Gebrauchtes Ich, günstig abzugeben

Bei der Erforschung des Bewusstseins ziehen Philosophen und Neurowissenschaftler erstmals an einem Strang. Neuerdings schaffen sie dabei gemeinsam eine alte Gewohnheit namens Ich ab

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Jede Nacht ziehen phantastische Geschichten und Erlebnisse an uns vorbei, ohne dass wir sie bewusst erleben. Dann klingelt der Wecker. Wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass das Ich des gestrigen Tages wieder auftaucht und wir einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen. Anders als im Traum haben wir nach dem durchdringenden Weckton sofort eine persönliche Perspektive auf die Welt. Aber wie schaltet das Gehirn zwischen einer Welt mit und ohne Ich um?

Man müsste diese innere Perspektive irgendwie untersuchen können. Da wir häufig voller Ideen, Vorhaben und Gedanken sind, kommen wir schnell an die Inhalte des Bewusstseins. Die zugrundeliegende Struktur jedoch, die jeden Morgen wieder den persönlichen Untergrund bildet, blieb bisher unerforschbar.

Meine Seele ist ein verborgenes Orchester; ich weiß nicht, welche Instrumente, Geigen und Harfen, Pauken und Trommeln es in mir spielen und dröhnen lässt. Ich kenne mich nur als Symphonie.

Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe

Immer mehr objektiv arbeitende Neurowissenschaftler wenden sich der Meditation und damit der inneren, subjektiven Perspektive zu. Nach Jahren des Meditierens können vor allem buddhistische Mönche die sprichwörtliche innere Ruhe gewollt herstellen. Sie sind auch in der Lage, sich über einen langen Zeitraum auf einen einzigen Inhalt zu fokussieren, selbst wenn Forscher sie während der Meditation mit wechselnden Bildern traktieren.

2001 begann der Amerikaner Richard Davidson die Forschung mit tibetischen Geistlichen. Er konnte zeigen, dass Menschen mit jahrzehntelanger Erfahrung extreme Aktivitätsmuster im präfrontalen Kortex aufwiesen, also der linken vorderen Seite des Gehirns, die man Glücksempfindungen zuschreibt. Im Vergleich zu Kontrollpersonen zeigten seine Studien, dass die meditationserfahrenen Gehirne dauerhaft anders funktionierten. 2007 wiesen Giuseppe Pagnoni und Milos Cekic nach, dass langjährige Erfahrung in Zen-Meditation den altersbedingten Abbau der grauen Substanz im Gehirn verlangsamt. Eine Meta-Analyse vieler solcher Studien des Baseler Physiologen Paul Grossman brachte zum Vorschein, dass Meditation einen signifikant positiven Effekt hat bei verschiedenen Krankheiten wie chronischen Schmerzen, Herzproblemen, Depression oder Ängsten.

Wir sind offensichtlich in der Lage, unser Gehirn willentlich umzuprogrammieren. Im Umkehrschluss müsste die Funktion der grauen Zellen einen engen kausalen Zusammenhang mit unserem Bewusstsein bilden. Die ureigenste Eigenschaft des westlichen Ich-Begriffs ist jedoch das Durchsetzen eigener Wünsche und Motive. Genau das ist in der Meditation eigentlich nicht sinnvoll. Die innere Ruhe wird durch solche persönlichen Bezüge gestört.

Es verwundert daher nicht, dass buddhistische Traditionen das Ich als eine ungünstige Schimäre bezeichnen. Erleuchtung erreicht erst, wer diese Perspektive auf die Welt zugunsten des All-Erlebens überwunden hat (samadhi). Was aber Überschreiten die weisen Yogis bei ihren jahrelangen Meditationen auf dem Weg zur Einheit mit dem All? Einen berühmten ersten Hinweis erhalten wir in Descartes Satz "cogito, ergo sum". In seiner sechsten Meditation erklärte er 1641, dass man prinzipiell an allem zweifeln könne, was einem in den Sinn kommt, nicht aber an demjenigen, der zweifle. Der Rest sei ausgedehnter Raum in drei Dimensionen, der mit dem angefüllt ist, was wir seither als Körper bezeichnen.

Leib und Seele

Damit begründete Descartes das sogenannte Leib-Seele-Problem als Dualismus. Es entfaltet eine besondere Wirkung. Denn die Abgründe, die lange Zeit die Geistes- und Naturwissenschaften trennten, werden durch die Beschäftigung mit der Ursache unseres Geistes durch neue Brücken passierbar. Biologie, Kognitionswissenschaften und Medizin arbeiten gemeinsam mit der Philosophie des Geistes an der Lösung dieses Problems. Auch die Erforschung künstlicher Intelligenz hat einen großen Anteil daran, weil Mathematiker und Informatiker über die Simulation von Hirnvorgängen zur Philosophie finden.

Aber nicht erst in den letzten 10 Jahren versuchen Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler die Sphären von Leib und Seele, also Gedanken und Neuronen, in einen Erklärungszusammenhang zu bringen. Schon früher hatten Philosophen sogenannte Qualia gegen die materialistische Argumentation der Neurowissenschaftler ins Feld geführt. Damit meinen sie eine Art Erlebnis-Atome. Das sind kleinste Einheiten des täglichen Erlebens, die man nicht mehr auf andere mentale Vorgänge zurückführen kann. Philosophen beschreiben auf diese Weise den Teil einer aktuellen Empfindung, der uns dazu bringt, ihn als unseren eigenen Schmerz oder als unsere Rotempfindung zu kategorisieren.

Das, was ein Erlebnis zum eigenen Schmerz macht, ist bei jedem anders und doch gleichen sich diese persönlichen Konzepte so stark, dass wir sie in Worte fassen und anderen mitteilen. Es ist anders, ein Delfin zu sein als ein Mensch. Aber es ist nur ein bisschen anders, eine andere Person zu sein. Und genau dieses "Wie es ist, ein Mensch zu sein" oder "Wie es ist, einen Schmerz zu haben" kann bisher kein Kognitionsforscher mit den Gehirnbildern zeigen - geschweige denn mit neuronalen Vorgängen erklären.

Das Selbst ist überflüssig

Der amerikanische Philosoph Paul M. Churchland ist ein Vertreter des so genannten eliminativen Materialismus. Er vergleicht unser Sprechen vom Subjekt und seinen Empfindungen mit dem Reden über "Hexen" oder über das "Phlogiston". Das ist ein Stoff, den man früher als Ursache für das Feuer angesehen hatte. Erst Antoine Lavoisier konnte 1785 nachweisen, dass alle Verbrennungsprozesse auf eine Oxidation, also letztlich auf Sauerstoff, zurückzuführen sind. Churchland und andere eliminative Materialisten behaupten daher, dass Begriffe wie Seele oder Gedanken nur unser Unvermögen dokumentieren, präziser über neuronale Vorgänge zu sprechen, weil unser Alltagswissen im Kern über 2000 Jahre altes Denken repräsentiert. Er wirft uns auch vor, dass wir, wenn wir über uns und unsere Gedanken und Empfindungen sprechen, gar nicht objektiv erforschen können, was wir denn meinen.

Insofern könnte man mit dem amerikanischen Philosophen Daniel C. Dennett annehmen, dass es Qualia eigentlich gar nicht gibt. Doch soweit geht Churchland nicht, er betrachtet sie einfach als rein physikalisches Geschehen, das sogar vorhersagbar ist. Denn die Naturwissenschaften können in einer Gehirnregion namens V4 ein Areal identifizieren, das bei der Unterscheidung von Farben eine essenzielle Rolle spielt. Es sei nur eine Frage der Zeit, das ganze Geschehen besser zu beschreiben ohne den Rückgriff auf eine subjektive "Rotempfindung". In Zukunft bedeutet dann Karminrot einfach pt563, weil wir den neuronalen Prozess dieses speziellen Rottons dann kulturübergreifend beschreiben können mit dem Aktivitätsmuster pt563 im Gehirn.

Damit ist er nahe an der Theorie, die chemischen und elektrischen Vorgänge im Hirn mit den Gedanken und Empfindungen gleichzusetzen. Das klingt verwegen, doch spätestens seit der Quantenmechanik hat das physikalische Konzept der Materie einige Überraschungen auf Lager. Wenn ein Atom, quantenmechanisch gesehen, an einem Punkt sein kann und gleichzeitig doch woanders ist, dann scheint es nicht abwegig, auch anzunehmen, dass im Gehirn quasi als Emergenz der Materie, die wir Synapse oder Neuron nennen, auch Bewusstsein und ein Ich entstehen.

Diese Sicht wurde vor allem deshalb populär, weil der Einfluss der Reiz-Reaktionsschemata der Verhaltensforscher um B.F. Skinner trotz der populären Experimente mit Hunden und seinen Erklärungen des Lernverhaltens keine Grundlage für die Erklärung des Geistes selbst liefern konnte. Denn mentale Vorgänge ausschließlich als Verhalten zu beschreiben, scheitert an den bekannten basalen Erlebnissen wie Schmerzen oder Farbempfindungen. Außerdem ist es sinnvoller, zwischen der Perspektive des Beobachters von Erscheinungen und einer Prozesssicht zu unterscheiden, die wir mit Wissensvorgängen verbinden. Denn wir können unsere Schmerzen nicht wissen. Dass sie als elektrischer Impuls von der Wunde ins Gehirn übertragen werden und dort bestimmte Reaktionen auslösen, ist dagegen ein kognitiver Prozess, der Inhalte aus dem Gedächtnis in der Jetztzeit mit dem aktuellen Geschehen verbinden muss. Sogar das Ich könnte so ein Akt des Wissens um die jeweils eigenen Empfindungen sein.

Es gibt nachweislich mentale Inhalte, die man ohne eine eigene Perspektive auf die Welt nicht beschreiben kann. Und da Kognitionsforscher und materialistische Philosophen diese Erlebnisinhalte noch nicht hinreichend erklären können, müsste man zumindest die Seele oder das Subjekt auf funktionaler Ebene erklären. Wenn man annimmt, dass ein Gedanke und ein entsprechender Vorgang im Gehirn nicht einfach identisch sind, dann ist es gut möglich, dass unser Ich und seine Empfindungen eine Funktion der neuronalen Prozesse ist. Denn schließlich sehen sowohl Bienen als auch Vögel oder Menschen Farben, obwohl ihre Gehirne vollständig unterschiedlich strukturiert sind. Aber was macht das Gehirn bei unseren ureigensten persönlichen Handlungen: den Entscheidungen?

Was macht das Hirn?

Benjamin Libet, ein amerikanischer Physiologe, hatte beobachtet, dass zwischen einer Absicht und einer Handlung eine sehr kurze Zeitspanne vergeht. Er wollte 1979 experimentell den genauen Zeitablauf zwischen dem Fassen einer Absicht, der Vorbereitung des Handelns im motorischen Kortex des Gehirns und der Ausführung untersuchen. Libet ließ seine Versuchspersonen eine sehr schnell laufende Uhr beobachten, die er durch einen Lichtpunkt mittels eines Oszilloskops darstellte. Das Licht beschrieb innerhalb von zweieinhalb Sekunden einen vollständigen Kreis. Am Ende sollten die Probanden die Stellung der Uhr zu dem Zeitpunkt nennen, zu dem sie den bewussten Drang bzw. Wunsch verspürten, die Hand zu bewegen, um einen Schalter zu betätigen. Die Sensation war perfekt, als klar wurde, dass nicht die Absicht Aktivitäten im motorischen Kortex auslöste, sondern zunächst gab es Aktivität im motorischen Kortex und erst danach wurde die Absicht gefasst.

Auf dieser Grundlage klingt plausibel, was wir seit Jahren von Medizinern und Psychologen über die Intuition hören: Wir entscheiden hauptsächlich durch unbewusste Vorgänge. Erst danach verarbeiten wir diese Prozesse im Rahmen der eigenen Persönlichkeit. Das Ich ist erst hinterher Urheber der Absicht.

Der australische Philosoph und Informatiker David Chalmers versteht den aktuellen Forschungszustand so: Die "einfachen Probleme" wie Lernen, Gedächtnis und Problemlösung sind im Rahmen funktionalistischer Theorien gut erklärbar. Dann ist der Geist zwar nur noch eine Eigenschaft der Materie, aber so sind naturwissenschaftliche Forschung und philosophische Theorien gut vereinbar. Was übrig bleibt ist das harte Problem des Bewusstseins. Denn selbst wenn wir die Informationsleitungen vom Auge in das Gehirn sowie die Aktivitäten im Sehzentrum kennen, können wir keine Aussage darüber machen, was eine Rotempfindung genau ist und warum sie individuell für uns existiert.

Ein methodischer Ausweg liegt in der Betrachtung von Hirnkrankheiten. Denn dort kann man direkt sogenannte neuronale Korrelate zwischen Hirnfunktion und Bewusstseinsinhalt beobachten. Ein bekanntes Beispiel sind die Agnosien. Damit werden in der Medizin Störungen in der Erkenntnisleistung bezeichnet, die auf Hirnschädigungen zurückzuführen sind durch Schlaganfälle oder Unfälle. Bei der Prosopagnosie können die Erkrankten keine Gesichter mehr erkennen. Sie sehen noch einzelne Elemente wie Mund oder Nase, können diese aber nicht zu einem Ganzen zusammenführen und folglich auch nicht mehr erkennen, wer ihnen gegenüber sitzt. Da hilft nur noch die Stimme oder besondere Merkmale wie Kleidung, um Freunde oder Familienmitglieder zu identifizieren. 2,5 Prozent der Bevölkerung leiden unter diesem Ausfall bestimmter Hirnregionen.

Das Erschreckende ist, dass man auch sich selbst nicht mehr im Spiegel erkennt. Trotz der allseits propagierten Plastizität des Gehirns ist diese schon früh beschriebene Seelenblindheit in keiner Weise reversibel. Damit verschwindet mit dem eigenen Gesicht auch die visuelle Repräsentanz der eigenen Identität für immer aus dem Leben. Andere Schädigungen verunmöglichen das Sehen von Gegenständen in der linken oder rechten Hälfte des Sehfeldes obwohl die Kranken genau erkennen können, wenn eine gezeichnete Figur nur zur Hälfte gemalt wurde.

Der Neurowissenschaftler António Damasió beschreibt seinen Patienten Elliot, dem ein Teil des präfrontalen Kortex entfernt wurde. Nach der Operation des Hirntumors änderte sich seine ganze Persönlichkeit, ohne dass er Einschränkungen bei den alltäglichen kognitiven Leistungen erleiden musste. Allerdings ist seine Gefühlswelt eingeschränkt und er hat große Probleme, Entscheidungen zu treffen. Das Subjekt hängt demnach stärker an den Neuronen und Synapsen als die Dualisten der Leib-Seele-Trennung es seit Descartes glauben wollen.

Der deutsche Philosoph Thomas Metzinger hat sich in den letzten Jahrzehnten um den interdisziplinären Austausch bemüht und die Ergebnisse der Neurowissenschaftler in eine elaborierte Theorie der Selbstmodelle eingearbeitet. Laut dieser Theorie erschaffen wir unsere subjektive Perspektive als integrative Repräsentation unserer Körperwahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle. Er geht davon aus, dass sogenannte Out-of-body-Erfahrungen von mediationsgeschulten Geistlichen und Schamanen der Urvölker die Idee der vom Körper getrennten Seele in unsere Kultur gebracht haben. Unsere Erfahrungen, dass andere Menschen uns als Person, also als Ganzes wahrnehmen, versuchen wir mit diesen archaischen Annahmen zu bereichern. Das Ich entsteht daher eher durch unser Gegenüber als durch eigene Beobachtung oder autonome Erkenntnis.

Ich und Du

Damit ist Metzinger über die Neurowissenschaften bei der Dialogphilosophie des Religionsphilosophen Martin Buber angelangt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich eine Geistesströmung gebildet, die den Dialog in den Mittelpunkt des Denkens stellte. Kern war die Geburt des Ich durch ein Du. Bis zum heutigen Tag wartet diese Ideenschule auf eine Rehabilitation.

Auch das Zwischen - als konstituierendes drittes Element in dem sich Ich und Du begegnen - harrt noch der Neuentdeckung durch die aktuelle Philosophie. Diese Notion der Dialogphilosophen könnte als Anknüpfungspunkt dienen für Sozialpsychologie und Soziologie. Denn das Zwischen wird als Korrelation aufgefasst, es hat also zunächst keine kausale Rolle. Denn es entsteht erst in dem aktiven Begegnen der Anderen.

Das Zwischen als sozial gestaltbarer Raum um die Menschen wird im Dialog geschaffen und bestimmt die Entstehung des Ich. Ohne die anderen Menschen sind wir keine Person. Kinder, die ohne menschliche Bezüge aufwachsen, verkümmern seelisch und vegetieren wie Pflanzen. Eine dialogische Sicht könnte Pädagogen, Soziologen und Sozialpsychologen an die aktuelle Diskussion um das Bewusstsein und sein Subjekt anbinden.