Für eine politische Ökologie der Sachzwänge

Inventionen setzten sich nicht von alleine durch

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Sebastian Nerz, der Bundesvorsitzende der Piratenpartei, äußerte sich am 19. März 2012 an einem unerwarteten Ort zu einem unerwarteten Thema: In der Online-Ausgabe der FAZ gab er den Anstoß für eine Debatte über Nachhaltigkeit. So erfreulich es ist, dass auch die Piraten sich dieses Themas annehmen, so gab der Beitrag doch Anlass zu mehreren kritischen Repliken von Nachhaltigkeitsforschern (André Reichel, Horst Meierhofer), aus der SPD (Christian Soeder) und von Bündnis 90/Die Grünen (Jörg Rupp). Ich möchte diese Debatte zum Anlass nehmen, über die besondere Schwierigkeit nachzudenken, die Nachhaltigkeit, ernst genommen, für eine Politik diesseits der Utopie bedeutet.

Klar ist dabei: Die mehr oder weniger süffisante Feststellung, dass sich die Piraten hier – wenn auch mit wenig Tiefgang – dem common sense annähern, dass unsere planetaren Ressourcen endlich, unser Wachstum begrenzt und unserer Lebensweise nicht nachhaltig ist, die muss nicht noch ein weiteres Mal getroffen werden. Vielmehr ist es erstaunlich, dass es überhaupt noch möglich ist, diesen individuellen Lernprozess als Neuigkeit zu verkaufen, so wie es der Vorsitzende der Piraten macht. Wir befinden uns nicht nur, worauf André Reichel dankenswerterweise hinweist, im Jahr 40 nach dem Erscheinen der „Grenzen des Wachstums“, sondern auch im Jahr 20 nach der Rio-Konferenz und im Jahr 25 nach dem Erscheinen des Brundtland-Berichts. Um es genauer zu sagen: im Jahr 2012. Noch seltsamer wirkt es, wenn diese scheinbare Neuigkeit dann noch mit dem Anstrich des Tabubruchs verkündet wird.

Voraussetzungsloser Neuanfang oder energetische Sanierung eines planetaren Altbaus?

Was ist Sebastian Nerz‘ Schlussfolgerung aus der Entdeckung der Nachhaltigkeit? Er möchte einen Schlussstrich ziehen, tabula rasa machen und dann? Lernen, mit weniger zufrieden zu sein, und die notwendigen Reformen angehen. An diesem Bild ist nicht nur die Gleichsetzung von Nachhaltigkeit und Verzicht schief, sondern auch die – wir Grünen haben das recht mühsam gelernt – Idee des radikalen Wechsels. Wer sollte denn bitte in dem komplexen Abhängigkeitsgebilde des Politischen die Macht haben, einen solchen Schlussstrich zu ziehen, und das System neu aufzusetzen? Ökodiktatorinnen sind 2012 so wenig gefragt wie 1980. Und überhaupt: Wollten die Piraten sich nicht als freiheitliche Alternative, als echte liberale Konkurrenz zur FDP positionieren? Ehrlichkeit und Wahrheit einzufordern, klingt da zunächst einmal gut. Aber – noch so ein grüner Lernprozess – das Bewusstsein dafür, das etwas falsch läuft, das reicht nicht aus, damit es zu politischer Veränderung kommt.

Bereits in den ersten Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen Ende der 1970er Jahre wird die Lücke zwischen Umweltbewusstsein und Umwelthandeln thematisiert. Dass es diese Lücke gibt, wird empirisch immer wieder bestätigt, in den Meinungsbefragungen, die den alle zwei Jahre erscheinenden Studien des Umweltbundesamtes zum Stand des Umweltbewusstseins zugrunde liegen ebenso wie in zahlreichen psychologischen, soziologischen und ökonomischen Abhandlungen. Dass „die Umwelt“ ein wichtiges Problem ist, das wird dann doch von vielen so gesehen; auch das schöne Schlagwort „Nachhaltigkeit“ ändert daran wenig. Konkret abgefragte Handlungsalternativen zeigen dann aber, dass ein an dieser Einsicht orientiertes Handeln in den wenigsten Fällen konsequent stattfindet. Darüber lässt sich trefflich polemisieren. Das geht einem mit dem neuen ökologischen Lebensstil der in die Jahre gekommenen Gründergeneration meiner Partei („Fünf Mark für den Liter Benzin, aber zweimal im Jahr mit dem Flugzeug in den Urlaub …“) geht einem das ebenso locker von der Hand wie mit den urbanen Anhängerinnen und Anhängern des Lifestyle of Health and Sustainability, Marke LOHAS. Aber auch diese Welle des green glamour ist ja schon wieder am Abschwingen. Umgekehrt hilft die Feststellung, dass rein objektiv betrachtet Rentnerinnen aus kleinen Verhältnissen am umweltsparsamsten und damit letztlich am nachhaltigsten leben (müssen), nun politisch auch nicht wirklich weiter.

Spannend und im eigentlichen Sinn politisch wird die Nachhaltigkeitsdebatte erst, wenn angesichts dieser Erkenntnisse die große Frage danach gestellt wird, wie denn dann das Steuerruder umgeworfen werden könnte, oder, um ein Bild zu finden, das weniger nach tabula rasa klingt, die große Frage danach, wie denn die Industriegesellschaft umgebaut werden kann.

Daran wird geforscht und darüber wird in Wissenschaft und Politik seit Jahrzehnten nachgedacht. Eine einfache Antwort gibt es nicht. Beziehungsweise, die einfache Antwort heißt: In Zeiten des Klimawandels, auf einem globalen Entwicklungspfad zu immer stärker am euroamerikanischen gehobenen Mittelstand orientierten Konsumverhalten, muss eben einfach alles probiert werden, koste es, was es wolle. Also Suffizienz, Effizienz, Konsistenz im Parallelbetrieb. Faktisch passiert dann trotzdem deutlich weniger. Wir wissen heute ziemlich genau, wie sehr „wir“ über „unsere“ Verhältnisse leben, und wir wissen auch, welche Handlungsfelder davon besonders betroffen sind. Es gibt eine ganze Reihe kluge Ideen, um jenseits der utopischen Hoffnung auf Einsicht zu einem Umbau beizutragen. Einige davon sind offensichtlich anschlussfähig an existierende wirtschaftliche und politische Pfade – der Katalysator, also Regulation. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Ökosteuer, die politische Förderung und Sichtbarmachung des Umweltverbrauchs von Wohnungen und Lebensmitteln. Das ganze Programm des Green New Deal mit seiner attraktiven Verknüpfung von Ökonomie und Ökologie. Standortweltmeister zu sein, diese Logik ist auch für die Solar- und Windenergie anschlussfähig. Oder überhaupt: Mal der ganzen Welt zu zeigen, wie so ein Atomausstieg geht – prima Weltmarktführerschaft.

Till Westermayer. Foto: Grüne baden-Württemberg.

Andere Ideen sind aus unterschiedlichen Gründen sehr viel schwerer einspeisbar in Politik (schön, dass der Bundestag sich in der Enquête zu Wachstum und Wohlstand zumindest ein bisschen damit auseinandersetzt). Da geht es nicht nur um Mehrheitsverhältnisse in Parlamenten und in der Gesellschaft, sondern ebenso um Umbauprobleme. Das Haus der Gesellschaft auf den neusten Stand zu bringen, würde an der einen oder anderen Stelle drastische Maßnahmen erfordern – im laufenden Betrieb. Und dann diese Inkompatibilitäten, die ganze alte soziale wie technische Infrastruktur, die rausgerissen werden müsste!

Eine solche Idee ist die Halbtagsgesellschaft, gerne kombinierbar mit einem Grundeinkommen. Also kurz: Produktivitätswachstum durch Rationalisierung auch in Zeitersparnis umzusetzen, statt ständig steigende Überstunden und brüchig werdende Trennlinien zwischen hochflexibler Arbeit und berufsoptimiertem Privatleben. Alle arbeiten bezahlt weniger, nehmen damit Druck aus dem System, erhalten aber die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Nun überschüssige Zeit geht in das, was so schön „Ehrenamt“ heißt, und faktisch noch heute oft Ausbeutung der Frauen ist: Familienarbeit, Pflege, soziales und gesellschaftliches Engagement. Auch mehr Zeit für politische Beteiligung und für die eigene Entwicklung.

Eine Gesellschaft, die ihre Arbeit so organisiert, wäre nachhaltiger und würde wohl auch stärker dem Ideal entsprechen, Glück nicht über ein Mehr an materiellem Konsum zu erreichen. Für mich eine schöne Utopie. Realpolitisch gesehen aber eine, die – selbst wenn „wir alle“ sie wollten – kaum in Gesetzesform zu gießen ist, weil sie quer zu allen lang etablierten Pfaden steht. Soviel zu Ehrlichkeit und Wahrheit in der Politik.

Wir haben also, wenn wir berücksichtigen, dass wir in einem eingerichteten Altbau leben, einiges vor uns, wenn der (im Übrigen durchaus wohldefinierte) Zielzustand der Nachhaltigkeit tatsächlich erreicht werden soll. Der ständige Appell an die Einsicht steigert das Umweltbewusstsein („Umdenken!“), trägt zwar dazu bei, möglicherweise auch diskursiv dominante Nischen der Nachhaltigkeit aufzubauen (in denen es sich schön leben lässt, sage ich als Freiburger), ändert global und gesamtgesellschaftlich betrachtet aber wenig in der Ökobilanz.

Auf der anderen Seite ist der große politische Pendelumschwung ebenfalls nicht zu erwarten, jedenfalls nicht ohne weiteres. Und es wäre fatal, hier auf die nächste Katastrophe zu setzen, in der Hoffnung, dass dann schnell der richtige Weg eingeschlagen wird.

Die unsichtbaren Fäden, an denen unser Handeln hängt

Warum ist der sozial-ökologische Fortschritt trotz Einsicht eine Schnecke? Auch wenn jeder darüber Bescheid wüsste, dass „Kleider, Kaffee, Schokolade, Nutella, Kohle, Fußbälle und was weiß ich noch alles aus ausbeuterischer Kinderarbeit“ stammt, würde es nicht dazu kommen, dass keiner mehr „dieses Zeugs“ kaufte, wie es Jörg Rupp formuliert. Das eine ist das ökonomische Argument: Das verfügbare Budget schränkt die Wahl bei vielen ein, oder lässt viele, um es vorsichtig auszudrücken, zumindest den Eindruck haben, keine Wahl zu haben. Vielleicht liegt es daran, dass ich Soziologe bin, aber mir erscheint das zweite Argument stärker, das Argument der Macht der Gewohnheit und der Bequemlichkeit, das große Problem des nachhaltigen Konsums. Soziologisch gesprochen geht es um soziale Praktiken und die damit verbundenen soziotechnischen Strukturierungen. Wir lernen als Gesellschaft ständig, unsere Praktiken neuartigen Strukturen anzupassen. Jörg Rupp verweist hier darauf, dass „wir einst gelernt haben, […] die Batterien nicht in den Hausmüll zu schmeißen“. Diese Anpassungsleistungen finden jedoch nicht aus Einsicht heraus statt, sondern ist extrem voraussetzungsreich.

Bleiben wir einen Moment bei den Batterien. Um zu erreichen, dass wir alle diese nicht in den Hausmüll werfen, gibt es ein komplexes Instrumentarium. Es gibt gesetzliche Vorschriften. Es gibt einen Diskurs darüber. Das Thema, in welchen Müll Batterien gehören, wird in Umweltratgebern und bei Haushaltstipps behandelt. Anleitungen von Geräten und Batterien selbst tragen Symbole, die darauf hinweisen, dass diese nicht in den Hausmüll gehören. Es gibt speziell eingerichtete Sammelstellen und dafür entwickelte Container bei Elektrogeschäften. All das dient dazu, uns das Wissen einzubläuen, das Batterien nicht in den Hausmüll gehören, und in unser automatisiertes Handlungsrepertoire ein Innehalten einzubauen, bevor die Batterie in den Mülleimer fliegt.

Nebenbei bemerkt: Dieses Geflecht auseinander zu drösseln, wäre eine nette Aufgabenstellung für eine Latourianische Abschlussarbeit.

Faktisch – so informiert das Umweltbundesamt im Jahr 2006, und es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass sich hieran etwas geändert hätte – landen zwei Drittel der pro Jahr verkauften Gerätebatterien (2006 über eine Milliarde) weiterhin im Hausmüll, setzen dort Schadstoffe in die Umwelt frei und entziehen sich dem großen Recyclingkreislauf.

Mit dem Ziel Nachhaltigkeit vor Augen muss einen diese Zustandsbeschreibung pessimistisch stimmen. Einfache Lösungen liegen nicht auf der Hand. Um noch einmal bei diesem Beispiel zu bleiben: Gerade der Boom tragbarer Kommunikationselektronik in den letzten Jahren – iPods, iPads, iPhones und die entsprechenden Produkte der Konkurrenz – dürfte das Problem, dass Akkus und Batterien nicht korrekt entsorgt werden, noch einmal deutlich vergrößert haben. Und selbst wenn es nicht die Akkus sind: Auch Mobiltelefone landen allen Werbekampagnen und Umtauschanreizen zum Trotz heute nur zu einem Bruchteil im Recycling. Seltene Erden und andere nur begrenzt verfügbare Rohstoffe verschwinden in Schubladen oder in der Umwelt.

Andererseits zeigt der Boom des Mobiltelefons und neuerdings des Smartphones sehr deutlich, dass die sozialen Strukturen, in denen unser Handeln, unsere Alltagspraktiken stattfinden, sich sehr schnell ändern können. Und dass wider „besseres“ Wissen – der dominante Diskurs, der die gesellschaftliche Verbreitung des Mobiltelefons begleitete, war einer des doppelten Risikos: Das „Handy“ als Risikofaktor für die Kommunikationskultur ebenso wie für die Gesundheit. Und trotzdem hat es sich durchgesetzt und ist heute in mehr als vier Fünfteln aller Haushalte zu finden. Warum?

Weil es sich zunächst einmal nahtlos und bequem in existierende Praktiken eingepasst hat, und weil es Bedürfnisse befriedigt hat, die durch vorher existierende Techniken nicht so recht erfüllt werden konnten. Bedürfnisse, die sich mit dem Mobiltelefon gemeinsam ausdifferenziert und entwickelt haben – beispielsweise die mit wachsenden Vereinbarkeitswünschen und -notwendigkeiten ebenso zunehmende Wichtigkeit, Familie von „irgendwo“ aus koordinieren zu können, oder, um ein zweites Beispiel zu nennen, die mit einer Flexibilisierung beruflicher Zeit- und Ortskonstellationen zunehmende Bedeutung, beruflich erreichbar zu sein. Beides – die neuen sozialen Konstellationen und die Technik Mobiltelefon – haben sich wechselseitig gestärkt und unentbehrlich gemacht. Ich will hier gar nicht auf Tarifsysteme und Werbemaßnahmen eingehen, die vielleicht ebenso dazu beigetragen haben. Spannend für die Nachhaltigkeitsdebatte ist das Netz, dass das Mobiltelefon im Re-Arrangement dieser Praktiken gesponnen hat: Persönlich erreichbar zu sein, etwa per SMS, funktioniert am besten, wenn alle Freunde, Bekannte, Gesprächspartnerinnen ebenso erreichbar sind. Kein Mobiltelefon zu haben, und sei es auch aus Angst um die eigenen Gesundheit, wird diesseits des Rentenalters zum Problem. Ganz ähnlich etablieren Facebook, Twitter und das Smartphone gerade ein neues soziotechnisches Netzwerk, das bequem erscheint und einen Verzicht darauf begründungsbedürftig, ja buchtitelreif erscheinen lässt.

Das Beispiel Mobiltelefon zeigt sich, dass sich unsere Alltagspraktiken unter bestimmten Voraussetzungen – Verfügbarkeit, attraktive Tarifmodelle, „Passung“ in existierende Handlungsweisen – in kurzer Zeit rasant verändern können. An öffentlichen Orten zu telefonieren, weckt keine Verwunderung mehr. Große gesellschaftliche Institutionen wie die Erwerbsarbeit verändern sich im Zuge der Durchsetzung dieser Technik, neue entstehen oder verschwinden.

Schafft ein, zwei, viele Sachzwänge!

Veränderung ist also möglich. Aber lässt sich diese auch gestalten? Was braucht es, um dem Ziel Nachhaltigkeit näher zu kommen? Aus meiner Sicht – und ich lehne mich hier zum Teil an Ideen des Münchener Umweltsoziologen Karl-Werner Brand an – sind es drei Dinge: Inventionen, Gelegenheitsstrukturen und so etwas wie eine übergreifende Aufmerksamkeit, vielleicht auch ein gesellschaftliches Leitbild.

Inventionen, also Erfindungen, beziehen sich auf den technischen wie auf den sozialen Bereich, betreffen also auch Politik und Wirtschaft. Das Mobiltelefon ebenso wie die Solarzelle, das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ebenso wie die Idee, Bäume als Kapitalanlage zu nutzen, sind solche Erfindungen.

Inventionen setzten sich nicht von alleine durch. Notwendig dafür sind Gelegenheitsstrukturen. Das können sowohl Ereignisse sein (Katastrophen wie Fukushima oder die BSE-Krise, Regierungswechsel, Marktsituationen oder im persönlichen Bereich etwa der Wechsel von der Kinderlosigkeit in die Elternschaft) als auch längerfristige Verschiebungen und Konstellationen – etwa neuartige Bedürfnisse als Folge sozialen Wandels, die Flexibilisierung der Berufswelt beispielsweise, oder auch die Wellen von Modetrends, Stichwort LOHAS.

Wenn sich ein solches Handlungsfenster ergibt und auf passende Erfindungen stößt, dann kann dies dazu genutzt werden, die weicher gewordenen Arrangements sozialer Praktiken zu verschieben, die Invention einzubauen, das ganze wieder zu schließen und zu härten – und es in einen sich nach Möglichkeit selbst verstärkenden Prozess zu entlassen. Das Biosiegel lässt sich ebenso rekonstruieren wie das bereits angesprochene EEG. Um bei letzterem zu bleiben: ein Regierungswechsel eröffnet die Möglichkeit, politische und technische Ideen zusammenzubringen, durch neue Gesetze, neue Anreizstrukturen und in der Folge beispielsweise auch neue Berufsbilder die Keimzelle für einen kleinen Strukturwandel zu setzen. Verschiedene Akteure passen ihr Handeln, ihre Strategien, an diese neuen Möglichkeiten an und stärken diese zugleich damit. Es bilden sich Lobbyverbände, wirtschaftliche Interessen, neue Statussymbole heraus. Photovoltaik wird aus einer kleinen Tüftler-Nische zum Industriezweig. Entsprechend groß ist bei den radikalen Kappungen im Solarbereich jetzt der Aufschrei, entsprechend schwierig ist es, den Prozess der Energiewende zu stoppen, und entsprechend schroff dürfte ein Abbruch ausfallen.

Als letztes Element, um in Richtung Nachhaltigkeit umzusteuern, um das Chaos des Umbaus einigermaßen zu ordnen, habe ich die Bündelung und Generierung von Aufmerksamkeit genannt – als Katalysator, um Gelegenheitsstrukturen und Inventionen zusammenzubringen und es wahrscheinlicher werden zu lassen, dass ein Themenfeld – wie hier die Umorientierung der Gesellschaft in Richtung sozialökologischer Nachhaltigkeit – nicht über den Rand des Diskurses hinabstürzt. Soziale Bewegungen, politische Parteien und Lobbyverbände sind typische Akteure der Bündelung und Generierung von Aufmerksamkeit; solange Massenmedien sich selbst als Kampagnenverstärker betätigen, gilt gleiches für diese.

Hier lag und liegt meiner Meinung nach die historische Rolle der Umweltbewegung und der aus den Bewegungen entstandenen grünen Partei. Um nicht falsch verstanden zu werden – damit möchte ich nicht für einen Monothematismus plädieren, ganz und gar nicht. Selbst wenn grüne Politik sich auf das Konzept der Nachhaltigkeit beschränken würde, wäre sie nicht monothematisch: soziale und ökologische Nachhaltigkeit, inner- und intergenerationelle Gerechtigkeit – allein das bietet schon den Themenbaukasten für eine Partei.

Damit Gelegenheitsstrukturen als solche erkannt werden, damit ein Problem „am Köcheln“ bleibt, auch wenn die Modewellen gerade anderswohin platschen, ist die permanente Generierung von Aufmerksamkeit in den unterschiedlichen Arenen der jeweiligen Akteure notwendig. Das können Demonstrationen sein, aber auch parlamentarische Anfragen, Lobbygespräche ebenso wie der Vorbildcharakter des eigenen Lebens. Vielleicht sogar noch schwieriger – aber dennoch nicht weniger wichtig – ist es, gebündelte Aufmerksamkeit für ein Thema durch Phasen zu retten, in denen alle dafür sein wollen, wo alle darüber reden. Denn irgendwer muss Angela Merkel und Sigmar Gabriel ja daran erinnern, dass der Lebensraum der Eisbären sich auch dann weiter verkleinert, wenn die Demoskopie den Fokus anderswo sieht.

Umweltbewegung und Grüne machen dies seit mehr als 30 Jahren. Wir lauern auf die nächste Gelegenheitsstruktur, um dann ein paar weitere Pflöcke einzurammen – idealerweise so, dass auch das darauf aufbauende Arrangement sozialer Praktiken die jeweils nächste Wahl überlebt. In diesem Sinne bleibt beispielsweise der baden-württembergischen Landesregierung gar nichts anderes übrig, als zu versuchen, Baden-Württemberg auch zu einem Musterland der Nachhaltigkeit zu machen.

Das heißt nun wiederum natürlich nicht, dass Nachhaltigkeit ein Thema allein von Bündnis 90/Die Grünen ist oder sein kann. Nur: Wer es ernsthaft versucht, Nachhaltigkeit voranzubringen, und wer dabei nicht auf den reinen Tisch setzt, sondern auf die Unordnung, die eine Renovierung nun einmal mit sich bringt – wer also ernsthaft an der Umsetzung von Nachhaltigkeit in politisches Handeln arbeitet, muss früher oder später auch über seine Wirtschaftspolitik, seine Sozialpolitik, seine Bürgerrechtspolitik nachdenken. Ohne bleibt es bei der wohlfeilen Rhetorik der ganz großen Koalition.

Till Westermayer ist Länderratsdelegierter der baden-württembergischen Grünen und Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaft, Hochschule, Technologiepolitik.

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