Attacke auf die "geschäftsmäßigen Ignoranten"

Piraten lösen, obgleich sie eher brav und wenig revoluzzerhaft auftreten, im bürgerlichen Lager eine erstaunliche Aggressivität aus

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Bald werden alle etwas zu den Piraten gesagt haben, die etwas zu sagen haben oder meinen, sie müssten etwas sagen, um dabei gewesen zu sein. Auffällig ist die gehörige Portion an Aggressivität, die den doch eher braven Piraten entgegenschlägt, vor allem, weil sie noch keine Jahrzehnte lange Tradition der inner- und außerparteilichen Profilbildung hinter sich gebracht haben und auf dem politischen Parkett, auf dem sie plötzlich gelandet sind, noch tapsig, das aber selbstbewusst, herumeiern. Mittlerweile können in Umfragen die Piraten bundesweit 9 Prozent für sich verbuchen. Kein Wunder, dass das politische Start-up Unruhe auslöst.

Dabei wird immer gerne unterstellt, die Politprofis der etablierten Parteien hätten jeweils Kompetenz für das Gebiet, in dem sie sich zu profilieren suchen. Würden die Piraten grotesk scheitern, wenn sie plötzlich an der Spitze von Ministerien stünden? Wohl ebenso wenig wie andere Politiker, die von einem Tag auf den anderen Rollen zu erfüllen, von denen sie keine Ahnung haben, dafür aber gibt es zahlreiche erfahrene Helfer und Bürokraten in den Ministerien, die schon einigermaßen für Stabilität sorgen. Was den Piraten, auch im Unterschied zu den Grünen, wirklich fehlen dürfte, ist wahrscheinlich die Gewandtheit, sich taktisch in Gruppenprozessen durchmogeln zu können. Das haben die Grünen auch in ihrer außerparlamentarischen Arbeit in und zwischen den vielen linken, sich in Nuancen bekriegenden Gruppierungen lernen müssen.

Die Piraten kommen gewissermaßen unbeschrieben und unschuldig an. Das Theater des politischen Hofzeremoniells haben sie einst wie die gradlinigen Bürger nicht verinnert und erscheinen dem Hofpersonal daher als naiv. Sie werden es schon noch lernen oder untergehen müssen. Politik ist ein alternativenloser Stil des Denkens, Handelns und Auftretens, so donnern die Altvorderen wie gerade etwas Thomas Schmid in der Welt daher (Utopie der Piraten infantilisiert die Gesellschaft). Dass es mit der Utopie von Transparenz, Ehrlichkeit und Basisdemokratie nicht weit her ist, sollen die naiven Jungen doch von den erfahrenen und abgeklärten Erwachsenen lernen. Das Beharren darauf bringt doch nichts.

Schmid lamentiert über eine politische "Verklumpung" - ein schöner Begriff - in der Mitte, zu der auch die Piraten beitragen würden, weil sie bislang keine differenzierenden Interessen vortragen: "Die "Piraten" sind auf offensive, ja geschäftsmäßige Weise Ignoranten. Dass ihnen Wissen und Erfahrung abgehen, dass sie von den Institutionen und ihrem Funktionieren keine Ahnung haben, dass sie nicht wissen, was sie eigentlich wollen – darin sehen sie keinen Nachteil. Sie stellen die Okkupation der politischen Sphäre durch Privatheit, durch Befindlichkeit, durch Sosein dar."

Da fragt man sich natürlich bei aller Verherrlichung der bestehenden Parteien und der Berufspolitiker, ob nicht politische Interessen immer auch eine private Seite haben und warum eigentlich Basisdemokratie von vorneherein des Teufels sein soll. Man könnte natürlich daran erinnern, dass jede philosophische Revolution seit Sokrates über die Docta ignorantia des Nicolas von Cusa, die den Weg für die Renaissance und dann auch Descartes eröffnet hat, bis hin zu Kant, Schopenhauer und Nietzsche kein bestehendes Wissen verteidigt hat, sondern erst einmal destruktiv oder ignorant war. Ich weiß, dass ich nichts weiß, war auch immer die Zurückweisung der Wissensverwalter, der Skeptizismus, auch als Stil und selbst geschäftsmäßig oder nur sophistisch, gehört zu einem Aufbruch dazu. Bliebe man immer in dem, was schon bekannt und vertraut ist, wäre es schnell Schluss mit der Innovation, zu der auch ein Stück Ignoranz gehört - und selbstverständlich auch Irrwege.

Schmid würde die Piraten ja noch eher dulden können, wie es scheint, wenn sie wenigstens offensiv auftreten und radikal tun. Da werden im Nachhinein die jungen Grünen zum nostalgischen Vorbild, die "mit Effet", also gut schauspielerisch, sich vorgedrängelt haben: "Hoppla, wir sind da." Dagegen sieht Schmid bei den Piraten "die Ruhe, die emotionslose Freundlichkeit, die bräsige Vollpräsenz und zugleich die fast gesichtslose Unauffälligkeit", sie seien "auf auf ihre couch-potatohafte Weise einfach da", was allerdings ein ziemlich verunglücktes Bild ist und mehr über den Schreiber als über die Kritisierten verrät.

Schmid wollte vermutlich originell sein und die vor den Medien groß gewordene Generation so diffamieren, allerdings sind die Couch Potatoes eher die Genereationsgenossen von ihm selbst, während die Piraten ja gezeigt haben, dass sie Mühen und Anstrengungen unternehmen, um in der Politik mitmischen zu können. Dass sie nicht schon alle Attitüden und Rhetoriken der Altparteien drauf haben, macht sie sympathisch - und die vom ehemaligen Altlinken gegeißelte Offenheit gegenüber vielen Fragen der sich vor allem als soziale Bürgerrechtspartei etablierenden Piraten ist schlicht Voraussetzung, dass neue Orientierungen von unten entstehen können - und das kann durchaus ein Abenteuer sein. Wir leben auch nicht mehr im Kalten Krieg, wo es noch handfeste Ideologien gab, auch wenn die meisten Parteien weiterhin von diesen links, rechts, liberal und mittig verklumpt zehren und noch nicht in der Gegenwart angekommen sind.

Man sollte ja meinen, dass diejenigen den Piraten gleichgültig gegenüberstehen, die in ihnen nur langweiliges Mittelmaß sehen, das die Zukunft verklumpt. So lange sich Kritiker aber in solche pauschalisierende, von Vorurteilen strotzende Rage schreiben wie Schmid, die den Wutausbrüchen anderer Altvorderen gleicht, beispielsweise als SPD-Regierungspräsident Kurt Beck bei Maybrit Illner Christopher Lauer wie ein Papa seinem renitenten Sohn die Leviten zu lesen versuchte, können sich die Piraten zumindest sicher sein, verhärtete Spielregeln durchbrochen und für vielleicht kreative Unruhe gesorgt zu haben:

Weil sie vor Laptops sitzen, gelten sie als modern. Doch sie verkörpern nicht die Abenteuer- und Expeditionsreisen, deren Möglichkeiten das Internet vervielfacht hat; sie verkörpern nicht die Exzellenz, die das Netz befördern kann. Sie verkörpern das sich downgradende Mittelmaß, das so gern im Netz schwimmt. Sie strahlen interesselose Offenheit und deswegen letztlich Leere aus: Wir sind, wie wir sind – entschieden, verändert, gemacht, gekämpft wird morgen.

Thomas Schmid

Der Unmut gegenüber den etablierten Parteien, der zu einem guten Teil den Piraten zugutekommt, schüren diese aber gerne selbst, beispielsweise wenn die parteiinterne Demokratie und Transparenz weiter heruntergeschraubt werden soll: Bundestag will Rederecht einzelner Abgeordneter einschränken. Und die Idee, ein "Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 93)", das von allen Fraktionen mit der Ausnahme der Linken klammheimlich eingebracht, aber schnell wieder aus dem Bundestag zurückgezogen wurde, ist nun wirklich ein Paradebeispiel dafür, warum größere Transparenz dringend erforderlich ist: "Es ist höchst bedenklich, dass es ein Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes auf die Tagesordnung des Bundestags schafft, ohne dass er zuvor öffentlich einsehbar war, geschweige denn, dass er öffentlich diskutiert wurde", sagte Sebastian Nerz, Vorsitzender der Piratenpartei Deutschland: "Am Grundgesetz schraubt man nicht im Hinterzimmer, auch nicht mit allen großen Fraktionen gemeinsam!"