen Sachverhalte reagieren würden. Ob die Parteien nebst ihren Mandats- und Verantwortungsträgern diese Transferleistung erbringen können, darf allerdings bezweifelt werden. Im Saarland (und in der Bundesversammlung) wehrten sie sich jedenfalls vehement gegen die Zumutung, die eigene politische Bedeutungsschwere zu hinterfragen.