"Wenn sich ein Politiker vom Volk tyrannisiert fühlt, ist er fehl am Platz"

Die Piratin Jasmin Maurer, die in den saarländischen Landtag als Abgeordnete einzieht, kritisiert im Telepolis-Interview die Abgehobenheit der etablierten Parteien und stellt die Prinzipien ihrer politischen Arbeit vor

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Die Piraten sind unterwegs. Nach Berlin ist die Piratenpartei nun auch in den saarländischen Landtag eingezogen. Telepolis traf die 22-jährige Piratin Jasmin Maurer in ihrer Heimatstadt im saarländischen Blieskastel. Die gebürtige Saarländerin verrät, warum es die Piratenpartei ihrer Meinung nach geben muss, was sie an den etablierten Politikern stört und wo die Stärken und Schwächen ihrer Partei liegen.

Blieskastel, eine Stadt mit 21.000 Einwohnern, südwestlich von Homburg/Saar gelegen, ist gerade mal 25 Kilometer von der Landeshauptstadt Saarbrücken entfernt. Alles andere also, als ein weiter Weg von der Stadt mit der alten Barockkirche bis ins saarländische Parlament - geografisch gesehen. Doch um von der saarländischen Provinz über die Straße der Politik mitten ins parlamentarische Machtzentrum des Bundeslandes zu gelangen, kann es, realistisch betrachtet, eigentlich nur ein ziemlich langer Weg sein - insbesondere, wenn man einer Partei angehört, die parallel zum Wahlkampf für die Landtagswahlen vom 25. März noch mit dem Gründen von Kreisverbänden beschäftigt war.

Bild: M. Klöckner

Doch darüber hat Jasmin Maurer, die kleine Piratin mit den schulterlangen glatten Haaren, nicht nachgedacht. Ihr Frust über die etablierten Parteien und die Erkenntnis, dass Politik zu sehr über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden wird, haben sie zu den Piraten geführt. Sie wollte sich einfach nur in die Politik einbringen, wie sie im Interview verrät. Offenheit, Transparenz, Menschennähe: Attribute, die Maurer den Piraten zuschreibt. Also ist sie der Piratenpartei beigetreten, hat sich im Wahlkampf engagiert, um dann - fast so als gelte es jedem Realismus zu trotzen - über einen Listenplatz den Sprung ins Parlament zu schaffen. Zusammen mit drei Mitstreitern wird Maurer nun im saarländischen Parlament - umgeben von CDU, SPD, Grünen und Linkspartei - auf "Piratenkurs" gehen.

Aber zunächst gilt es, auf die Erledigung einer Formsache zu warten. So viel hat die junge Piratin nämlich "noch gar nicht vom Parlament gesehen". Schließlich "sitzt in unseren Büros noch eine andere Partei drin, die erst noch rausgekehrt werden muss", sagt Maurer mit einem kessen Lachen und spielt dabei auf die FDP an, die am Einzug ins saarländische Parlament gescheitert ist. Doch, so bringt es die angehende IT-Systemkauffrau zum Ausdruck, geht es nicht um Schadenfreude, sondern darum, sich endlich für eine bessere Politik einsetzen zu können. Die vorherrschende Politik sieht Maurer "von Macht- und Geldgier" geprägt.

Deutliche Worte von einer Frau, deren jugendhafte Erscheinung so wenig mit ihrem reifen politischen Verständnis korrespondiert, dass es zunächst gar nicht so einfach ist, Person und Aussagen in einem zu sehen. Wahrscheinlich geht es anderen ähnlich wie mir, aber es wäre schon eine "Herausforderung" gewesen, Maurer, die man auch auf 16 oder 17 schätzen könnte, mit "Sie" anzusprechen.

"Wie machen wir es? Du oder Sie?", frage ich zu Beginn unseres Treffens und hoffe, dass sie mit einem "Du" leben kann. Maurer lacht und sagt: "Du ist ok", wohlwissend, dass viele sie für jünger halten dürften, als sie ist. Doch wenn man ihr zuhört, wird klar, dass ihr jugendliches Äußere auch eine Waffe sein kann, die, sinnvoll eingesetzt, gerade im Politikbetrieb dem ein oder anderen gestandenen Parlamentarier in Erstaunen versetzen dürfte. Maurer ist kein "junges Ding", sondern eine Frau, die mit 22 Jahren eine klare politische Vorstellung hat und es schlicht satt ist, den ewig gleichen Leerformeln aus dem Munde der etablierten Politiker untätig gegenüber zu stehen. Sie will Politik machen.

Auch bei ihr fällt auf, dass sie keineswegs, wie andere Piraten auch, auf alles eine Antwort hat, dass es Themen gibt, bei denen sie noch nicht sicher im Sattel sitzt. Aber kann man ihr und den Piraten daraus wirklich einen Strick drehen? Kann man den Piraten wirklich zum Vorwurf machen, dass sie, die bisher kaum politische Erfahrungen im politischen Praxisbetrieb sammeln konnten, nicht auf alles eine Antwort und nicht für alles eine Lösung haben?

Wie Maurer redet, wie Maurer antwortet, schließlich ihre Gedanken: Darin offenbart sich viel mehr ein interessantes Phänomen, das wahrscheinlich die Politikwissenschaft noch beschäftigen wird. Der Aufruf der großen Parteien (hauptsächlich zu Wahlkampfzeiten) zur Partizipation, also die Beteiligung der Bürger an der Politik, bahnt sich in Zeiten einer postdemokratischen Wende nämlich seinen ganz eigenen demokratischen Weg. Schon lange, so scheint es, gärt in der Bevölkerung, aber vor allem auch bei der jüngeren Generation, das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber einer Parteienlandschaft, die den Bürger nur noch zum Gang an die Wahlurnen braucht und ihn ansonsten als Störfaktor betrachtet. Und einige von jenen Bürgern, die merken, dass eine unüberwindbare Hürde zwischen ihnen und den noch als Volksparteien bezeichneten Gruppierungen liegt, werden nun selbst aktiv. Aber anders, als es den etablierten Parteien lieb ist. Sie wenden sich von den etablierten Parteien ab, formieren sich, bündeln ihre Kräfte, um mit Selbstbewusstsein den Spielraum zu nutzen, den ihnen das politische System bietet.

Warum, so ließe sich leicht fragen, ist Jasmin Maurer eigentlich nicht in die CDU, die SPD, zur FDP oder zu den Grünen gegangen? Ihr Interesse an Politik ist groß, sie ist bereit sich einzusetzen, ihre politische Ideen und Vorstellungen sind demokratisch und bürgernah. Doch genau darin liegt wohl das Problem.

Die großen Parteien scheinen für junge, aufstrebende Persönlichkeiten, die den Mief einer hochgradig machtelitär gesteuerten Interessenpolitik offen ansprechen wollen, keinen Platz zu haben. Wer in die großen Parteien geht und dort etwas bewegen will, muss sich anpassen, muss bereit sein, die Ochsentour durchzumachen oder etwa die Wutausbrüche eines Kurt Beck ertragen, der als langjähriger Ministerpräsident von Rheinland Pfalz in der Polit-Talkshow Maybrit Illners am Donnerstagabend verbal auf den Piraten Christoph Lauer losging, als stünden die Piraten für den Untergang der Demokratie. Sieht so der Umgang gestandener Politiker mit jungen Menschen aus, die von ihrem Recht Gebrauch machen, sich an der Politik in einem demokratischen Rahmen zu beteiligen?

Doch auf Ochesentouren und Standpauken hat offensichtlich die neue Generation politikinteressierter Staatsbürger keine Lust. In Zeiten des Internets, wo Bürger sich unabhängiger ihre Meinung bilden können, als es die veröffentlichte Meinung der Massenmedien zulässt, gründet man eine Partei und macht die Politik, die man selbst für richtig hält.

Und so ergibt sich für Maurer, die frischgebackene Parlamentarierin, die Gelegenheit, in der Gaststätte Alt Schmidd zu sitzen, wo zum Stammessen Bratwurstschnecken mit Püree und Rotkraut sowie saarländische Lyonerpfanne gehören, um davon zu erzählen, was sie und ihre Piraten unter einer Politik mit Bodenhaftung verstehen.

Für eine bürgernahe Politik

Frau Maurer, aus welchem Grund haben Sie sich entschlossen, in die Politik zu gehen?

Jasmin Maurer: Dies hatte mehrere Gründe. Zum einen leben wir in einer Demokratie, und ich erachte es als wichtig, davon auch Gebrauch zu machen. Allein aus Respekt den Menschen gegenüber, die nicht das Glück haben, in einer Demokratie leben zu können. Meine Entscheidung zu den Piraten zu gehen begründet sich darauf, dass es eine bürgernahe Partei ist. Die etablierten Parteien haben sich zu weit vom Menschen entfernt, weshalb sie für mich uninteressant waren.

Sie sprechen von einer Politik, die sich von den Menschen entfernt hat. Wie genau meinen Sie das?

Jasmin Maurer: Die meisten Politiker wissen einfach nicht mehr, wie es ist, sich als "normaler Mensch" durchschlagen zu müssen. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn eine Mutter überlegen muss, wie sie ihrem Kind den Schullandheimaufenthalt finanziert oder wie sich Arbeitnehmer Gedanken machen, wie sie bei den immer mehr ansteigenden Benzinpreisen noch die Fahrt zur Arbeitsstelle finanzieren können.

Was stört Sie noch an den etablierten Politikern?

Jasmin Maurer: Viele weichen unangenehmen Fragen aus und antworten oftmals mit einem komplett anderen Inhalt, als der, der verlangt wurde.

Nicht jeder scheint Ihre Meinung über die Unzulänglichkeiten von Politikern zu teilen. Im Gegenteil: Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Hans Heinrich Driftmann, forderte jüngst, Politiker deutlich besser zu bezahlen, als es gegenwärtig der Fall ist, schließlich würden andere "Spitzenkräfte" auch besser entlohnt. Was halten Sie von der Aussage?

Jasmin Maurer: Die Motivation eines Politikers sollte nicht von der Höhe der Diäten abhängig sein. Viel eher sollte er motiviert sein, das Beste für das Volk zu tun. Ferner können wir nicht über Einhaltung der Schuldenbremse reden und sagen, wir müssen sparen, und gleichzeitig unsere Diäten erhöhen. Diese Aussage lässt mich ehrlich gesagt den Kopf schütteln. Außerdem frage ich mich, wie man Spitzenleistung definiert? Krankenschwestern erledigen auch jeden Tag eine Spitzenleistung, um mal ein Beispiel zu nennen. Wenn an einem Tag alle Politiker, Steuerberater und dergleichen tot umfallen würden, und am anderen Tag alle Pflegekräfte, wen würde man wohl als erstes vermissen?

Braucht man aber die Piraten wirklich?

Jasmin Maurer: Ja, man braucht die Piraten. Die Piraten wenden sich Themen zu, die von den anderen Parteien vernachlässigt werden. Beispielsweise die komplette Netzpolitik. Es kann nicht sein, dass netzpolitische Gesetze von Politikern erlassen werden, die sich in der Materie nicht auskennen. Ferner kümmert sich außer der Piratenpartei auch keine Partei mehr um die Bürgerrechte.

Was stört Sie am Umgang der etablierten Parteien mit den Bürgerrechten?

Jasmin Maurer: Die Bürgerrechte werden immer weiter unter dem Deckmantel der Sicherheit beschnitten. Man versucht die Freiheiten der Menschen immer weiter einzuschränken. Dieser Zustand ist nicht hinnehmbar.

Das sind alles klare Worte. Ihre Partei ist nun also auch im Saarland im Parlament vertreten. Die Reaktionen der anderen Parteien sind nicht unbedingt sehr wohlwollend. Der Generalsekretär der FDP, Patrick Döring, hat jüngst in Anspielung auf ihren Wahlerfolg von einer "Tyrannei der Massen" gesprochen. Wie denken Sie über diese Aussage?

Jasmin Maurer: Bei einer solchen Aussage kann ich erneut nur den Kopf schütteln. Wenn sich ein Politiker von den Massen, also praktisch vom Volk, tyrannisiert fühlt, ist er fehl am Platz. Ein Politiker sollte für das Volk da sein, nicht umgekehrt.

Jasmin Maurer beim Interview im Restaurant Alt Schmidd in Blieskastel. Bild: M. Klöckner

Basisdemokratisch und transparent

Was sind denn die Stärken der Piraten?

Jasmin Maurer: Eine Stärke ist ganz klar die Basisdemokratie. dadurch, dass wir kein Delegiertensystem haben, werden Themen von vielen verschiedenen Richtungen betrachtet und möglichst viele Faktoren für eine Lösungsfindung mit einbezogen. So können im Bereich Bildung Lehrer ihre Erfahrungen einbringen, aber auch Schüler und Eltern aus einer ganz anderen Sicht agieren. Eine weitere Stärke ist die Transparenz. Dadurch, dadurch, dass wir alles offen legen, sind Vorgänge klar verständlich und schaffen daher Vertrauen.

Und nicht zuletzt: Wir Piraten sind eine Einheit. Wenn es irgendwo Probleme gibt, beispielsweise eine Regierung zusammenbricht wie im Saarland oder NRW, so ist das ganze Bundesgebiet zur Stelle und hilft - und zwar ungefragt.

Was heißt basisdemokratisch?

Jasmin Maurer: Basisdemokratisch bedeutet, dass alles durch die Basis geschieht. Wie gesagt, wir haben kein Delegiertensystem wie andere Parteien. Jeder kann bei uns an Anträgen schreiben, diese einbringen und auch abstimmen.

Was heißt Transparenz:

Jasmin Maurer: Wir fordern eine Offenlegung aller staatlichen Angelegenheiten, seien es nun Verträge oder Finanzierungspläne. Eine Hinterzimmerpolitik lehnen wir strikt ab.

Für wie realistisch halten Sie ihre Ansprüche in Sachen Transparenz? Jasmin Maurer: Wir halten sie für realistisch. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Wir werden mit gutem Beispiel voran gehen, indem wir all unsere Sitzungen streamen werden. Dies wird wohl auch einen gewissen Druck auf die anderen Parteien haben, so nach dem Motto: "Warum können die Piraten, die neu sind, so etwas, und alle anderen Parteien nicht?"

Was sind die Schwächen der Piraten?

Jasmin Maurer: Eine Schwäche ist zum Teil auch die Basisdemokratie, da eine Entscheidungsfindung so etwas länger dauert, nämlich bis zum nächsten Landesparteitag (auf Landesebene). Allerdings hat die Erfahrung gezeigt, dass die Stärken überwiegen.

Kostenfreie Bildung

Nun sind Sie quasi aus dem Stand ins Parlament gesprungen. Sie tragen selbst bald politische Verantwortung und werden zwei Ausschüsse übernehmen: Bildung und Medien sowie Umwelt, Energie und Verkehr. Stichwort: Bildung. Wie ist da die Position der Piraten?

Jasmin Maurer: Erst einmal ist zu sagen, dass sich an den Ausschüssen wohl noch etwas ändern wird, da es nicht sein muss, dass es diese Ausschüsse so geben wird. Und zum Thema Bildung: Unser Bildungsprogramm ist so groß, dass man es nur schwer in wenigen Worten in einem Interview zusammenfassen kann. Aber ich denke, ich spreche für alle, wenn unser Haupanliegen die kostenlose Bildung ist.

Bitte genauer.

Jasmin Maurer: Bildung muss allein schon der Chancengleichheit wegen kostenfrei sein. Es darf einfach nicht sein, dass Bildung eine Sache des Einkommens der Eltern ist. Jeder Mensch muss das gleiche Recht haben, sich bilden zu können. Hier beginnt es allerdings bereits in der frühkindlichen Bildung: ein Kindergartenplatz kostet teilweise 300€, das Kindergeld beträgt jedoch nur rund 180€. Sozial schwache Familien oder alleinerziehende Elternteile können nur schwer die Kosten tragen.

Stichwort Umwelt.

Jasmin Maurer: Ganz klar, wir wollen uns für die Förderung regenerativer Energien einsetzen, da dies einfach die Zukunft ist.

Wie sehen Sie den Umgang der Medien mit Ihrer Partei?

Jasmin Maurer: Das Thema Medien ist interessant. Zunächst hatten sie nämlich kein Interesse an der Piratenpartei, jedenfalls nicht im Saarland. Nach der Berlinwahl war das völlig anders. Allerdings fällt durchaus auf, dass manche Medien ein verfälschtes Bild von uns vermitteln. Ob dies Absicht ist oder nicht, möchte ich an dieser Stelle nicht beurteilen. Einige Beispiele wären, dass ein Reporter auf unserem Bundesparteitag in Offenbach am Main sagte, man könne an einer bestimmten Stelle nicht filmen, da zu viele Frauen anwesend seien. Auch wurden wir bereits gebeten, mit unseren Smartphones etwas zu machen, um ein bestimmtes Klischee zu bedienen.

Aus den Fehlern der anderen Parteien lernen

Wie geht es weiter mit den Piraten? In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen stehen bald Wahlen an und schließlich ist auch die nächste Bundestagswahl nicht mehr so weit entfernt. Was ist Ihre Vision?

Jasmin Maurer: Natürlich wollen wir auch in die anderen Landesparlamente sowie den Bundestag einziehen, ganz klar. Wir schätzen diese Chancen auch sehr realistisch ein.

Ein Vergleich mit den Grünen drängt sich auf. Die Grünen sind in den 80ern auch als krasse Außenseiter in die Politik eingestiegen, heute stellen sie einen Ministerpräsidenten und waren bereits in einer Regierungskoalition. Aber: Die Grünen sind im negativen Sinne heute genauso angepasst wie andere etablierte Parteien. Liegt es nicht nahe, dass Die Piraten die gleiche Entwicklung vollziehen?

Jasmin Maurer: Nein, warum? Wir können auch aus Fehlern anderer Parteien lernen und werden uns hüten, diesen Fehler auch zu begehen.