Verkehrsberuhigung besser auf kommunaler Ebene regeln

Der ADAC spricht sich gegen die EU-Pläne zu Tempo 30 in Ortschaften aus

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Im vorigen Jahr verabschiedete das Europaparlament einen "Aktionsplan" zur Verkehrssicherheit. Er sieht neben einer einheitlichen Promillegrenze und Standards für Führerscheinprüfungen auch das Verbot von Radar- und Verkehrskontrollwarnsystemen, eine Winterreifenpflicht, ein Internet- und SMS-Verbot am Steuer, Atemalkohol-Messgeräte in Fahrzeugen ertappter Alkoholsünder und eine "Regelgeschwindigkeit" von 30 Stundenkilometern in Ortschaften vor. Letzteres hält ADAC-Sprecherin Julia Levasier im Telepolis-Interview für keine besonders gute Idee.

Frau Levasier, das Europaparlament hat im letzten Jahr beschlossen, dass Tempo 30 die Regelgeschwindigkeit innerhalb von Ortschaften werden soll. Was sagen Sie dazu?

Julia Levasier: Es ist gut und richtig, dass sich das EU-Parlament mit Verkehrssicherheitsfragen auseinandersetzt. Der Berichterstatter im EU-Parlament zum Thema, MdEP Dr. Koch aus Thüringen, mit dem der ADAC seit Jahren gut zusammenarbeitet, hat sehr viele gute Empfehlungen in seinen Bericht aufgenommen, wie zum Beispiel eine mehrphasige Fahrausbildung und den Ausbau von Lkw-Parkplätzen. Die Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit gehört aber nicht zu den Empfehlungen, die der ADAC mittragen kann.

Der ADAC lehnt Tempo 30 als städtische Regelgeschwindigkeit strikt ab. Die EU hat allerdings auch keine Kompetenz, Regelungen zur Verkehrssicherheit zu entscheiden. Der Bericht von Herrn Koch ist wie gesagt ein Bündel von Empfehlungen, von denen wir viele mittragen können, Tempo 30 innerorts aber nicht.

Und warum lehnt der ADAC diesen Punkt ab?

Julia Levasier: Das abgestufte StVO-Instrumentarium zur Verkehrsberuhigung "Verkehrsberuhigter Bereich" (Schrittgeschwindigkeit), "Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich" (Tempo 20) und die "Tempo-30-Zone" hat sich bewährt und erlaubt je nach Örtlichkeit eine differenzierte Anwendung. Tempo 30 als städtische Regelgeschwindigkeit könnte diese StVO-Instrumentarien verwässern und damit die Verkehrssicherheit beeinträchtigen. Tempo-30-Zonen sollten deshalb künftig nur dort eingerichtet werden, wo ein "Zonenbewusstsein" entstehen kann. Dazu gehören eine überschaubare Gebietsgröße, gleichwertige Straßen, deutlich erkennbare Eingangsbereiche, Piktogramme, Einengungen und unterstützende bauliche Maßnahmen (vor allem vor Schulen).

Was Tempo 30 als innerstädtischer Regelgeschwindigkeit entgegen steht, ist zunächst einmal, und das ist ganz wesentlich, die Akzeptanz der Autofahrer, die fehlen würde. Bereits heute wird in manchen Straßen von Tempo-30-Zonen zu schnell gefahren, wenn diese zu lang sind (alles über ungefähr 800 m) oder den Eindruck einer "bevorrechtigten" Straße erwecken. Durch eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h würde man für Fußgänger und Radfahrer eine Scheinsicherheit schaffen, die sich im tatsächlichen Verkehrsverhalten nicht widerspiegelt.

Mit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit hätten wir ein generelles Rechts vor Links in den Innenstädten. Das verstößt gegen die StVO. Die Vorfahrt darf nur dann so geregelt werden, wenn die kreuzenden Straßen eine annähernd gleiche Breite und Verkehrsbedeutung haben und keine der Straßen den Eindruck erweckt, die wichtigere zu sein. Um eine "Gleichwertigkeit" der Straßen herzustellen, wären daher umfangreiche Umbaumaßnahmen nötig, um keine neuen Gefahren zu schaffen.

Waren Sie schon mal in einer Stadt, in der viel Rechts vor Links gilt? Dann fahren Sie nach Brüssel. Dort brausen Ihnen aus kleinsten Seitenstraßen, obwohl Sie auf der Hauptstraße sind, die Leute an Ihnen vorbei. Es gibt dort viele Unfälle deswegen. Die Stadt Brüssel hat kein generelles Tempo 30, will aber wenig Schilder (Vorfahrt achten und so) aufstellen. Das nur so am Rande!

Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit würde im Übrigen auch bedeuten, dass auf den meisten Sammelstraßen Tempo 30 gelten würde, sodass diese ihrer Bündelungsfunktion nicht mehr gerecht werden könnten. Das ist zunächst mal schlecht für die Verkehrssicherheit abseits der Hauptstraßen: Denn die Folge wäre ein Schleichverkehr durch die Wohngebiete, weil damit keine Zeitnachteile mehr verbunden wären.

Gegen Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit sprechen auch die damit verbundenen Beeinträchtigungen des ÖPNV. So dürften Busse abseits der Hauptverkehrsstraßen nur noch 30 km/h fahren und müssten darüber hinaus an allen Kreuzungen und Einmündungen "Rechts vor Links" beachten, was mit zusätzlichen Zeit- und Komforteinbußen verbunden wäre. Zeitverluste sind für den ÖPNV jedoch nicht hinnehmbar: Sie verschlechtern die Konkurrenzfähigkeit zum Pkw und bewirken höhere Betriebskosten.

Tempo 30 als städtische Regelgeschwindigkeit ist auch aus Umweltgründen abzulehnen - es kommt ja immer das Argument, überall Tempo 30 wäre gut für saubere Luft. Das Gegenteil wäre der Fall. Das mit Tempo 30 verbundene "Rechts vor Links" abseits der Hauptverkehrsstraßen würde ein ständiges Abbremsen und Anfahren an Kreuzungen und Einmündungen bewirken und damit die Lärm- und Schadstoffemissionen in die Höhe treiben.

Last but not least: Subsidiarität! Flächendeckend 30 km/h würde auch gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. So sollte es den Kommunen überlassen bleiben, wo sie Verkehrsberuhigung durchführen. So ist Tempo 30 nämlich für Gewerbe- und Mischgebiete oder für verkehrsreiche Straßen sachlich unbegründbar.

Könnte man nicht Tempo 30 einführen und gleichzeitig die bisherigen Vorfahrtsstraßen beibehalten?

Julia Levasier: Das müsste man prüfen. Es ist aber die Frage, ob man das bewährte Set an Regeln, das in der StVO enthalten ist, zugunsten einer Maßnahme - Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Innenstädten - aufgibt, die zumindest aus den vorgenannten Gründen zweifelhaft ist.

Was halten Sie von einer Regelung, in der die Regelgeschwindigkeit nicht in Sammelstraßen, für verkehrsreiche Straßen und für Busse gilt?

Julia Levasier: Der ADAC befürwortet einen effizienten Einsatz von Tempo 30-Zonen. Was bringt es, wenn Sie überall außer für Busse und nicht in Sammelstraßen und verkehrsreichen Straßen Tempo 30 haben, wenn die Akzeptanz für diese Maßnahme dann nicht erreicht wird? Autofahrer halten sich an eine niedrige Höchstgeschwindigkeit, wenn sie einen klaren Grund erkennen könnten - zum Beispiel vor Schulen, Kindergärten oder Seniorenheimen und in anderen Bereichen, wo es erforderlich ist, und dies auch ersichtlich ist. Ansonsten verpufft die Wirkung von Tempo 30, und zwar überall! Denn dann ist die Einhaltung der Tempolimits überall gefährdet, auch dort, wo zum Beispiel nur Schrittgeschwindigkeit gilt. Insgesamt würde dann die Verkehrssicherheit leiden und nicht verbessert.

Hat sich das Europaparlament mit dem Argument der Subsidiarität auseinandergesetzt? Wie begründet man in Brüssel, dass die Geschwindigkeiten europaweit und nicht kommunal geregelt werden sollten?

Julia Levasier: Ich denke, das EU-Parlament hat sich auch in dieser konkreten Thematik mit der Subsidiarität auseinandergesetzt. Grade die Parlamentarier achten meist sehr auf die Einhaltung des Prinzips, denn sie müssen zu Hause in ihren Wahlkreisen über Maßnahmen, die sie in Brüssel mitverantworten, auch in gewisser weise Rechenschaft ablegen. Aber die Sache ist die: Themen, für die keine EU-Kompetenz existiert, werden oftmals trotzdem gezielt von Interessengruppen auf die EU-Ebene "geschoben", weil zu Hause kein Weiterkommen in der Thematik ist. Wie zum Beispiel bei Tempo 30.

Dann steht in der Zeitung: EU-Parlament schreibt Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Städten vor - und jemand, der die genaue Kompetenzverteilung nicht kennt, liest das, und sagt, aha, das EU-Parlament schreibt das vor, dann muss es Sinn machen. Grade Befürworter einer Regelgeschwindigkeit Tempo 30 gehen dann her und sagen, seht her, das EU-Parlament fordert das, dann müssen wir das auch machen. Die Themen wirken dann nämlich wieder zurück auf die nationale Ebene und werden verstärkt. Wenn Sie aber jetzt hergehen würden und einen Parlamentarier befragen, dann würde der vielleicht sogar sagen, (je nach seiner Überzeugung) Tempo 30 überall in Städten macht Sinn - aber ob das tatsächlich eingeführt wird, müssen die Städte selbst entscheiden.

Und noch ein Grund, warum das EU-Parlament sich trotz Subsidiarität mit der Frage befasst: Es fungiert gerne, und das soll die EU-Ebene auch, als Benchmarkgeber in einem Thema.

Wie beurteilen sie die derzeit in Berlin laufenden Experimente zur Einrichtung von Tempo-20-Tonen nach schweizerischem Vorbild?

Julia Levasier: Die Begegnungszone stellt - bezogen auf die zulässige Geschwindigkeit - eine Zwischenform zwischen der Tempo-30-Zone und dem Verkehrsberuhigten Bereich dar. Sie wurde 2002 offiziell in der Schweiz eingeführt und hat mittlerweile auch in Belgien und Frankreich Einzug gehalten.

In der Schweiz sind Begegnungszonen nur für Wohn- und Geschäftsstraßen, nicht aber für Hauptverkehrsstraßen zulässig. Die Höchstgeschwindigkeit ist auf 20 km/h begrenzt, Fußgänger haben gegenüber dem Fahrverkehr Vorrang und dürfen die gesamte Fahrbahn nutzen und überqueren, sofern sie den Fahrverkehr nicht unnötig behindern. Die Anlage von Fußgängerüberwegen ist nicht gestattet. Parken ist nur auf gekennzeichneten Flächen erlaubt, Kinderspiel nur im Seitenraum.

In der Schweiz gibt es aber eben keine Verkehrsberuhigten Bereiche, die Begegnungszone stellt das stärkste Verkehrsberuhigungsinstrument dar. Da dort Fußgängerüberwege nicht angelegt werden dürfen, ist die Anordnung eines generellen Fußgängervortritts nur konsequent.

Die Einführung von Begegnungszonen ist in Deutschland wäre aus Sicht des ADAC nicht sinnvoll. Das deutlich abgestufte Instrumentarium zur Verkehrsberuhigung hat sich weitgehend bewährt und kann örtlich differenziert eingesetzt werden.

Begegnungszonen als dritte Säule der Verkehrsberuhigung könnten das Instrument des Verkehrsberuhigten Bereiches weiter verwässern. Schließlich ist noch heute vielen Autofahrern nicht bewusst, wie sie sich dort zu verhalten haben, was an den häufigen Geschwindigkeitsverstößen und Parkverstößen deutlich wird.

Anstelle der Begegnungszonen favorisiert der ADAC den Verkehrsberuhigten Geschäftsbereich. Dieser gewährleistet ein niedriges Geschwindigkeitsniveau (bei entsprechendem Entwurf mit weicher Separation) und eine Beschränkung des Parkens auf ausgewiesene Stellplätze. Fußgänger können durch Überwege bevorrechtigt werden und über Mittelinseln und -streifen zusätzliche Querungsangebote erhalten.

Unsere Kollegen vom ADAC Berlin -Brandenburg sehen die diskutierte Tempo 20 Zone am Checkpoint Charlie und in der Bergmannstraße nicht als "Begegnungszonen", sondern als "Gefahrenbereiche", die das Gegenteil von dem bewirken, was sie sollen, weil die deutlich voneinander abgetrennten Gehwege, Parkplätze und Straßen erhalten bleiben, weshalb sich die Zonen optisch nicht von einer normalen Straße unterscheiden und so vor allem für Senioren und Kinder ein großes Risiko darstellen.

Gibt es Länder, in denen bereits eine Regelgeschwindigkeit von Tempo 30 gilt?

Julia Levasier: Mir ist kein Land bekannt, wo dies flächendeckend der Fall wäre.

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