Revolutionen sind Pop

Bilder: StudioCanal Deutschland

"Die Tribute von Panem" läuft in den deutschen Kinos ausgesprochen erfolgreich

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In den USA hat der erste verfilmte Teil von Suzanne Collins Romantrilogie Die Tribute von Panem für den dritterfolgreichsten Start in der dortigen Kino-Geschichte gesorgt. Auch in Deutschland hat der Film in der ersten Woche 370.000 Besucher in die Kinos getrieben - und zwar vollkommen zu Recht.

Jugendmord als Reality-Show

Nachdem die USA von verschiedenen Naturkatastrophen und Bürgerkriegen heimgesucht wurde, hat die siegreiche Oberschicht den Militärstaat Panem gegründet. Er besteht aus dem reichen und dekadenten Capitol und dreizehn Distrikten, deren Ressourcen zum Wohle der "happy few" gnadenlos ausgebeutet werden. Um der niedergehaltenen Bevölkerungsmehrheit den Mut für weitere Aufstände zu nehmen, veranstaltet das Regime Jahr für Jahr sogenannte "Hungerspiele", in denen jeweils zwei ausgeloste Teenager beiderlei Geschlechts aus den Distrikten ohne Wasser und Nahrung in einem bestimmten Naturareal auf Leben und Tod gegeneinander antreten müssen. Diese postmodernen Gladiatorenkämpfe werden vom Fernsehen übertragen und als Reality-Show zelebriert - den Massen zur Warnung, den Privilegierten zum Amüsement. Dem Sieger winkt eine Rente und Ruhm.

Publikums- und Sponsorenboni

Als im Bergbaudistrikt die kleine Schwester von Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence) ausgelost wird, tritt diese für sie "freiwillig" den Spielen bei. Die 16-Jährige wird mit ihrem Partner Peeta (Josh Hutcherson) in die feudale Hauptstadt gebracht, die hauptsächlich von Marie-Antoinette-Armani-Modell-Lookalikes und tuntig aussehenden Luxus-Degenerierten bewohnt wird.

Dort lernen die beiden ihren saufenden "Mentoren" Haymith Abernatchy (Woody Harrelson) kennen, einem Veteranen des Fernseh-Gemetzels, der die beiden bis zum Beginn der "Wettspiele" trainiert, sie mit Überlebenstips versorgt und ihnen dringend rät, vor der Kamera medienkompatibel und sympathisch zu agieren. Dies macht es ihm nämlich während der Show leichter, "Sponsoren" für seine Schützlinge zu finden, die den beiden in lebensbedrohlichen Situationen zum Beispiel Wasser oder Medikamente zukommen lassen können. Im Verlauf des Vorbereitungstrainings, welches als eine Art Casting-Show gesendet wird, outet sich Peeta als Verehrer von Katniss, was den beiden vorab Publikums- und Sponsorenboni bringt.

Revolten

Am Tag der Hungerspiele bringen sich bereits mehrere Streiter gegenseitig um, wobei sich Cato aus dem wohlhabenden ersten Distrikt, der sich des Ruhmes wegen freiwillig zu dem Blutbad gemeldet hat, als besonders skrupelloser Schlächter entpuppt, der den überwiegenden Teil der Überlebenden um sich schart und Jagd auf die anderen macht. Damit die Show für die Zuschauer nicht zu langweilig wird, sind in dem Gebiet verschiedene Fallen installiert, die von der Fernsehstation ausgelöst werden können. Außerdem dürfen die Kandidaten noch Bekanntschaft mit genetisch veränderten Mörderwespen und Jagdhunden schließen, welche die Spielerschar zusätzlich dezimieren. Die wildniserfahrene und bogenschießende Katniss und Peeta raufen sich vor den dauerbeobachtenden Kameras romantisch zusammen, bewahren ihre Würde und geben den Plebejern draußen zu Revolten Anlass, die wiederum ihre Überlebenschancen schmälern.

Der Film spielt mit Versatzstücken aus Filmen wie Fahreneinheit 451, Herr der Fliegen, Running Man, Flucht ins 23. Jahrhundert, Geschichte der Dienerin, Truman-Show und Das fünfte Element ohne an ästhetischer Eigenständigkeit zu verlieren und thematisiert die Widersprüche der amerikanische Gegenwart wie auch die Verformung und Ideologisierung dieser Wirklichkeit durch die kommerziellen Medien: Der Film interpretiert in gewisser Weise auch sich selbst.

Während die anämische "Twilight"-Saga mit ihren sensiblen und romantischen Vampirchen ästhetisch, ideologisch und geschlechterpolitisch an der Spitze der evangikalen Enthaltungs- und Askese-Offensive reitet, durchbricht The Hunger Gameimmer wieder die Geschlechterklischees und bringt den guten alten Klassenkampf wieder auf`s Tablett (auch wenn Sex und Suff unter Jugendlichen eindeutig zu kurz kommen und die genreübliche Schwarz-Weiß-Zeichnung der Charaktere bestimmend bleibt).

Gezielt verwendet hier Gary Ross, der schon als Redenschreiber für Michael Dukakis und Bill Clinton tätig war und sich im Filmgeschäft als Drehbuchschreiber von Big und Dave erste Meriten erwarb, bevor er mit Filmen wie Pleasantville und Seabiscuit zum gefragten Regisseur wurde, Bilder aus dem Amerika der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren und kontrastiert sie mit der debilen Human-Interest-Celebrity-Fernsehwelt unserer Tage.

Über die fünf groben Handlungsschnitzer, die vor allem die Überlebensfähigkeit der postmodernen Castingshow-Kandidaten betreffen, wie auch die verpasste Chance darzustellen, wie die Filmheldin gezwungen ist, eine der anderen moralisch integren Konkurrentinnen abzumurksen, sehen wir hinweg. Teilweise wurde moniert, dass die äußerst brutale und streckenweise sadistische Romanvorlage gerade so weit abgeschliffen wurde, um eine Freigabe ab 12 Jahren zu erreichen. Der Stoff würde eine Freigabe aber erst ab 16 Jahren rechtfertigen. Auch werde so die Gewalt in unzulässig verniedlichter Form dargestellt.

Gewalt von oben

Es geht aber dem Film in erster Linie gar nicht um die Darstellung der Brutalität im zukünftigen Dschungel-Camp, sondern um das Aufzeigen der Gewalt von oben, darum, wie Selbsterniedrigung zum Entertainment ausartet und die Mechanismen sichtbar zu machen, die Menschen, welche vor die Kameras getrieben werden, dazu zwingt, es so aussehen zu lassen, als ob sie es freiwillig und aus Vergnügen tun.

Und er zeigt (wie gesagt etwas zu geradlinig), dass man dieser Herrschaft auch widerstehen kann. Für einen Blockbuster ist der Streifen auch dank der hervorragenden Hauptdarstellerin wohltuend dezent und subtil inszeniert. Die Perspektiven zwischen Akteuren und Zuschauern werden souverän gewechselt. Die Filmmusik (keine irischen Flöten!) wird nicht wie Napalmbomben eingesetzt.

Wie etwa bei Steven King wird in diesem Film der amerikanische Traum hinterfragt wie kritisiert und gleichzeitig subversiv bestätigt. Und wie bei Steven King können wir uns nicht entscheiden, ob die Affirmation oder die Subversion überwiegt oder ob gerade der Witz darin liegt, dass durch dieses Verfahren die Affirmation subversiv wird. Dem Zuschauer stehen auf alle Fälle 142 spannende, über weite Teile das Gehirn des Zuschauers nicht beleidigende Minuten bevor.

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