Kommunale Armenhäuser

Der Investitionsrückstand von Städten, Gemeinden und Landkreisen ist auf rund 100 Milliarden Euro angewachsen. Betroffen sind vor allem die Bereiche Bildung und Verkehr

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2011 zahlte ein deutscher Arbeitnehmer durchschnittlich 9.943 Euro an den Staat und die Sozialkassen und bescherte damit allein der Sozialversicherung einen Finanzierungsüberschuss von 13,8 Milliarden Euro. Auch die öffentlichen Haushalte wurden ent- oder vergleichsweise wenig belastet. So ging das Jahresdefizit der Kommunen auf 2,9 Milliarden Euro zurück.

Von einer nachhaltigen Trendwende kann trotzdem keine Rede sein. Das vom Deutschen Institut für Urbanistik erstellte KfW Kommunalpanel 2011 beziffert den Investitionsrückstand der deutschen Städte, Gemeinden und Landkreise auf rund 100 Milliarden Euro. Besonders beunruhigend: Die überwiegende Mehrheit der mit knapp 130 Milliarden Euro verschuldeten Kommunen rechnet nicht damit, dass sich an dieser Situation in den nächsten fünf Jahren Entscheidendes ändern wird.

Arme Kommunen, reiche Kommunen

"Diese Entwicklung ist alarmierend", meinte Norbert Irsch, Chefvolkswirt der KfW Bankengruppe, mit Blick auf die gigantische Summe und den eigenartigen Umstand, dass weder die positive wirtschaftliche Entwicklung noch die Konjunkturprogramme der Bundesregierung genügend Impulse für eine Kurskorrektur lieferten.

Der kommunale Investitionsrückstand trifft vor allem den Bildungsbereich, sprich: die Kinderbetreuung und den Zustand der Schulen (27 Milliarden Euro), aber auch den Sektor Verkehr und Infrastruktur (25 Milliarden Euro).

Busso Grabow, Leiter des Bereichs Wirtschaft und Finanzen beim Deutschen Institut für Urbanistik, befürchtet die Entstehung eines "kommunalen Armenhauses", zumal sich die Gesamtsituation in den kommenden Jahren durch die Schuldenbremse, wachsende Pensionslasten und gleichbleibend hohe oder steigende Sozialausgaben noch verschlechtern dürfte. Betroffen seien besonders auch ostdeutsche Kommunen, die perspektivisch mit weniger Fördermitteln der EU und ohne Solidarpakt auskommen müssten.

Derweil bewertete ein Drittel der deutschen Kommunen ihre finanzielle Lage als "befriedigend oder besser" und setzte damit einen gegenläufigen Trend. Ganz im Sinne des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU), der im März stolz verkündete, dass 187 der 2.031 kreisangehörigen Städte, Märkte und Gemeinden schuldenfrei seien.

In Nordrhein-Westfalen fällt die Zahl der Musterschüler mit 15 von 396 bescheidener aus. Hier ist die Schuldenfreiheit der Gemeinde Velen im Kreis Borken dem Bund der Steuerzahler bereits eine eigene Meldung wert.

Drei Viertel der vergleichsweise wohlhabenden Kommunen gehen davon aus, dass ihre vorteilhafte Lage in den kommenden Jahren stabilisiert oder noch verbessert werden kann. Bei den finanzschwachen Städten, Kreisen und Gemeinden besteht dagegen kaum eine Chance, der Abwärtsspirale zu entkommen. "Die Schwachen werden schwächer und die Starken werden noch stärker", prophezeit der Chefvolkswirt der KfW Bankengruppe.

Das ist keine neue Erkenntnis. Auf das drohende Auseinanderklaffen der Schere zwischen armen und reichen Kommunen machte unter anderem der Kommunale Finanz- und Schuldenreport Deutschland bereits vor vier Jahren aufmerksam.

"Problemgebiet Nummer eins in Deutschland"

"Gestern noch Kulturhauptstadt, heute Armenhaus der Republik." Das Ruhrgebiet ist immer für Schlagzeilen gut, doch Imageförderndes hört man kaum noch, seit der Kulturhauptstadttross weitergezogen ist und den Einheimischen nicht viel mehr als eine aufmunternde Evaluation hinterlassen hat.

Der Aufstand, den westdeutsche Kommunalpolitiker gegen den Solidarpakt Ost proben, ist demnach mehr als ein griffiges Wahlkampfthema, das SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft ("Jetzt ist der Westen dran") aktuell gut ins Konzept passt.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband charakterisierte die Entwicklung im Ruhrgebiet bereits im Dezember als "besonders besorgniserregend". Der Westen der Republik sei das "Problemgebiet Nummer eins in Deutschland", hieß es anlässlich der Vorstellung des Armutsberichts 2011. Kein einziger Ruhrgebietskreis liegt in dieser Studie unter dem Armuts-Durchschnitt von 9,8 Prozent - die These scheint sich aber auch im kommunalen Detail zu bewahrheiten.

So hat die relative Armut in der Stadt Dortmund seit 2005 um 24 Prozent zugenommen – von 18,6 auf 23 Prozent – eine Quote, die noch über der von Mecklenburg-Vorpommern liegt. In Duisburg waren es sogar 26 Prozent Zunahme (…). Diese dramatische Entwicklung des Ruhrgebiets wird durch die Hartz IV-Zahlen noch unterstrichen. So waren im Juli 2011 in Dortmund und Duisburg 17,8 Prozent der Einwohner bis 65 Jahren auf Hartz IV angewiesen, in Essen waren es 18,2 Prozent und in Gelsenkirchen sogar 21,6 Prozent.

Paritätischer Wohlfahrtsverband: Armutsbericht 2011

Ursachenforschung

Die prekäre Lage im Westen ist allerdings – zu einem nicht unbeträchtlichen Teil – hausgemacht. Die Personalkosten vieler Kommunen stehen in keinem Verhältnis zu ihren finanziellen Möglichkeiten und zum sachlichen Ertrag. Dass sich Städte wie Dortmund, Oberhausen oder Gelsenkirchen am Rande der Zahlungsunfähigkeit in bizarre Beteiligungsabenteuer stürzen, an teuren Prestigeobjekten festhalten oder dieselben auf den Weg bringen, trägt ebenfalls nicht zur finanziellen Entspannung bei.

Niemand zwingt Dortmund einen Flughafen zu betreiben, der 20 Millionen Miese macht, Bochum, auf Teufel komm raus, ein neues Konzerthaus zu bauen oder Duisburg, sich kreditfinanziert am Kauf des Energiekonzerns Steag zu beteiligen. Unverschuldete Armut und teure Großmannssucht liegen im Ruhrgebiet nah bei einander.

Stefan Laurin/Ruhrbarone

Schließlich sind da die strukturellen Probleme: hohe Sozialkosten - für 2012 rechnet der Deutsche Städte- und Gemeindebund mit etwa 45 Milliarden Euro - oder die durch Milliardensubventionen verzögerte Anpassung an einen grundlegenden wirtschaftlichen Wandel. Sie treffen nicht nur Nordrhein-Westfalen und das Ruhrgebiet, sind hier aber besonders augenfällig.

Zeitreise mit der CDU

Nachdem die sportive Regierungsparole "Mehr Netto vom Brutto" zur viel zitierten Lachnummer mutiert ist, droht eine weitere Herzensangelegenheit der Union zum Bumerang zu werden und das Finanzdebakel der Kommunen weiter zu verschärfen. Das Kinderförderungsgesetz garantiert für alle unter Dreijährigen ab dem 1. Juli 2013 einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz. Die anvisierte Betreuungsquote von 35 Prozent sorgt selbst in kleinen Gemeinden schon ein gutes Jahr vorher für helle Aufregung und kontroverse Diskussionen.

Der Deutsche Städte-und Gemeindebund moniert, dass derzeit noch mehr als 200.000 Betreuungsplätze und darüber hinaus Tausende von Erzieherinnen und Tagesmüttern fehlen, um den Rechtsanspruch sicherzustellen und einer Klagewelle enttäuschter Eltern zu entkommen. Kein wirkliches Problem für den harten Kern der CDU, der mit einem Beschluss des Bundesvorstandes nicht nur Geld sparen, sondern auch ein altbekanntes Familienmodell reaktivieren und wie in früheren Zeiten vertrauensvoll auf die ländliche Klientel setzen wollte.

Gerade auf dem Land entscheiden sich viele Eltern dafür, ihre Kinder in den ersten Lebensjahren zu Hause selbst zu betreuen. Ihr Familienmodell hat unseren Respekt und unsere Unterstützung. Wir werden deshalb ab dem Jahr 2013 als zusätzliche Anerkennungs- und Unterstützungsleistung ein Betreuungsgeld in Höhe von zunächst 100 Euro für das zweite und ab dem Jahr 2014 von 150 Euro für das zweite und dritte Lebensjahr des Kindes einführen.

Entwurf eines Beschlusses des Bundesvorstandes der CDU Deutschlands

Doch damit nicht genug. Neben Mama und Papa sollen auch Oma und Opa in den Genuss einer "Elternzeit" kommen – so sieht es das Positionspapier "Starkes Land – gute Heimat: Unser Programm für lebendige ländliche Räume" vor.

In ländlichen Gegenden übernehmen zudem oft Großeltern, Verwandte und Nachbarn Verantwortung in der Kinderbetreuung und verdienen höchste Anerkennung. Analog zur dreijährigen Elternzeit werden wir eine Großelternzeit einführen, damit Großeltern leichter eine Auszeit vom Beruf nehmen können, wenn sie sich um ihre Enkel kümmern.

Entwurf eines Beschlusses des Bundesvorstandes der CDU Deutschlands

Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) bekommt angesichts dieser Pläne ebenso das kalte Grausen wie Hamburgs Ex-Bürgermeister Ole von Beust (CDU), die sich in der ARD gemeinsam gegen das Betreuungsgeld positionierten. Buschkowsky wittert einen "der schlimmsten Rückfälle der deutschen Politik", wenn Prämien dafür bezahlt werden sollten "dass jemand sinnvolle staatliche Angebote nicht in Anspruch nimmt".

Innerhalb der CDU sind die Pläne ebenfalls umstritten. Der für Montag (16. April) vorgesehene Vorstandsbeschluss wurde jedenfalls verschoben. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe hat tatsächlich einige Punkte entdeckt, "die der intensiveren Erörterung bedürfen".

Piraten diskutieren kommunales Insolvenzrecht

Man braucht kein Prophet zu sein, um den Streitthemen Finanzen und Schulden eine steile Karriere in den bevorstehenden Wahlkämpfen vorauszusagen. Schließlich reicht seine Spannbreite von der Euro-Krise bis zum drohenden Kollaps klammer Kommunen.

Folgerichtig drehen sich zahlreiche politische Auseinandersetzungen im Vorfeld der Urnengänge in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen mehr oder weniger ausschließlich um die Frage, wie die Sanierung der öffentlichen Haushalte mit der Notwendigkeit sinnvoller Zukunftsinvestitionen in Einklang gebracht werden kann.

Auch die Piratenpartei hat die Zeichen der Zeit erkannt und spricht sich in beiden Bundesländern – wie schon im Saarland – grundsätzlich für die Einhaltung der Schuldenbremse aus. Die Nord-Piraten gehen aber noch einen Schritt weiter und plädieren angesichts der finanziellen Notlage von Städten, Gemeinden und Kreisen für die die "Einführung eines kommunalen Insolvenzrechts".

Seit geraumer Zeit wird in der Wissenschaft die Möglichkeit der Schaffung eins Insolvenzrechts für Kommunen diskutiert. Diese Diskussion stößt in der Politik bisher auf taube Ohren, dabei könnte ein kommunales Insolvenzrecht eine Art Befreiungsschlag für zahlreiche Kommunen in Schleswig-Holstein darstellen. Wir scheuen uns nicht davor, neue und unkonventionelle Wege zur Problemlösung zu gehen und hierzu gehört auch die Möglichkeit eines Insolvenzrechts für Kommunen.

Wahlprogramm der Piratenpartei Schleswig-Holstein