Erstaunlich offener Ausgang

Frankreich: Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen macht sich Amtsinhaber Sarkozy weiter Hoffnungen

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Es wird erheblich knapper für die Stichwahl um das französische Präsidentenamt, als ursprünglich erwartet worden wäre. Von vielen Beobachtern wird zwar weiterhin damit gerechnet, dass Amtsinhaber Nicolas Sarkozy beim zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl in dreizehn Tagen durch seinen Herausforderer François Hollande besiegt wird. Aber der Abstand zwischen den beiden Kandidaten nach dem ersten Wahlgang fiel weniger deutlich aus als erwartet und läßt Raum für Spekulationen.

Eine Umfrage vom gestrigen Sonntag Abend prognostiziert dem sozialdemokratischen Kandidaten Hollande bei der Stichwahl am 6. Mai etwa 54 Prozent, gegenüber 46 Prozent für den konservativ-wirtschaftsliberalen Amtsinhaber. Dennoch ist der Ausgang erstaunlich offen. Trotz weit verbreiteten Unmuts über die Amtsführung Sarkozys in den letzten fünf Jahren beträgt der Abstand zwischen den Wahlergebnissen der beiden für die Stichwahl qualifizierten Bewerber letztendlich nur anderthalb Prozent.

François Hollande dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit das nächste französische Staatsoberhaupt werden. Neben anderen Faktoren (nämlich den nunmehrigen politischen Kräfteverhältnissen seit gestern Abend) könnte aber auch seine allzu sehr auf Ausgleich, Konsens und inhaltliche Schwammigkeit ausgerichtete Wahlkampfführung zum Hemmnis für ihn werden.

Wahlverhalten von Spitzenprotagonisten aus dem bürgerlichen Lager

Wie stark Hollande als Kandidat des Minimalkonsenses nahe der politischen Mitte betrachtet wird, belegt etwa das angekündigte Wahlverhalten vieler Spitzenprotagonisten aus dem bürgerlichen Lager. Nahezu der gesamte Familienclan des früheren Präsidenten Jacques Chiracs, also von Sarkozys bürgerlichem Amtsvorgänger, stellte eine Stimmabgabe zugunsten François Hollandes in Aussicht. Einzige Ausnahme: Die Gattin des Ex-Präsidenten, Bernadette Chirac, eine glühende Anhängerin Sarkozys.

Ähnliches gilt für frühere Mitarbeiter Chiracs oder auch ehemalige Minister wie Azouz Begag. In ihren Augen wäre ein Präsident Hollande nicht so extrem polarisierend wie Sarkozy, dessen persönliche Exzesse - sein vor allem in den ersten Amtsjahren praktiziertes Parvenü-Verhalten durch Zurschaustellen seines Reichtums, sein oft autoritärer Führungsstil - als Hindernis bei einer Befriedung zur Umsetzung "notwendiger Reformen" betrachtet werden.

Mélenchon und die Linke

Nun wird Hollande allerdings auch weiter links die nötigen Stimmen gewinnen müssen, auch wenn Linkssozialist Mélenchon mit gut 11 Prozent nicht so gut abschnitt, wie Umfragen mehrere Wochen lang erkennen ließen. Mélenchon warb mit einem Programm, das im Kern auf Keynesianismus basiert, also auf der Vorstellung, dass die Erhöhung des Konsums durch Anhebung von Löhnen und Kaufkraft einen Schritt zur Überwindung der Wirtschaftskrise darstellen könne.

Auch wenn Mélenchon sich zumindest auf der Ebene der Wahlkampfrhetorik auch revolutionärer Symbole und eines marxistisch klingenden Klassenkampfvokabulars bediente ("Résistance, résistance", riefen immer wieder Sprechchöre bei seinen Veranstaltungen), so ist sein Programm doch ein keynesianistisches. Der gesetzliche Mindestlohn soll um rund 300 Euro angehoben werden, der Umstieg von Atomenergie und fossilen Brennstoffen auf neue Energiequellen soll ökologisch verträgliches Wachstum und Arbeitsplätze schaffen, 600.000 erschwingliche Wohnungen sollen gebaut werden. Dass der Kandidat Mélenchon den Keynesianismus in seinem Programm so stark betonte, hob allerdings nur umso deutlicher hervor, dass jenes des Sozialdemokraten Hollande nicht einmal in nennenswerten Ansätzen keynesianisch ist - was man historisch von der Sozialdemokratie stets erwartet hätte.

"Gegen Nicolas Sarkozy"

Am Wahlabend erklärte Mélenchon bereits, dass er dazu aufrufe, "ohne jegliche Gegenleistung" am 06. Mai "gegen Nicolas Sarkozy" zu stimmen. Es wird also voraussichtlich keine Verhandlungen zwischen ihm und Hollande geben. Dies fügt sich in seine Strategie ein, die drauf hinausläuft, unter den jetzigen Bedingungen nicht oder zumindest nicht sofort eine Regierungsbeteiligung anzustreben. Die letzten Koalitionsbeteiligungen von linken Parteien, besonders der französischen KP zwischen 1981 und 84 und zuletzt zwischen 1997 und 2002, zeitigten aus deren Sicht meist unbefriedigende Ergebnisse.

Hernach wurde die KP jeweils scharf durch ihre Wähler abgestraft. Unter den Bedingungen der derzeitigen Krisenverwaltung rechnet das Linksbündnis offenbar mit noch weniger Spielräumen für politische Intervention auch gegen den "Druck der Märkte" oder für Umverteilung. Deswegen strebt sie derzeit eher eine Tolerierung sozialdemokratischer Regierungen im Parlament, denn eine Kabinettsbeteiligung an.

Da sowohl die Grünen (mit gut 2 Prozent) als auch die überwiegend aus dem Trotzkismus kommende radikale Linke - unter zwei Prozent - keine stärkeren "Stimmenreserven" mehr bieten, wird Hollande sich in den nächsten zwei Wochen dennoch anstrengen müssen, die Herausforderung zu meistern. Denn Sarkozy liegt zwar mit 27,2 Prozent der Stimmen seit gestern anderthalb Prozent hinter ihm, hat aber zumindest potenziell wesentlich größere Reserven.

Le Pen

Laut den vorläufigen Ergebnissen des Innenministers - sie beruhen auf der Auszählung von 99 Prozent der abgegebenen Stimmen, nur die im Ausland lebenden Franzosen fehlen noch, das amtliche Endergebnis folgt am Mittwoch Abend - erhielt Marine Le Pen 17,90 Prozent der Stimmen.

Bei ihr wird Sarkozy versuchen, massiv Wähler anzuwerben. Dies begann bereits am Sonntag Abend, als ausnahmslos alle Vertreterinnen und Vertreter Sarkozys in den Fernsehstudios vor allem entlang des "Ausländerthemas" polarisierten: Unter sozialdemokratischer Regierung handelten sich "die Franzosen, die das nicht wollen, das Ausländerwahlrecht" ein. So tönten die Ministerinnen während der Sarkozy-Ära Nadine Morano und Rachida Dati, Ex-Regierungssprecher Laurent Wauquiez und andere unisono.

Die Wählerschaft der Mitte

Aber auch beim christdemokratisch und liberal geprägten Modem (Mouvement démocrate), der bislang oppositionellen Mitte-Rechts-Partei von François Bayrou, wird Sarkozy nach Stimmen graben. Bayrou erhielt als Präsidentschaftskandidat gut neun Prozent. Er grenzt sich zwar auf dem Gebiet des Rassismus in Wahlkämpfen und bei "humanistischen" Themen oft als moderater Bewerber gegen das Sarkozy-Lager deutlich ab.

Gleichzeitig fährt Bayrou auf sozial- und wirtschaftspolitischem Gebiet offiziell sogar eine noch härtere Linie als Sarkozy. Er tritt etwa für ein totales Nullwachstum aller offiziellen Ausgaben - also auch der Sozialhaushalte - ohne Inflationsbereinigung, also in Nettozahlen für ihre Absenkung, in den kommenden zwei bis drei Jahren ein.

Da Bayrou aber von vielen Stimmberechtigten vor allem als Verlegenheitskandidat gewählt wird - als Bewerber, der nicht deutlich "ideologisch links" oder "rechts" markiert ist, und gleichzeitig gegen die großen Parteien sowie "ihre Vorherrschaft und ihre Dominanz über die Medien" wettert -, ist seine Wählerschaft sehr heterogen zusammengesetzt. Laut am Montag früh verfügbarer Zahlen würden je ein Drittel in der Stichwahl Sarkozy, Hollande oder überhaupt nicht wählen. Dagegen zeichnete sich ab, dass unter den Wählern Marine Le Pens voraussichtlich 60 Prozent für den rechten Amtsinhaber Sarkozy, doch nur 18 Prozent für Herausforderer Hollande stimmen würden.

Deswegen, und weil das Stimmenreservoir Marine Le Pens doppelt so groß ist wie jenes Bayrous, muss mit einem erheblich polarisierenden Wahlkampf Sarkozys bis zur Stichwahl gerechnet werden. Bislang haben weder Bayrou noch Le Pen eine Stimmempfehlung abgegeben, und werden dies möglicherweise auch gar nicht tun.