Wissen ist Macht

Mit Charles Dickens bei den Rittern

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Schon wieder gibt es "die beste Fernsehserie aller Zeiten". Nach The Sopranos, The Wire, Mad Men und so weiter jetzt also Game of Thrones, ein Fantasy-Epos mit Rittern und Drachen. Die brachenübliche Inflation der Superlative ändert nichts daran, dass auch der neueste Publikumshit des Kabelanbieters HBO eine erfreuliche Tendenz der letzten Jahre bestätigt: Die anspruchsvolle, nicht an den dümmsten aller denkbaren Zuschauer gerichtete Fernsehserie ist die Wiedergeburt des Fortsetzungsromans als DVD-Box. Eine Bestandsaufnahme mit drei Penissen. "It’s not TV, it’s HBO!"

When you play the Game of Thrones you win or you die. There’s no middle ground.

Cersei Baratheon, geb. Lannister

Wer das Buch A Game of Thrones gelesen hat, den ersten Band von George R. R. Martins Fantasy-Tetralogie A Song of Ice and Fire, weiß genau, wie die TV-Serie anfangen wird. Ein vergittertes Tor wird hochgezogen. Drei Männer, im Hintergrund eine Burganlage, warten darauf, in einen dunklen Tunnel reiten zu können. Der Tunnel führt durch eine gigantische Mauer aus Eis und Stein, hinein in eine bewaldete Winterlandschaft. Wenn die Männer keine Schwerter hätten, könnte das ein Western sein. Eine Patrouille der Kavallerie reitet aus dem Fort in den Wald, um auszukundschaften, was die Indianer gerade treiben. Wir könnten uns auch in einem Römerfilm wie Gladiator oder The Fall of the Roman Empire befinden. Drei Legionäre haben sich in den Wald getraut und werden jetzt gleich von den Germanen überfallen.

Mauer im Kopf

In Game of Thrones wohnen im Wald die "Wildlinge". Das sind Menschen, die das Pech hatten, auf der falschen Seite zu sein, als vor Tausenden von Jahren die Eismauer gebaut wurde. Seither fristen sie hoch im Norden des fiktiven, vage an die britische Insel erinnernden Kontinents Westeros ein primitives Dasein in einer Stammesgesellschaft, während sich im Süden der Mauer eine mittelalterlich anmutende Zivilisation entwickelt hat. Die von den Männern der Night’s Watch gesicherte Mauer wurde offenbar errichtet, um den Rest des Kontinents vor den White Walkers zu schützen. Im Roman heißen sie "die Anderen". Das scheinen unheimliche, vampirartige Wesen zu sein, die in die Körper ihrer Opfer schlüpfen können.

Einer der drei Männer, Will, entdeckt im Wald die Spuren eines Massakers. Die Körperteile getöteter Wildlinge sind angeordnet wie für ein bizarres Ritual. Als Will die beiden anderen Ranger zu diesem Ort des Grauens führt, sind die zerstückelten Leichen verschwunden. Als wieder zusammengesetzte Zombies mit unnatürlich blauen Augen töten sie Wills Gefährten. Nur Will kann entkommen. Oder hat er sich alles eingebildet? Das ist ein starker Anfang, weil er nicht nur spannend ist, sondern unsere Phantasie in Gang bringt und eines der großen Themen von Game of Thrones anspricht. Die Mauer, die da zweihundert Meter in den Himmel ragt, ist auch eine im Kopf. Wenn eine Gruppe auf die andere schaut (der Norden auf den Süden, die Familie Stark auf die Familie Lannister, Familienmitglieder untereinander), sieht sie etwas, das wirklich da ist oder vielleicht doch nur eine Projektion der eigenen Wunsch- oder Angstvorstellungen und Vorurteile. In Westeros gibt es einige, die an die Existenz der White Walkers glauben. Und es gibt die Mehrheit, die denkt, dass sie längst ausgestorben sind oder schon immer ein Mythos waren. Die Mauer aber bleibt bestehen. Sie wird nur schlecht gewartet.

Schutzwälle und sonstige Mittel zur Abgrenzung dem Fremden gegenüber erweisen sich - in der Serie noch mehr als in der Romanvorlage - als Spiegelachse, weil die Bedrohung den Helden, als verzerrtes Abbild ihrer selbst, näher ist, als ihnen lieb sein kann. Auf der einen Seite der Mauer, im Wald, taucht ein Hühne mit blauen Augen auf (ein White Walker in Menschengestalt), der einem aus der Nachtwachen-Patrouille mit einem Schwert den Kopf abschlägt. Will, der einzige Überlebende, desertiert aus der Night’s Watch. Darauf steht die Todesstrafe. Als er auf der anderen Seite der Mauer aufgegriffen wird, vollstreckt Lord Eddard (Ned) Stark, eine Art Gouverneur im nördlichen Teil von Westeros, das Urteil. Er schlägt Will mit einem Schwert den Kopf ab. Dafür nennt er Gründe, aber vielleicht hätte der White Walker auch welche, wenn man ihn fragen würde. So haben sich schon nach wenigen Minuten der Serie die Trennlinien verwischt.

Man beginnt zu ahnen, dass Ned Stark (Sean Bean, Boromir in The Lord of the Rings), der in Schwarz-Weiß-Mustern denkende Veteran vergangener Schlachten, in dieser Welt nicht reüssieren wird. David Benioff und D. B. Weiss, die Drehbuchautoren der Serie, untergraben Neds Position noch stärker als Martin im Roman, indem sie in mehreren Dialogen darauf hinweisen, dass Will durch die Geschehnisse jenseits der Mauer verrückt geworden sein könnte. Mit heutigem Vokabular: Will leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ned Stark, der zwei blutige Kriege geführt hat und selbst ein PTBS-Kandidat ist, will diese Möglichkeit nicht zulassen und hält an den althergebrachten Regeln (Tod für Deserteure) fest. In einem mittelalterlich-imaginären Feudalstaat ist das nicht weiter verwunderlich. Wenn man es zum Amerika der Jetztzeit in Bezug setzt, wird es sehr beunruhigend. Da erfährt man mit jedem Tag mehr, dass die alten Lösungen für die neuen Probleme nicht mehr taugen. Die Populärkultur hat ein feines Sensorium für aktuelle Verwerfungen, für das Brodeln unter der Oberfläche. Den Erfolg von Game of Thrones erkläre ich mir auch damit, dass hier trotz Rittern, Drachen und Vampiren immer drängender werdende Themen zur Sprache kommen, also das Gegenteil von Eskapismus betrieben wird.

Der amerikanische Tolkien trifft den Sohn von Gaddafi

Die Welt jenseits der Mauer bleibt zunächst unterbelichtet, weil sich Martin vorgenommen hat, ein monumentales Epos zu erschaffen. Dafür muss er nach dem Beginn im Norden in die anderen Himmelsrichtungen reisen und außerdem die Vorgeschichte erzählen. Hier einige Orientierungspunkte: Vor 300 Jahren hat der Ahnherr des Hauses Targaryen die sieben Königreiche von Westeros per Eroberungskrieg vereinigt. Einer seiner Nachfahren, König Aerys II., litt an Größenwahn, wollte Menschen und Städte brennen sehen wie dereinst Kaiser Nero und wurde gestürzt. Die Anführer der Revolte waren Ned Stark und sein brüderlicher Freund Robert Baratheon, der seitdem auf dem eisernen, aus den Schwertern der Unterworfenen geformten Thron von Westeros sitzt. Viserys und Daenerys (Dany) Targaryen, die beiden überlebenden Kinder des verrückten Königs Aerys, leben in Essos, einer östlich von Westeros gelegenen und von diesem durch eine Meerenge getrennten Landmasse im Exil. Viserys (Harry Lloyd) verkauft seine Schwester Dany an Khal Drogo, eine Art Kriegshäuptling des plündernd und mordend durch die Lande ziehenden Reitervolks der Dothraki. Drogo soll ihm dafür bei der Rückeroberung des verlorenen Throns von Westeros helfen. Weil aber die Dothraki die Dinge auf ihre Weise angehen und sich nicht hetzen lassen, bewegt sich die wilde Horde erst einmal in die entgegengesetzte Richtung …

Martin verwebt drei Erzählstränge miteinander. Der eine beschäftigt sich mit den Geschehnissen an der Mauer aus Eis, ein anderer mit dem Ausbruch eines neuen Bürgerkriegs in Westeros, der dritte mit Danys Abenteuern in Essos. Ursprünglich sollte es eine Trilogie werden. Mittlerweile ist die Saga auf sieben Bände ausgelegt, von denen bisher fünf erschienen sind. Band 5 lässt, wie man hört, noch immer vieles im Dunkeln. Weil so manches rätselhaft bleibt, scheint ein - nach den Meinungsäußerungen in den Internetforen zu schließen - signifikanter Teil der Fans allmählich das Vertrauen zu verlieren, dass der Autor je die von ihm geweckten Erwartungen erfüllen und ein in sich stimmiges Gesamtbild abliefern wird. Martin hat zuletzt mehrfach verlauten lassen, dass er die komplizierte Geschichte im Griff hat, dass die fehlenden beiden Romane weiter nach Norden zu den White Walkers vordringen sollen als je zuvor und dass sich alles klären wird.

In seinem Interesse und in dem der Leser ist ihm eine gute Gesundheit zu wünschen. Der bisher kürzeste der Romane hat 704 Seiten (US-Hardcover, mehr im Taschenbuch), der längste 992. Martin wird im September 74 und der Zeitraum zwischen dem Erscheinen der einzelnen Bände wie bei Kubrick-Filmen immer länger. Falls HBO den Plan durchhält, jedes Jahr einen Roman ins Fernsehen zu bringen, dürfte das noch interessant werden. Zwischen dem Erscheinen von Band 3 (2000) und 4 (2005) vergingen fünf Jahre, zwischen 4 und 5 (2011) waren es sechs. Demnach wäre 2018 mit Band 6 zu rechnen und 2026 mit dem Schluss. Time will tell.

Ein Vorhaben von solch monumentalen Ausmaßen schreit nach medialer Hyperbolik in den darauf spezialisierten Organen. Das Magazin Time hat Martin 2011 in die Liste der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten aufgenommen - da ist er jetzt in Gesellschaft von Marine Le Pen, Angela Merkel, Kate Middleton, Gaddafi junior sowie der längst abgeschmierten Michele Bachmann - und ihn außerdem zum "amerikanischen Tolkien" ernannt. Nach der Lektüre von Band 1 halte ich das für etwas hoch gegriffen (dass Time und HBO zum selben Konzern gehören, ist aber bestimmt der pure Zufall). Obwohl ein Aficionado der langen Form, bin ich reif für eine Pause. Mein persönliches Leseerlebnis: Ich war im letzten Drittel des Buchs, als ich das Ende der ersten Serienstaffel erreicht hatte. Das Weiterlesen fiel mir danach schwer, weil sich die Serie recht genau an die Romanhandlung hält und ich im Buch nicht mehr viel entdecken konnte, was die im Fernsehen erzählte Geschichte vertieft und vielschichtiger gemacht hätte.

Die Serie gefällt mir besser, weil sie konzentrierter, präziser und kunstfertiger konstruiert ist als der Roman, der für meinen Geschmack wenig bietet, wozu nicht auch ein visuelles Medium in der Lage wäre. Bei The Lord of the Rings ist es ganz anders. Tolkien kann man auch noch gut lesen, wenn man die Filmversion von Peter Jackson gesehen hat, ohne sich zu langweilen. Mir zumindest geht das so. (Wer Tolkien schon kennt und ein mythopoetisches, überbordendes, mit bizarren Einfällen gespicktes Buch über Intrigen, Religionshumbug, Inzest, den Kampf der Mächte des Lichts mit denen der Finsternis und Sex mit Feen sucht, lese den Roman Ancient Lights, den Davis Grubb mit letzter Kraft vollendete, bevor er starb. Ein Buch, geschrieben mit der Verwegenheit des Todgeweihten und garantiert ohne Folgebände.)

Mit Blackwater in Westeros

Trotz des bisher Gesagten - jetzt kommt das Positive - lassen sich der echte und der amerikanische Tolkien sehr wohl miteinander vergleichen. Für mich ist Der Herr der Ringe ein Buch über den Zweiten Weltkrieg, und nicht das schlechteste. Martin, geboren 1948, stammt aus einfachen Verhältnissen und entging dem Krieg in Vietnam, weil er als anerkannter Verweigerer Ersatzdienst leistete. Seinen vor A Song of Ice and Fire verfassten Werken, besonders The Armageddon Rag (keine Fantasy, sondern ein Krimi über der Mord am ehemaligen Manager einer Rockband namens Nazgûl, womit wir wieder bei Tolkien wären) merkt man an, was für eine prägende Erfahrung der Vietnamkrieg für ihn war, auch wenn (oder gerade: weil?) er sich ihm auf verschlungenen Wegen nähert.

Es gibt eine ganze Reihe von amerikanischen, in populären Genres arbeitenden Autoren aus der Vietnam-Generation, die früher als ihre im Feuilleton gepriesenen Kollegen von der "anspruchsvollen" Literatur registrierten, dass in vermeintlichen Friedenszeiten eine schleichende Militarisierung stattfand, dass eine kastenartige, nach eigenen Regeln operierende und von privaten Sicherheitsfirmen gebildete und von Politikern geförderte Gesellschaft in der Gesellschaft entstand (am deutlichsten wird das in A Catskill Eagle, einem Spenser-Krimi von Robert B. Parker). Die lange Entstehungszeit von Martins Rittersaga fiel in eine Phase, in der die USA wieder zur (offen) kriegführenden Nation wurden und ständig steigende Summen an private Unternehmen zahlten, die bei Auslandseinsätzen militärische Aufgaben übernehmen.

Unter dem Eindruck des in Vietnam erlebten Desasters wurde in den USA die Wehrpflicht ausgesetzt, wurden die Streitkräfte in eine Freiwilligenarmee umgewandelt. Inzwischen leistet noch etwa ein Prozent der US-Bevölkerung Militärdienst. Stark überrepräsentiert sind gesellschaftlich benachteiligte Gruppen, die außerhalb der Armee kaum Chancen hätten. Die Night’s Watch in Game of Thrones rekrutiert sich vornehmlich aus Leuten, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind und die sich "freiwillig" melden, um Schlimmerem zu entgehen. Es wäre falsch, hier direkte 1:1-Verbindungen herzustellen (alle US-Soldaten waren vorher Verbrecher). Gezeigt wird aber eine Truppe, die aus sozial Deklassierten besteht, die fernab vom Rest des Landes gegen einen nur vage definierten Feind kämpft und mit der der große Rest der Bevölkerung kaum in Berührung kommt. Zu den US-Einheiten im Irak oder in Afghanistan ist es von da nicht mehr weit.

Wer Mitglied der Night’s Watch wird, bleibt es ein Leben lang, darf keine Frau und keine Kinder haben. In gewisser Weise ist das noch gnädig, wenn man an eine Gesellschaft mit ungerechter Chancenverteilung denkt, in der die soziale Position nicht nur so gut wie unentrinnbar ist, sondern von Generation zu Generation vererbt wird. Und es ist die Perfektionierung eines Systems, in dem sich das Kriegführen dadurch leichter vermitteln lässt, dass eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe in fernen Regionen den Kopf hinhält, während die große Mehrheit davon nicht direkt berührt wird. Ohne Familie wird diese Gruppe noch überschaubarer, und weil es keinen Heimaturlaub gibt, kann man sie rasch vergessen. So findet dieser Krieg abseits des allgemeinen Bewusstseins statt. Sonderaufgaben werden durch den privatwirtschaftlichen Sektor abgewickelt. In Game of Thrones gibt es den Söldner Bronn. Am Vorabend der ersten Schlacht erfahren wir, dass er schon jenseits der Mauer war, obwohl er nicht zur Night’s Watch gehört. Was hat er da gemacht? In wessen Auftrag?

Wenn es Bronn nicht schon im Roman gäbe, hätte man ihn für die Serie glatt erfinden müssen. Indem sie den Norden mit dem Süden verbindet, verdeutlicht diese Figur, dass sich der Krieg eben doch nicht geographisch begrenzen lässt. Überall in Game of Thrones trifft man auf Kinder, die das Kämpfen lernen (wir sind dabei, wenn zwei von den Stark-Geschwistern den ersten Feind töten, bevor sie den ersten Sex hatten) sowie auf Veteranen früherer Auseinandersetzungen mit angeknackster Psyche. Seit mehr als zehn Jahren führen die USA nun Krieg. Weil dafür nur eine begrenzte Zahl von Soldaten zur Verfügung steht, waren mehr als 100 000 von ihnen dreimal oder öfter im Kampfeinsatz. Was das für Langzeitfolgen haben wird, weiß kein Mensch (das Schicksal der Vietnam-Veteranen lässt wenig Raum für Optimismus). Mehr als zwei Millionen US-Soldaten waren inzwischen in Afghanistan und/oder im Irak. Je nach Studie, die man liest, leiden zwischen achtzehn und dreißig Prozent davon an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Den zuständigen Institutionen fehlen die Kapazitäten (und oft auch der Wille), das verlässlich zu diagnostizieren. Ausreichende Behandlungsmöglichkeiten existieren ohnehin nicht. Game of Thrones ist nicht zuletzt das Psychogramm einer kriegführenden Nation. Von den Ritterrüstungen darf man sich nicht täuschen lassen. Die Serie gehört in eine Reihe mit Filmen wie Black Hawk Down, In the Valley of Elah und The Hurt Locker.

Rentenversicherung und geistige Altersarmut

Was auf Deutschland noch zukommen wird, das sich seit einem Jahrzehnt am Hindukusch verteidigt, ist auch nicht klar. In einem Land, wo der Verteidigungsminister schon als mutig gilt, wenn er den Krieg als Krieg bezeichnet (bezeichnenderweise ging das mit dem Entschluss einher, die Bundeswehr zur Freiwilligenarmee umzubauen), wäre eine ehrliche Debatte darüber dringend erforderlich. Eine qualitativ hochwertige Serie wie Game of Thrones, die dazu einen Beitrag leistet, ist vom deutschen Fernsehen derzeit nicht zu erwarten. Während ich das schreibe, jubiliert die ARD über die 1500. Folge von Sturm der Liebe. Da könnte man verzweifeln, wenn es nicht noch den 200. Geburtstag von Charles Dickens zu feiern gäbe. ARD und ZDF erinnerten sich an ihren Bildungsauftrag und brachten rund um den 7. Februar ein paar kurze Beiträge in ihren ins Spätprogramm und in die Spartensender abgeschobenen Kulturmagazinen. Damit war das Thema durch.

Eigentlich wäre der Geburtstag des großen Romanciers eine gute Gelegenheit gewesen, über die von Dickens favorisierte Erzählform nachzudenken und darüber, was das Fernsehen daraus lernen könnte. Die Amerikaner machen es uns seit Jahren vor (Game of Thrones, wo die Kreativen wissen, was sie tun, würdigt Dickens in der Figur des Samwell Tarly, die aus Mr. Pickwick und seinem Diener Sam Weller zusammengesetzt ist). David Copperfield, Bleak House oder Our Mutual Friend erschienen zuerst in Fortsetzungen, wurden zwischen den einzelnen Lieferungen eifrig diskutiert und dann auch als Buch veröffentlicht. Übertragen auf die Fernsehserie wäre das Buch die DVD-Box. Ein Forum für die Diskussion während der Erstausstrahlung bieten die Blogs im Internet (zu Game of Thrones etwa das Blog von Sarah Hughes beim Guardian). Oft wird da eifrig über Dramaturgie und Figurenkonstellationen debattiert. Anhand der DVDs lässt sich das vertiefen. So entsteht eine kleine, aber feine (und größer werdende) Zielgruppe, von der sich das deutsche Fernsehen verabschiedet hat, und umgekehrt.

Dickens’ phänomenaler Erfolg ist nicht nur darin begründet, dass das Publikum so schön mit Little Nell leiden konnte (The Old Curiosity Shop) oder Pips unglückliche Liebe zu Estella so anrührend war (Great Expectations). Dickens beherrschte auch souverän sein Handwerk (seine ästhetischen Mittel und seine Erzähltechniken übernahm später das kommerzielle Kino), und er versuchte, den Lesern die Welt zu erklären. Letzteres ist auch der Ehrgeiz einiger herausragender Fernsehserien, die das Unternehmen HBO in den vergangenen zehn Jahren für seine Abonnenten produzieren ließ. The Sopranos interessiert sich dafür, wie die Mafia funktioniert (oder eben nicht), in Deadwood ist es der Wilde Westen, in The Wire die moderne Großstadt, in Big Love der religiöse Fundamentalismus. Game of Thrones setzt in einer Mischung aus Fantasy- und Mittelalter-Ambiente fort, was mit Rome begonnen wurde: die Sektion eines durch Mord und Intrigen zusammengehaltenen Imperiums. Ob das immer so geglückt ist, weiß ich nicht genau. Die vorab ausgestoßenen Jubelschreie über die "beste Serie aller Zeiten" scheinen mir mehr dem brachenüblichen Hype als einer nüchternen Bestandsaufnahme geschuldet. Sehenswert ist die Serie aber trotzdem. Und da bisher gerade mal die erste von angepeilten sieben Staffeln lief, kann sogar noch der ganz große Wurf gelingen.

Wer die Welt erklären will, entwirft gern ein breit gefächertes Gesellschaftspanorama. Dafür braucht man Zeit. Bei Game of Thrones dauert es bis Episode 5. Dann sind die Figuren in Stellung gebracht, und die Geschichte nimmt richtig Fahrt auf. Das klappt nur in Verbindung mit einem Publikum, das etwas Geduld mitbringt und bereit ist, sich auf ein kompliziertes Beziehungsgeflecht einzulassen. Der kommerzielle Erfolg beweist, dass ein solches Publikum durchaus existiert. Am erstaunlichsten an solchen Serien ist, mit welcher Selbstverständlichkeit mittlerweile das große Tabu der Fernsehunterhaltung gebrochen wird. Gefordert ist der Zuschauer, der über der Zerstreuung das Mitdenken nicht vergisst. Wer willens ist, auf die in sich abgeschlossene Episode zu verzichten, eine längere Wegstrecke mitzugehen, sich auf der Reise auch mal verwirren zu lassen und eine vorgefasste Meinung zu ändern, wer eine intellektuelle Eigenleistung erbringt, statt auf den erklärenden Dialog zu warten (oder einzudösen), steigert dadurch sein Vergnügen.

Als Anbieter auf dem Abonnentenmarkt muss die Firma HBO ihre Programme nicht durch Werbung unterbrechen. Trotzdem bleibt HBO ein Wirtschaftsunternehmen. Aufwändige Produktionen wie Game of Thrones rechnen sich nur durch die Mehrfachvermarktung: Ausstrahlung im Fernsehen, DVD und Blu-ray, Verkauf von Merchandising-Produkten und so weiter. Auch in dieser Hinsicht ist die Serie sehr gut gemacht. Konzipiert für das Sehen im Wochenrhythmus, sind doch geschickt Informationen eingestreut, die man nach Ablauf einer Woche mit großer Wahrscheinlichkeit nur erkennen und sinnvoll verbinden kann, wenn man über ein photographisches Gedächtnis verfügt (der Geschichte kann man auch ohne sie gut folgen). Beim Anschauen in kürzeren Abständen wird das Erkennen gleich viel leichter. So entsteht ein Mehrwert beim DVD-Konsum. Dieses Austarieren zwischen Fernseh- und DVD-Erfordernissen gelingt nicht immer gleich gut. Insgesamt jedoch haben die neuen, zu recht gepriesenen US-Serien ein handwerkliches Niveau erreicht, an dem auch Dickens nicht viel zu bekritteln hätte und von dem man hierzulande meist nur träumen kann, obwohl das gebührenfinanzierte Fernsehen eigentlich wie gemacht für solche den großen Erzählbogen spannenden Unternehmungen wäre.

Dominik Grafs Im Angesicht des Verbrechens war der sehr respektable Versuch, den Beweis zu erbringen, dass wir in punkto Qualität und bei der Erklärung komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge mit den Amis mithalten können. Graf und sein Drehbuchautor Rolf Basedow begingen jedoch die Todsünde, für die zehnteilige Serie eine auf zehn Teile ausgerichtete Dramaturgie zu entwickeln. Das hätte den langen Atem erfordert, den die alte Dame ARD nicht mehr hat. Was bei US-Serien als Qualitätsmerkmal gilt, erschreckte nur (durch Verfehlen der angestrebten Quote) und führte zur Verbannung des Intelligenz-Verbrechens ins Nirvana des Spätprogramms, wo die finalen Episoden schneller als geplant versendet wurden, um sie loszuwerden.

Immerhin glaube ich, inzwischen verstanden zu haben, warum ich Rundfunkgebühren überweisen muss. Es ist wie bei der Rentenversicherung. Vor meiner Zeit wurde ein "Generationenvertrag" geschlossen, von dem ich nichts mehr haben werde. Darum führe ich jetzt Geld ab, damit Senioren und geistige Frührentner weiter Sturm der Liebe, Forsthaus Falkenau und Florian Silbereisen sehen dürfen. Wer der geistigen Altersarmut vorbeugen will, investiert in eine private Zusatzversicherung und kauft sich DVDs. Wer sich das nach Zwangsgebühren und sonstigen Kosten nicht mehr leisten kann, surft vielleicht im Internet und stößt auf hilfreiche Erfahrungsberichte wie diesen hier.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.