Existenzängste breiten sich unter den Deutschen aus

Immer mehr Menschen fühlen sich ausgeschlossen, Resignation und Selbstaufgabe sind die Folge

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Sichere und gut bezahlte Normalarbeitsverhältnisse sind in Deutschland auf dem Rückzug. 3,8 Millionen Normalarbeitsverhältnisse wurden laut Statistischem Bundesamt zwischen 1991 und 2010 abgebaut, während atypische und zumeist prekäre Beschäftigungsformen im gleichen Zeitraum um 3,5 Millionen zugenommen haben. Besonders die Einführung von Hartz IV hat zu einem Boom des Niedriglohnsektors in Deutschland geführt - und die deutsche Gesellschaft "inhumaner, unsozialer und brutaler" gemacht, wie der Armutsforscher Christoph Butterwegge konstatiert. Wissenschaftler der Universität Kassel haben nun in einer Untersuchung herausgefunden, dass sich immer mehr Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen - und welche verheerenden Folgen dies für die Betroffenen hat.

Mit den Daten aus insgesamt vier repräsentativen Telefonumfragen, in denen 1.200 Bürger ab 18 Jahren befragt wurden, haben der Makrosoziologe Heinz Bude und der Sozialpsychologe Ernst-Dieter Lantermann von der Universität Kassel herausgefunden, dass weite Teile der Bevölkerung ihren Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen Teilsystemen gefährdet sehen. So empfanden 60 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2009 "ihre finanzielle Situation als ständige Gratwanderung zwischen Meistern und Absturz", wie Lantermann auf einer Tagung in Kassel ausführte.

Auch die weiteren Ergebnisse zeigen, wie weit verbreitet Existenzängste mittlerweile sind: 40 Prozent der Befragten machten sich demnach "große Sorge um ihren Arbeitsplatz", die Hälfte ging davon aus, sich im Alter deutlich einschränken zu müssen. Eine Bedrohung für ihre Gesundheit erkannten 40 Prozent der Befragten, 30 Prozent hatten Angst vor der Erosion ihrer sozialen Netze. Dass soziale Notlagen in Deutschland in Zukunft immer häufiger auftreten, glaubten 60 Prozent der Befragten. Diese Zahlen von 2009 geben jedoch offenbar nicht das volle Ausmaß der Unsicherheit in der Bevölkerung wieder. Denn wie Lantermann auf Nachfrage mitteilt, kündigen sich für das Jahr 2011 nochmals höhere Werte an. Genaue Zahlen gibt es jedoch noch nicht, da eine vollständige Auswertung der Ergebnisse noch in Arbeit ist.

Mehr wissen die Forscher aber bereits über die Folgen zu berichten, die die Existenzangst mit sich bringt. So gingen die wahrgenommenen Zugangs-Einschränkungen mit dem Gefühl einher, gesellschaftlich ausgeschlossen zu sein. Dies wiederum hat negative Auswirkungen sowohl auf die Gesellschaft als auch auf die Betroffenen selbst. Diese würden in einem starken Maße an Lebenszufriedenheit und Glück verlieren. Gleichzeitig steigt deren Egoismus in der Lebensführung, das bürgerschaftliche Engagement sinkt und die Selbstsorge lässt nach. "Wer für sich einen Platz im gedachten Ganzen der Gesellschaft sieht, ist eher bereit für sich zu sorgen, als jemand, der sich verloren und ohne Repräsentanz in einer Bezugsgruppe im gesellschaftlichen Kosmos vorkommt", erklärt Bude seine Forschungsergebnisse. Schutz gegen Aufgeben und Resignation gebe sich eine einzelne Person nur über den Umweg über die Gesellschaft.

Bei den "Ressourcenarmen" nehmen Resignation, mangelnde Selbstsorge und Abwehr alles Fremden zu

Allerdings, so haben Lantermann und Bude herausgefunden, stellen sich diese negativen Folgen nicht zwangsläufig ein, auch wenn Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind. "Externe" Ressourcen wie Bildung, Vermögen und verlässliche Freunde sowie "interne" Ressourcen wie Neugier, Selbstvertrauen und Vertrauen in sein Umfeld und die gesellschaftlichen Institutionen können dazu beitragen, dass auch schwierige Lagen gemeistert werden können. Zudem fühlen sich auch Menschen, die eher gut in die Gesellschaft eingebunden sind, dann eher ausgeschlossen, wenn ihnen die internen Ressourcen fehlen.

Wer den von der Gesellschaft Ausgeschlossenen vorwirft, diese seien aufgrund mangelnder innerer Stärke selbst schuld an ihrer Situation, halten Lantermann und Bude entgegen, dass das Selbst- und Sozialvertrauen der Menschen von seiner Lebenssituation mitbestimmt wird. Je weniger diese die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und je länger dies anhält, um so mehr schwinden auch die internen Kompetenzen der Betroffenen, das Vertrauen in sich selbst und die soziale Umgebung schwindet.

In der Folge steigen auch die psychosomatischen Erkrankungen an. Betroffen sind dabei besonders diejenigen, die über geringe interne und externe Ressourcen verfügen. Während 55 Prozent der Ressourcenarmen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, regelmäßig niedergeschlagen sind, in 43 Prozent der Fälle über Angstgefühle und in 28 Prozent der Fälle über Antriebslosigkeit berichten, sind Ressourcenreiche nur zu 15 Prozent von Niedergeschlagenheit, zu 11 Prozent von Angstgefühlen und zu 5 Prozent von Antriebslosigkeit geplagt.

Wichtig ist, so das Fazit der Wissenschaftler, dass sich die Menschen nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen. "Gleich, wie sonst die Lebensverhältnisse auch sein mögen, ob inkludierend oder eher exkludierend - wer sich gesellschaftlich ausgeschlossen empfindet, der ist in seiner praktischen Lebensführung stärkeren Belastungen ausgesetzt und neigt in stärkerem Maße zur Resignation, mangelnden Selbstsorge und Abwehr von allem Fremden", so Lantermann.

Die Untersuchungen der Universität in Kassel zeigen damit auch, wie wichtig eine Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist, die den Menschen ein Mindestmaß an Sicherheit gibt und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, damit Stress, Angst und psychische Probleme nicht das Potential der Menschen unter sich begraben.