Die Piraten Tschechiens: Dissidenten gegen "Mafiakapitalismus"

Im Rahmen der zunehmenden Krisenproteste wird in Tschechien der Ruf nach radikaler, direkter Demokratie laut

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Die Krisenmaßnahmen der Regierung um Premier Petr Necas lassen inzwischen auch in Tschechien eine rasch an Stärke gewinnende Protestbewegung aufkommen. Von den aktuellen Sozialkürzungen und Einsparungen sind vor allem Rentner, Studenten und Geringverdiener stark betroffen. Bereits im Mai vergangenen Jahres haben die tschechischen Gewerkschaften massiv gegen die erste Runde der Austeritätsmaßnahmen der tschechischen Rechtsregierung protestiert.

Die gegenwärtige Protestwelle wurden aber nicht von Gewerkschaften oder Oppositionsparteien initiiert - diese haben sich erst später den Protesten anschlossen. Die entscheidende Triebkraft der Demonstrationen bilden sich als radikaldemokratisch verstehende Gruppierungen, die teilweise aus den Protesten gegen das Acta-Abkommen hervorgegangen sind. Wieder mal spielte das Internet und die Koordination über Soziale Netzwerke eine zentrale Rolle, wie Slávek Popelka, einer der Initiatoren der Proteste – die in etlichen Städten rasch um sich griffen -, erläuterte:

Zu Beginn haben wir einfach die Leute per E-Mail kontaktiert und unsere Ziele zusammengefasst. ... Die Demonstrationen wurden mit minimalen finanziellen Ressourcen von 200.000 Kronen für die gesamte Kampagne organisiert, und nun kennt uns der Großteil des Landes.

Popelka ist in Tschechien kein unbeschriebenes Blatt, da er vor 1989 als ein bekannter Dissident gegen den autoritären Staatssozialismus in der Tschechoslowakei opponierte. Es bringe deswegen eine "jahrelange Erfahrung" beim Organisieren von Protesten mit, erklärt er. Der ehemalige antisozialistische Dissident war gemeinsam mit dem Regisseur Jirí Krejcík an der Ausarbeitung des "Holeschowitzer Aufruf" (Holešovská výzva) beteiligt. Dabei gehen die Forderungen des daraus hervorgegangenen losen Bündnisses weit über eine Rücknahme der Austeritätspolitik der tschechischen Regierung hinaus. Popelka wandelt sich erneut zu einem Dissidenten und hält das gegenwärtige System für nicht mehr reformierbar, weswegen im "Holeschowitzer Aufruf" Forderungen nach größtmöglicher Transparenz, direkter Demokratie, Selbstregierung der Bürger und einem Ende der "Arroganz der Macht" dominieren. Diese radikaldemokratischen Demonstranten protestieren vor allem gegen die unübersichtlichen Machtstrukturen, die Intransparenz und Korruption in der Politik und die Machtkonzentration bei den Massenmedien. Um einen solchen radikaldemokratischen "Systemwechsel" einzuleiten, fordert die Protestbewegung bei allwöchentlichen Kundgebungen den Rücktritt der Regierung, das Einsetzen einer Übergangsadministration, Neuwahlen und anschließend umfassende Verfassungsänderungen. Man wolle die echte "konstitutionelle Demokratie, und nicht einen Mafiakapitalismus", hieß es in dem Holeschowitzer Aufruf.

Radikaldemokratische Protestbewegung wird stärker

Inzwischen formieren sich weitere ähnliche Gruppierungen und Netzwerke, wie etwa die Gruppierung Real Democracy Now, die ab Ende April unter Rückgriff auf Protestformen der Occupy-Bewegung eine Zeltstadt in Prag errichten will. Auch bei den Initiatoren dieser Proteste dominieren Forderungen nach unmittelbarer Demokratie, Verfassungsänderungen und umfassender Transparenz im politischen Geschäft. Inzwischen werden immer neue Termine für künftige Großproteste benannt: Real Democracy Now möchte am 28. April mit ihren Besetzungsaktionen beginnen, zuvor, am 21. April, mobilisieren die tschechischen Gewerkschaften, während die Aktivisten aus dem Umfeld des Holeschowitzer Aufruf für den 15. April symbolische Protestaktionen durchführen wollen.

Einen ersten Erfolg konnte diese radikaldemokratische Bewegung bereits verbuchen, nachdem die unter Druck geratenen Regierung Necas Ende März einen Gesetzesentwurf billigte, der – unter strengen Auflagen – künftig Volksabstimmungen zulassen soll.

Die Initiatoren des Holeschowitzer Aufrufs forderten überdies die Regierung auf, einen "runden Tisch" einzurichten, um einen auf die Systemtransformation abzielenden Dialog mit den "demokratischen Kräften" zuzulassen. Diese typische Dissidenten-Forderung hat einen historischen Vorläufer: Die Einrichtung "runder Tische" diente in Osteuropa ab 1989 der Etablierung eines Dialogs aller gesellschaftsrelevanter Gruppierungen, der tatsächlich eine unblutige Systemtransformation in den meisten implodierenden staatssozialistischen Ländern gewährleistete. Die Vergleiche zum Kampf gegen den autoritären Staatssozialismus zieht auch Popelka:

Ich sehe da eine Ähnlichkeit mit meiner Zeit als Dissident. Wieder haben wir nur leere Hände. Uns gegenüber stehen die, die Milliarden geklaut haben, und wir versuchen, etwas dagegen zu tun. Und ich glaube, dass wir Erfolg haben werden. Sie sind Zehntausende, aber wir sind Millionen.

Die tschechische Politelite reagiert auf solche Forderungen und Aussagen zusehends gereizt. Der tschechische Finanzminister Miroslav Kalousek verglich etwa den radikaldemokratischen Dissidenten Popelka im Adolf Hitler: "In jeder Demokratie gibt es Menschen, die nicht den demokratischen Regeln folgen wollen, sondern von irgendeinem besseren Morgen träumen. Von solchen neuen Regeln träumte damals auch schon ein selbst ernannter Maler in einem Zimmer in Deutschland", erklärte Kalousek unter Anspielung auf die gescheiterten künstlerischen Ambitionen des deutschen "Führers".

Dabei birgt das radikaldemokratische Konzept der neuen tschechischen Protestbewegung durchaus Gefahren, deren sich die Aktivisten zumindest instinktiv bewusst waren, als sie bei ihrem Protestmarsch in Prag vor das Gebäude des tschechischen Fernsehens zogen. Die fehlende demokratische Kontrolle der Massenmedien wird eine fundierte und objektive Informierung der Bevölkerung unterminieren, was den Missbrauch und der Instrumentalisierung der direkten Demokratie durch kleine einflussreiche Gruppen (die etwa die Kontrolle über die Massenmedien innehaben) Tor und Tür öffnet. Es lässt sich überdies fragen, ob nicht schon die sich ausschließlich auf politische Korruption kaprizierende Kritik der neuen radikaldemokratischen Gruppierungen arg verkürzt ist – und nicht vor allem die in Massenmedien beliebte "Politikerschelte" einfach widerspiegelt.

Die gegenwärtige Krise des Kapitalismus scheint für den Holeschowitzer Aufruf und Real Democracy Now aus den korrupten Verfehlungen einzelner Politiker zu resultieren, denen durch verstärkte Transparenz und Kontrolle ein Riegel vorgeschoben werden soll - die Widersprüche des kapitalistischen Systems bleiben hier außerhalb der Betrachtung. Die Initiatoren der neuen tschechischen Protestwelle betreiben somit ebenfalls eine Personifizierung der Krisenursachen, die diesmal auf das korrupte Treiben der Politikerkaste zurückgeführt wird. Somit kann der hehre Wunsch nach echter, direkter Demokratie sehr schnell in die Herrschaft des ressentimentgeladenen Mobs umschlagen, wie eine Episode aus der nordböhmischen Stadt Varnsdorf illustriert: Dort sammelten Aktivisten des Holeschowitzer Aufruf fleißig Unterschriften für die Absetzung der Regierung Necas – bei einer Nazidemonstration, die sich gegen die lokale Minderheit der Roma richtete.