Vom Löwen zur Ente

Mental ist Syriens Staatspräsident bereits gestürzt

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Über 9.000 Tote, über 40.000 Flüchtlinge und geschätzte 200.000 Inhaftierte. Es sind vor allem diese Meldungen, die uns aus Syrien erreichen. Weniger Beachtung findet indes jener Aspekt des Aufstandes, der belanglos klingt, tatsächlich aber einem psychologischen Tsunami gleichkommt: Nach fast einem halben Jahrhundert Schweigen beginnt ein Volk, sich zu artikulieren.

Wie passt es zusammen, dass zahlreiche Demonstrationen der Syrer inmitten all des sie umgebenden Grauens geradezu Volksfeststimmung aufweisen? Da wird rhythmisch gesungen und ausgelassen Dabke getanzt - sogar dann, wenn es um das Gedenken der Verstorbenen geht. Dies sei, so die übereinstimmende Erklärung junger Protestierender, alles andere als despektierlich gemeint. Vielmehr feiere man so seine Märtyrer, die für das "wahre Leben" gestorben seien.

Im Zuge dieser Entdeckung des "wahren Lebens" entwickelt die Protestjugend auch einen überraschenden Humor. So erzählt die 24-jährige Aktivistin Anissa aus Damaskus, dass Aufständische wiederholt in Damaszener Ministerialgebäude geschlichen seien, um dort Kassettenrekorder zu verstecken, die sie von der Straße aus ferngesteuert hätten: Plötzlich sei in den staatlichen Büros der Slogan "Das Volk wünscht den Sturz des Regimes" erschallt - zum Entsetzen der Beamten, die sich prompt gegenseitig verdächtigt hätten.

Ein Lied läßt die Diktatur erbeben

Tatsächlich nahm die Unverfrorenheit der Syrer in den vergangenen 13 Monaten in einem Maße zu, wie es vor Beginn ihrer Revolte unvorstellbar schien. Dies ist vor allem an der Entwicklung ihrer Regimekritik abzulesen. So dominierten zu Beginn des Aufstandes noch dramatische Töne wie sie etwa der syrische Regisseur Akram Agha in seinem Animationsfilm anschlug, in dem er sich mit dem "Leben unter dem Stiefel" auseinandersetzte.

Wenngleich sehr kreativ geschah dies noch so, wie es jahrzehntelang gängig war: abstrakt. Die Kritik erfolgte vom relativ sicheren Terrain des Unkonkreten aus, Namen und Orte blieben unbenannt. Schrittweise aber fokussierte der Protest den eigentlichen Brandherd: Baschar al-Assad.

Als einer der ersten begann damit Ibrahim al-Qashoush. Der 42-jährige Familienvater und Handwerksmeister dichtete in seiner Freizet und schuf jenen mitreißenden Gassenhauer, den heute jedes Kind in Syrien zu schmettern weiß. Vergangenen Juni ermordete ihn das Regime. Seither gilt er als die "Nachtigall der syrischen Revolution 2011". Sein Vermächtnis, das sich in das kollektive Gedächtnis eingrub, besteht vor allem darin, den Präsidenten namentlich genannt und verflucht zu haben.

"Masasit Mati" geht noch einen Schritt weiter - und verniedlicht ihn gar. Die Künstlergruppierung, die im Untergrund arbeitet und sich nach jenem kleinen Sauggerrät benannte, aus dem der beliebte Matetee geschlürft wird, verarbeitet seit Mitte November den Aufstand in Form von Marionettentheaterspielen.

Von ihren 15 produzierten Episoden sind bislang neun auf Youtube mit englischen Untertiteln zu sehen. Der Titel der Reihe: "Top Goon - Die Tagebücher eines kleinen Diktators", die Hauptfigur: Bischou, quasi die Miniaturausgabe von Baschar. So lacht Bischou wie der Präsident (etwa in dessen erster Ansprache nach Ausbruch des Aufstandes, als er diesen gleichsam verspottete), lispelt wie der Präsident und verdeutlicht zusehends, welchen Präsidenten Syrien eigentlich hat.

Etwa in Episode 8, da Bischou seinen Geburtstag feiern will - im Babystrampelanzug. Die Feierlaune verdirbt ihm indes bereits die Nachricht, dass "nur" 50 Tote an seinem Ehrentag zu vermelden sind. Lauthals beginnt Bischou zu wimmern. Zu seinem Schreck taucht im Hintergrund der Geist seines verstorbenen Vaters auf. In eisigem Tonfall fragt er, wann sein Söhnchen endlich so zur Sache schreiten wolle wie er selbst 1982 in Hama, wo er den Aufstand der Muslimbrüder mit einem Generalmassaker quittierte. Da er nun aber ein "Barbecue in der Hölle" habe, könne er sich nicht weiter Bischou widmen und läßt diesen auf ein Mindestmaß geschrumpft zurück.

Jahrzehntelanges Tabu: Der Name des Präsidenten

Das Unglaubliche an diesen und anderen Verunglimpfungen von Assad Vater wie Sohn ist, dass ihre Namen ausgesprochen werden. Für an Redefreiheit gewöhnte Gemüter ist dies kaum vorstellbar - doch tatsächlich kamen diese den Syrern noch vor einem Jahr allenfalls hinter verschlossenen Türen über die Lippen. Stattdessen verschanzte man sich hinter dem Terminus "Führer". Heute aber gilt Baschar al-Assad nicht mehr als solcher.

Ja, er gilt nicht einmal mehr als "Assad" (zu deutsch: Löwe). Vielmehr wird er als "Ente" verlacht, entsprechend des Kosenamen, den ihm seine Frau gibt, wie die von der britischen Zeitung "The Guardian" jüngst veröffentlichten Emails des Präsidenten zutage brachten.

Dem Außenstehenden mag diese Verunglimpfung als billig erscheinen, für die Syrer aber bedeutet sie einen nicht zu unterschätzenden Befreiungsschlag, haben sie doch die Möglichkeit, frei sprechen zu dürfen, erfahren. Wie sie damit in den kommenden Jahrzehnten umgehen werden, wird sich zeigen. Für den Moment allerdings steht fest: Die Zeit vor dem 15. März 2011, die noch der "große Führer" diktierte, gibt es für sie nicht mehr.