Piraten: Arrogante Nichtwisser?

Die Kritik an den konzeptionslosen Piraten übersieht, dass wir im postideologischen Zeitalter angekommen sind

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Der Erfolg der Piraten erstaunt und macht manche wütend, die sich als bessere und kompetentere Menschen wähnen, zumal wenn sie der untergehenden FDP nahestehen. Schön ist beispielsweise die Attacke von Ulf Poschardt schon an der Kleidung der Piraten, das an frühere Jahrzehnte erinnert, als selbiger auch noch jünger war. Tatsächlich hat man angesichts der vielen mehr oder weniger jungen Langhaarigen und Bärtigen den Eindruck, dass nun erneut die Hippies als Postgrüne, also die Technohippies, auf die politische Bühne drängen und endlich die Yuppies - und damit die Liberalen und Co. - beiseite schieben.

Poschardt kritisiert etwa den im Saarland gewählten Michael Hilberer, weil er nicht einmal "in der Wahl ihrer Garderobe dem Souverän Wähler (seine) Wertschätzung" am Wahlabend im Fernsehen demonstrierte. Poschardt sagt allerdings dazu "kommunizieren", was eigentlich heißt, man vermittelt etwas, um manipulativ einen bestimmten Eindruck zu erzeugen. Hilberer "kommunizierte" also mit einem schwarzen Sweatshirt. Aber was? Dazu sagt der konservativ-liberale Poschardt leider nichts. Warum müssen sich Männer in Anzug und Krawatte hüllen, um Seriosität zu "kommunizieren"? Das machen freilich auch Korrupte, Ganoven und Diktatoren.

"Unschuldig-modern" nennt Poschardt das Auftreten der Piraten, obgleich sie nur das machen, was die bürgerliche Revolution immer schon angetrieben hat, nämlich den Schein und die Maskerade hinter sich zu lassen. Das führt in viele Schwierigkeiten, weswegen die bürgerliche Klasse diesen Impetus längst in neuen Normen und auch Kleidungsregeln hinter sich gelassen hat, die gleichwohl antiquarisch geworden sind. Hilberer hat sich vermutlich etwas frisch Gewaschenes angezogen, aber etwas, das ihm entspricht, in dem er sich wohlfühlt, in dem er nicht etwas anderes "kommuniziert". Er tritt als Person auf, nicht als Maske. Just das ist sicherlich etwas, was die Piraten, vor allem nach dem Debakel der liberalen Boygroup, sympathisch macht.

Der größere Vorwurf aber ist, dass die Piraten immer wieder gerne ihr Transparenz-Mantra vor sich her tragen und sich ansonsten ganz sokratisch zufrieden zeigen, dass sie wenig von der Politik wissen und kaum irgendwelche Lösungen für die große Probleme haben, aber auch nicht so tun wollen, als wüssten sie Bescheid. Offensiv würden die Piraten "die eigene Rat- und Ideenlosigkeit zur Schau" stellen: "Der Mann mit den langen Haaren und dem dünnen Kinnbart war stolz auf die eigene Sprach- und Kompetenzlosigkeit. Denn die Profis, gemeint waren Vertreter der Union, der Sozialdemokratie, der Grünen und der Linken, würden es ja auch nicht besser machen."

Man hätte nun eine kurz Andeutung dessen erwartet, was die derart verteidigten etablierten Parteien besser als die Piraten mit ihrem "schmalspurigen Programm" machen. Aber Fehlanzeige. Da herrscht nur der Reflex der Etablierten, die fürchten, von ihrem Thron gestoßen zu werden. Dazu gehören auch Journalisten, die von der Zeit überholt werden könnten.

Die Piraten sind tatsächlich ein politisches Phänomen. Auch wenn sie mit Internet- und Bürgerrechtsthemen angetreten sind, zeichnet sie vor allem aus, dass sie keine gemeinsame Ideologie haben, sie sind postideologisch. Sie wollen eine andere Gesellschaft, eine andere Zukunft, aber sie haben keinen Fahrplan und kein vorgegebenes Ziel.

Während Grüne, Linke, SPD und FDP noch im ideologischen Zeitalter, Linke, SPD und FDP auch noch in dem des Kalten Krieges, festhängen, haben Piraten und die Union zumindest eines gemeinsam: das Fehlen einer politischen Utopie, einer großen Vision. Die Union will irgendwie das bestehende System so weiterführen, die Piraten haben auch noch kein Ziel, aber hier bewegt sich etwas. Man sieht sich mehr am Punkt Null. Es gibt Spielregeln, die aber sind veränderlich. Also steht man wie ein Maler auf dem Hintergrund einer langen Tradition vor einer weißen Leinwand - und hat das Problem, schnell die Maler bestimmen und die Entwürfe konkretisieren zu müssen. Das reale Leben ist nicht wirklich Kunst oder auch kein virtueller Raum, Entscheidungen stehen an, die lange Folgen haben können, aber unüberschaubar sind. Und auch wenn nicht entschieden wird, ist dies eine Entscheidung.

Diese Utopielosigkeit bei der gleichzeitigen Lust, etwas verändern zu wollen, ist eigentlich erfrischend. Und so ist das auch mit den Kandidaten, die holterdipolter ins Rennen geschickt werden oder sich schicken lassen, um dann in der rauen Realität des politischen Alltags aufzuwachen. Das wird viele überfordern, wie dies jetzt schon der Fall ist, wird manche verformen und, falls die Piraten dies schaffen sollten, zu neuen Parteistrukturen und -ritualen führen, wie man dies auch bei den Grünen beobachten kann.

Aber, wie auch immer, die Piraten sind ein neuer Wind in der Parteiendemokratie. Selbst wenn es bald zu Ende sein sollte, sind sie ein Exempel dafür, dass sich etwas verändern lässt, dass das herrschende Parteiensystem nicht festgefügt ist, dass sich Partizipation lohnt. Poschardt scheint auf einem vertrocknetem Planeten zu leben. Gott sei Dank ist es nicht die Erde.