"Man sollte es unter Strafe stellen, die Quoten der Öffentlich-Rechtlichen zu messen"

Jörg Gastmann über Politiksendungen und seine Teilnahme an der ZDF-Castingshow "Ich kann Kanzler!"

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Vor eineinviertel Jahren stellte Jörg Gastmann im Telepolis-Interview seine Ideen für ein "Bandbreitenmodell" und zur Entmachtung der Parteien vor. Nun will er mit diesem Thema an der der ZDF-Show Ich kann Kanzler! teilnehmen.

Herr Gastmann, Sie machen gerade bei der ZDF-Castingshow Ich kann Kanzler! mit. Ich wusste gar nicht, dass es die noch gibt. Sieht sich das tatsächlich jemand an?

Jörg Gastmann: Bei der ersten Show 2009 sahen ca. 2,7 Mio. Menschen zu. Da die Sendung eher mäßige Kritiken erhielt, wollte das ZDF die konzeptionellen Fehler der ersten Sendung vermeiden. Mal schauen, wie viele Menschen am 1. Mai um 22 Uhr 15 einschalten - ein recht ungünstiger Sendeplatz.

Die wievielte Staffel ist das dann?

Jörg Gastmann: Die zweite. Wobei es eigentlich keine Staffel ist, sondern eine einzige Sendung.

Wer sich in einer Musik- oder Modelcastingshow bewirbt, der gilt für eine echte Karriere in diesen Bereichen bereits als verbrannt. Sehen Sie das bei Politikern anders?

Jörg Gastmann: Es kommt darauf an, wie man auftritt und was man sagt. Ich strebe ja eigentlich gar keine politische Karriere an. Deshalb bin ich auch nach 2 Jahren als Bundesvorsitzender einer kleinen sozialliberalen Partei aus dieser ausgetreten. Das Problem ist nur, dass es so gut wie unmöglich ist, große/chancenreiche Parteien zu bewegen. Also muss man es eben selbst machen. Bei "Ich kann Kanzler" bin ich allerdings einem Missverständnis erlegen. Ich dachte, es wäre ein Ideenwettbewerb.

Sie hatten die erste Sendung also nicht gesehen?

Jörg Gastmann: Nein. Ich wusste zwar, dass es sie gab, und wurde (wie auch dieses Mal) gebeten, daran teilzunehmen, aber ich durfte es nicht wegen der Altersgrenze von 35 Jahren. Aufgrund der Altersgrenze und des Jugendkultes hielt ich es für ausgeschlossen, dass Menschen ohne Lebenserfahrung sehenswerte/interessante Ideen vorstellen würden. Und so kam es ja auch. Die Süddeutsche Zeitung schrieb damals von einem "Abend voller Floskeln" und "Germanys next Top Streber".

Auch im Rückblick-Video des ZDF konnte ich keine interessante Idee erkennen, sondern nur einen Wettbewerb um Personen und deren Fähigkeiten, sich gut zu verkaufen. Dabei werden wir bereits von "Gebrauchtwagenverkäufern" regiert.

Aber trotzdem sagen Sie die Teilnahme nicht ab?

Jörg Gastmann: Wie gesagt: Es war ein Missverständnis. Ich dachte, es wäre ein Ideenwettbewerb. Ich trat mit 23 (in Worten: dreiundzwanzig) Revolutionen vor die Jury und hatte 1 Minute Zeit, meine "Idee für Deutschland" zu "verkaufen. Unter meinen Revolutionen sind Dinge wie die Unterordnung der Wirtschaft unter alle Menschen mit dem Bandbreitenmodell und z. B. um die Entmachtung der Parteien.

Aber wie sagen Marketingleute: Any Publicity is good publicity. Mir geht es um die Kommunikation meiner Ideen an die Öffentlichkeit. Da nehme ich ein Format, in das ich eigentlich überhaupt nicht hineinpasse, gern in Kauf. Wobei es auch seinen Reiz hat, gar nicht hineinzupassen. Stellen Sie sich mal vor, das Publikum wählt mich als 5. Finalisten in die Sendung. Da hätte das ZDF aber ein Problem. Wie kann man komplexe Ideen präsentieren, ohne das Publikum zu überfordern?

Sind Talkshows wie Jauch auch nichts anderes als Castingshows für Erwachsene?

Jörg Gastmann: Das weiß ich nicht. Ich habe von Herrn Jauchs Sendung nur die ersten 20 Minuten gesehen, als er die Kanzlerin zu Gast hatte, und fand das, was Urban Priol "Hofberichtbestattung" nennt, so wenig ansprechend, dass ich die Sendung nie wieder sah.

Auch Maybrit Illner, die ja bei "Ich kann Kanzler" Jurorin ist, habe ich früher jede Woche gesehen. Seit über einem Jahr schaue ich nur noch im Videotext in die Gästeliste und Themen und schaue nicht mehr zu, weil ich nicht die ewig gleichen Leute die ewig gleichen Dinge hören sagen will.

Oder nehmen wir Menschen bei Maischberger. Deren Redaktionsleiter Michael Spreng war auch "Ich kann Kanzler"-Juror und ist derjenige, der die Gäste einlädt, wie z. B. kürzlich Carsten Maschmeyer. Überall fehlt der Mut, Außenseiter einzuladen und mal wirklich neue Ideen zu riskieren. In den Talkshows sitzen dann tatsächlich Menschen, die mehr ihre Medienpräsenz genießen, als dass sie etwas zu sagen hätten.

Was fehlt, lässt sich aus Sicht der Zuschauer auch in dem Wort "Erkenntnisgewinn" zusammenfassen. Stattdessen dürfen sich in den Talkshows die gleichen Leute unendlich oft wiederholen. Verstehe ich nicht.

Gilt das Ihrer Ansicht nach auch für Marina Weisband?

Jörg Gastmann: Frau Weisband habe ich nur zweimal gesehen und kann das nicht beurteilen, aber ich fand sie erfrischend natürlich, idealistisch und interessant. Hätte ich sie zwanzigmal gesehen, hätte ich möglicherweise eine andere Meinung. Auf jeden Fall ist sie ein Lichtblick in der Talkshow-Szene.

Meine Favoriten als Talkshow-Gäste wären u.a. Volker Pispers und Georg Schramm, die brillant analysieren können und die Kunst verstehen, die Absurdität der Politik so unterhaltsam zu kommunizieren, dass die Zuschauer auch zuhören und - was noch wichtiger ist - nachdenken. Zumindest ein wenig, für kurze Zeit, bis der graue Alltag wieder alles überdeckt.

Jörg Gastmann

Sagt schon die Grammatik des Titels "Ich kann Kanzler!" etwas darüber aus, wo das ZDF mit der Sendung hin will? Und wie könnten bessere Politiksendungen im Fernsehen aussehen? Wie der alte Internationale Frühschoppen mit Werner Höfer? Wie die Shows von Jon Stewart und Stephen Colbert? Oder mehr wie Fox News?

Jörg Gastmann: Fox News ist eine unfreiwillige Realsatire. Jon Stewart finde ich großartig. An Fritz Pleitgen, den früheren WDR-Intendaten und Moderator des Nachfolgers des Frühschoppens, des ARD-Presseclubs, sandte ich 2006 ein Exemplar meines ersten Buches mit der Bitte, neue Ideen zu diskutieren. Ich erhielt eine höfliche Antwort, dass der ARD-Presseclub (sinngemäß) "kein Forum für neue Ideen ist". Dass bei "Presseclub nachgefragt" die Zuschauer den Journalisten (von Ausnahmen wie Peter Zudeick abgesehen) immer wieder vorwerfen, sie würden immer die gleichen Dinge meist ergebnislos diskutieren, interessiert eher nicht.

"Ich kann Kanzler" ist grammatisch ein schönes Beispiel für "Marketing hat Priorität vor Stil und Bildung", aber ich versteh auch, dass ein Titel provozieren muss, um in der reizüberfluteten Welt wahrgenommen zu werden. Ich verstehe auch sehr gut das Dilemma der Redakteure: Entweder machen sie anspruchsvolles Fernsehen. Dann wirft ihnen der Gebührenzahler (angefeuert und manipuliert durch private Medien) vor, zu geringe Quoten zu erzielen. Oder sie erfüllen den Gebührenzahler-Wunsch nach hohen Quoten. Dann dürfen sie die Zuschauer nicht durch Inhalte überfordern, bei denen man nachdenken muss. Eine echte Zwickmühle.

Zur Frage, wie besser Politiksendungen aussehen könnten: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wird indirekt von den Regierungsparteien kontrolliert. Die haben gar kein Interesse an politisch gebildeten, kritischen und mündigen Bürgern. Es bedürfte also einer Machtübernahme einer neuen "Partei zur Entmachtung der Parteien", die sich dann (siehe unser Interview vom Januar 2011) gleich selbst entmachten würde. Dann hätten die öffentlich-rechtlichen Medien fast schon freie Bahn.

Fehlt nur noch die Befreiung vom Quotendruck. Man sollte es unter Strafe stellen, die Quoten der Öffentlich-Rechtlichen zu messen und sie außer Konkurrenz mit den Privaten laufen lassen. Ergebnis wäre eine Mischung aus 3Sat und Arte. Fände ich großartig. Ist aber wahrscheinlich nicht mehrheitsfähig, weil der Gebührenzahler Entertainment von sämtlichen Sendern will.

Ach ja, und eine konkrete Antwort nach einer besseren Politiksendung: Ständig unbekannte Gäste einladen. Ständig neue Ideen diskutieren, mit ausreichend Zeit, um in die Tiefe zu gehen. Und weniger Professoren einladen, weniger Politiker, mehr Außenseiter und Querdenker.

Was schätzen Sie: Wie viele ZDF-Zuschauer werden nach der Ich-kann-Kanzler-Sendung Ihr Bandbreitenmodell verstanden haben?

Jörg Gastmann: Wahrscheinlich: Gar keiner, weil ich nicht damit rechne, bei Ich kann Kanzler den ersten Platz zu machen. Wahrscheinlich wird ihn Susanne Wiest mit dem BGE gewinnen - übrigens eine erfrischend an Macht und Karriere desinteressierte Frau.

Würde ich die meisten Stimmen beim Voting bekommen, hätte das ZDF ein echtes Problem: Wie bringt man eine komplexe Gesamtlösung (es geht beim Bandbreitenmodell ja nicht nur um die Beseitigung von Arbeitslosigkeit und Niedriglöhnen, sondern um sämtliche Probleme des "Handlungsdrucks". Ich sprach nach dem Jury-Casting mit dem Chefredakteur der Sendung, und er meinte, mein Konzept wäre eher ein Thema für eine ganz andere Art von Sendung.

Wäre ich am 1.5. bei "Ich kann Kanzler" dabei, würde ich zum Beispiel in der Disziplin "Rede halten" keine einzige Floskel aufsagen, sondern jede Sekunde nutzen, um zu erklären, wie ich die angesprochenen Probleme lösen kann. Ich schätze, dass ich dafür maximal eine Minute Zeit hätte. Das ist genug, um Neugier auf die Webseite bandbreitenmodell.de zu wecken.

Von circa 2 bis 3 Mio. Zuschauern wird vielleicht 1 Prozent denken: "Macht Sinn. Das schaue ich mir mal näher an." Das wären über 20.000 Menschen, die "Stufe 2 der Revolution" zünden könnten, indem sie sich dafür einsetzen. Die Occupy-Bewegung hätte endlich etwas, für das sie sein könnte, statt immer nur dagegen. Mein Ziel bei "Ich kann Kanzler" ist es, einen Keim des Nachdenkens zu pflanzen. Mein Traum wäre nicht eine politische Karriere, sondern Parteien in aller Welt bei der Umsetzung zu beraten.

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