Das böse Introspekt

Der Psychoanalytiker Tilmann Moser spricht über "Gott auf der Couch"

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Vor über dreißig Jahren hat der Psychoanalytiker Tilmann Moser über Entstehung und Auswirkungen seiner eigenen religiös begründeten Neurosen geschrieben. Das Buch Gottesvergiftung hatte damals für Aufsehen gesorgt. Andere religionspsychologische Bücher folgten, darunter Der grausame Gott und seine Dienerin - Eine psychoanalytische Körperpsychotherapie. In seinem neuen Buch Gott auf der Couch hat Moser über die religiösen Erfahrungen seiner Patienten geschrieben. Er ist zu der Überzeugung gekommen, dass im Menschen eine Fähigkeit zur Andacht angelegt sei, und hält eine gute Gottesbeziehung für eine wichtige Ressource.

Ich habe Ihr neues Buch mit großem Interesse gelesen. Und weil ich vor ein paar Jahren auch die „Gottesvergiftung“ gelesen hatte, frage ich mich natürlich, wie Sie diesen giftigen Gott los werden konnten. Hat das Niederschreiben gereicht?

Tilmann Moser: Da ist vor dem Niederschreiben natürlich viel passiert: Auseinandersetzung, innerer Abschied, auch ein Stück Therapie. Als ich es dann aber niedergeschrieben hatte, da war es erledigt. Das war wie das Protokoll eines Abschieds.

Und wie haben Sie es geschafft, das niederschreiben zu können?

Tilmann Moser: Das war eine große Wut in mir und innerhalb von drei Wochen habe ich das niedergeschrieben, es war einfach da, ich brauchte es nur zu protokollieren.

Aber so eine Wut muss man ja auch erst mal kanalisieren und Aggressionen auf diesen Punkt richten können, dass man daraus einen produktiven Schaffensprozesse macht, oder?

Tilmann Moser: Ja, so kam es ja, dass ich Gott angesprochen habe. Dadurch hatte ich ihn als Wut-Gegner vor Augen, und dadurch konnte ich das so hinschreiben. Aber es war ein Ausnahmezustand, das war schon klar.

Tilmann Moser. Foto: Random House.

Wie alt waren Sie denn, als sie das Buch geschrieben haben?

Tilmann Moser: 40. Ich hatte gedacht, ich hätte ihn mit 20 schon verabschiedet. Aber er war eben noch sehr massiv in mir, man könnte sagen: verdrängt.

20 Jahre war er dann doch noch eingenistet geblieben. Und Sie haben ihn in der „Gottesvergiftung“ ja auch persönlich angeredet. Sie haben nicht von einem nicht-existenten Gott gesprochen, sondern sie haben wirklich dieses, wie sie später schreiben, dieses „böse Introspekt“ angeredet.

Tilmann Moser: Ja, er war in mir vorhandenen als persönlicher Gott. Das war er ja gewesen, bis ich 20 war: ein Ansprechpartner, der mich - vermutlich - gesehen, aber auch beschuldigt hat, mir Vorwürfe gemacht, ein Stück Lebensgefühl verringert hat. Also insofern war ich unbewusst mit ihm weiter in Kontakt, ich war auch ziemlich depressiv in der Zeit. Aber das hat sich dann gemäßigt, als ich ihn los geworden war.

Das ist über 30 Jahre her. Nun haben Sie „Gott auf der Couch“ geschrieben. Haben Sie denn heute die Fähigkeit zur Andacht wieder entdeckt?

Tilmann Moser: Ja, aber nicht so sehr für mich. Ich erlebe Andacht natürlich in der Natur, in der Musik. Aber darauf gekommen, auf diese Fähigkeit zur Andacht, bin ich im Umgang mit den Patienten. Weil sich zwischen uns etwas eingestellt hat, was ich so bezeichnen würde. Und ich vergleiche es mit der Andacht, die die Mutter den kleinen Kind entgegenbringt, wenn es in ihren Armen liegt und aufblickt.

Das hängt damit zusammen, dass ich und viele andere Kollegen entdeckt haben, dass das erste Lebensjahr eine hohe Bedeutung hat in der Psychotherapie. Freud hat immer vom Ödipuskomplex gesprochen, der mit drei oder vier beginnt oder seinen Höhepunkt entwickelt. Aber inzwischen weiß man, wie viele schicksalhafte Begegnungen zwischen Mutter und Kind im ersten Jahr schon stattfinden. Und dort lokalisiere ich auch den Beginn der Fähigkeit zur Andacht.

Das ist ja in ihren Augen eine sehr positive Fähigkeit.

Tilmann Moser: Ja.

Und wie ist das für Sie? Vermissen Sie einen anderen Gott, ein anderes Gottesbild, oder sind sie einfach so, wie es jetzt ist, zufrieden?

Tilmann Moser: Ich bin zufrieden, wir haben uns von einander verabschiedet, er lässt mich in Ruhe, ich lasse ihn in Ruhe.

Glauben Sie, oder gehen Sie davon aus, dass da einer existieren könnte, aber Sie wollen nichts mit ihm zu tun haben?

Tilmann Moser: Ich weiß nicht, ob es ihn gibt. - Eher nicht: Sonst müsste ich mich eventuell noch um ihn kümmern. Muss ich aber nicht.

Gute Gottesbeziehung als wichtige Ressource

Ja, das ist ja so eine typisch neuzeitliche Frage: Existiert Gott oder existiert er nicht? Und dadurch kommen ganz andere Fähigkeiten und Auseinandersetzungen hervor, nicht?

Tilmann Moser: Ja, aber ich begleite ja auch Patienten mit religiösen Problemen. Und früher, vor 30 Jahren, wäre ich versucht gewesen, ein bisschen zu missionieren: Versuchen Sie doch, ohne ihn auszukommen! Das hat sich vollkommen geändert, weil ich eine gute Gottesbeziehung auch für eine wichtige Ressource halte. Und es ist auch inzwischen gut erforscht, dass zum Beispiel Menschen mit einer freundlichen Gottesbeziehung sogar länger leben oder über Krisen leichter hinwegkommen.

Das hat mir auch mal ein Psychiater erzählt, das gelte etwa bei posttraumatischen Belastungsstörungen, weil man so dem Leid Sinn geben kann.

Tilmann Moser: Ja, genau.

Das hat mich damals auch sehr erstaunt ...

Tilmann Moser: ... ja ...

Hiob zum Beispiel, die Figur aus dem Alten Testament, der leidet sehr. Und er schimpft ja ...

Tilmann Moser: … mächtig, aber er verliert Gott nicht! Es ist ein Hadern, ein Schimpfen, ein Wüten, aber die Beziehung bleibt erhalten. Sein Leid war ja wie eine Prüfung angelegt: Er hat die Prüfung bestanden, er hat Gott nicht links liegen lassen. Ja, und so ist es eben auch wichtig, dass man versucht, gute Fragmente von Gott in Menschen, die auch an ihm verzweifelt sind, zu erhalten.

Und gelingt das?

Tilmann Moser: Es ist wichtig, den Patienten gegenüber respektvoll zu sein. Denn einem Freudianer gegenüber – wie ich es ja bin – schämen sie sich manchmal, dass sie religiöse Probleme haben. Die meinen ja, Freudianer seien a-religiös, oder sie wissen, dass Freud Religion als eine Zwangsneurose bezeichnet hat. Aber der Respekt vor dem, was an positiver Gottesbeziehung noch da ist, ist wichtig.

Ist es einen Patienten von Ihnen mit Ihrer Hilfe schon mal gelungen, aus einem vergifteten Gott einen gnädigen Gott zu machen?

Tilmann Moser: Ja ... Also vielleicht nicht als solch ein Umschwung … Der vergiftete Gott kann schwinden und er schwindet am ehesten dadurch, wenn ich im Rollenspiel den Patienten in die Rolle Gottes gehen lasse, der dann auf seine elende und leidende Kreatur herunterschaut und sagt: Mein Lieber, so hab ich es nicht gemeint. Da sind Dir Dinge erzählt worden von meinen Priestern, Beamten, die haben mich auch missverstanden, oder die waren falsch indoktriniert, das können wir bleiben lassen. Ich sehe dich als lebenswertes Leben, als einen Menschen, der verdient hat, glücklich zu sein. - Und wenn diese Stimme beim Patienten ankommt: Dann ändert sich etwas.

Und wie oft kommt sie an, und wie oft kommt sie nicht an?

Tilmann Moser: Das hängt davon ab, wie schwer die anderen seelischen Schäden sind. Also, ob eine Fähigkeit zum Vertrauen sich gerettet hat. Es gibt Menschen, die haben im Grunde aufgegeben, dass es etwas Gutes für sie geben könnte. Das sind aber die zähesten und die schlimmsten Fälle, da hilft nur eine jahrelange stützende und vertrauensvolle Beziehung zum Therapeuten. Vorübergehend rückt der sogar – aber ich betone: vorübergehend – in etwas Gott-Ähnliches. Damit muss er äußerst vorsichtig umgehen und dem Patienten klarmachen: Nein, ich bin kein Gott, aber ich bin vorübergehend Diener Gottes.

Hm - das stelle ich mir ziemlich schwierig vor.

Tilmann Moser: Ja, es erfordert Erfahrung und Übung, aber auch eine Überzeugung, dass in dem Patienten etwas Neues wachsen darf.

… und auch Vertrauen zum Patienten selber?

Tilmann Moser: Ja sicher. Ich muss für ihn in den schlimmen Zeiten die Hoffnung für ihn bewahren. Und das spüren die Patienten: Wenn ich hoffnungsvoll bleibe, auch wenn sie verzweifelt sind.

Und sowas kann gelingen?

Tilmann Moser: Ja. Aber es kann genauso gut sein, dass Einzelne sich verabschieden von Gott und sagen: Ich hatte eine Beziehung zu dir, aber sie war mir verdorben durch die Art, wie Du in mir gepredigt worden ist. Dann gelingt ein Abschied ohne Schuldgefühle. Aber es kann ein Phantomschmerz bleiben. Das heißt, er war so wichtig, dass sich zuerst mal eine Leerstelle bildet. Und dann muss man den Patienten bei dem Versuch begleiten, die Sinnfrage auf eine neue Weise zu klären.

Was finden Leute, die sehr stark an Gott geglaubt haben und sich davon verabschieden: Was können die für einen Sinn finden, was haben Sie da in der Praxis erlebt?

Tilmann Moser: Das Wichtigste ist die Erfahrung: Ich kann ohne diese Illusionen leben. Es ist die Erfahrung: Ich habe an ein Etwas geglaubt, das sich für mich als Illusion erwiesen hat. Das ist ein Trennungsprozess und ein Trauerprozess und es braucht eine ziemliche Zeit, dieses Leere-Gefühl zu überwinden.

Wie eine Trennung von der Familie oder eine Scheidung oder so etwas?

Tilmann Moser: Ja, genau.

Das kann ja Jahre dauern! Und eine gewisse Trauer bleibt doch immer, oder?

Tilmann Moser: Je nachdem: Manche können dann wieder fröhlich sein. Andere haben das Gefühl: Ich habe einen Schatz verloren. So möchte ich das mal nennen, so wird es ja biblisch bezeichnet: Er ist ein kostbarer Schatz. Also tatsächlich ist es wie die Trennung von etwas Kostbaren, aber was im Lauf der Zeit auch schrecklich geworden ist.

Sie haben ihr Buch ja „Gott auf der Couch“ genannt und implizieren dadurch, dass man Gott therapieren sollte. Im Grunde aber habe ich das so verstanden, dass man den Menschen, der unglücklich glaubt, therapiert. Oder meinen Sie das wirklich so, dass man das Gottesbild therapiert, und dass Gott sich dann ändert, vielleicht von einem Sadisten zu einem mitfühlenden Gott?

Tilmann Moser: Das ist die schwerste Aufgabe. Aber in der Tat gibt es einen katholischen Seelsorger, dessen Buch heißt: Gottestherapiei.1 Er sagt, das Gottesbild kann so krank sein, dass man mit dem umgeht, wie mit einem dem Patienten innewohnenden Patienten. Und man klärt den Patienten auf, dass aus etwas potenziell Guten ein schädlicher innerer Bewohner geworden ist. Und diese Aufklärung, dass er unter diesen schädlichen Bewohner nicht mehr leiden muss, das ist der wichtige Prozess. Im Grunde klärt man ihn auf über die Genese, also die Entstehung dieses Gottesbildes. Das heißt: Man untersucht, wie ist er in ihn reingekommen, aufgrund welcher falscher Indoktrinierung, aber aufgrund auch welcher schlimmer Erfahrungen mit den Eltern hat sich dieses Bild herausgebildet?

Wenn ich das richtig übersehe, dann kommt so ein schlimmes Gottesbild sehr, sehr oft durch eine schlechte Elternbeziehung zustande, oder? Dass man den Vater eigentlich in Gott sieht, oder umgekehrt?

Tilmann Moser: Den Vater, oder eben neuerdings die Mutter.

Wieso neuerdings?

Tilmann Moser: Ja, das man hat erst in den letzten Jahrzehnten entdeckt: Wenn die Mutter das Kind falsch anfasst, nicht versteht, vernachlässigt, schlägt, dann bildet sich ein Niederschlag, und dieser Niederschlag kann später bebildert werden durch die Religion. Also primär ist im ersten und zweiten Lebensjahr schon eine neurotische Störung des Kindes angelegt: Es fühlt sich zum Beispiel abgelehnt oder im schlimmsten Fall verworfen, und das sind dann biblische Ausdrücke „Gott mag mich nicht mehr“ oder „Gott sieht nur den Sünder in Dir“. Und insofern ist die Gottestherapie auch Therapie am früheren Elternbild. Das hat einfach schlimme Parallelen.

Ist die Fähigkeit zur Vergebung gegenüber den schlechten Eltern auch eine Möglichkeit, mit einem schlechten Gottesbild ins Reine zu kommen?

Tilmann Moser: Die Vergebung bezieht sich dann darauf: Ihr habt es auch nicht anders gewusst, ihr habt selber ein schweres Schicksal gehabt, ihr habt mir im besten Glauben ein Gottesbild vermittelt, was aber durch meine inneren Schwierigkeiten sich in Richtung Gift angereichert hat. Das heißt, im Seelenleben kann sich das Bild von Gott, was die Eltern vermittelt haben, weiter verschlimmern. Das ist ein ganz böser Mechanismus, wenn man nicht drüber reden kann. Dann kann dieser Vergiftungsprozess weitergehen durch die Steigerung der Schuldgefühle.

Sie sagen ja immer: Ihr habt es nicht besser gewusst, so könnte man seine Eltern anreden oder den Pfarrer oder wen auch immer. Aber wie spricht ein Patient, wenn Eltern oder Pfarrer ihm absichtlich geschadet haben oder sadistisch waren?

Tilmann Moser: Dann ist es ganz wichtig, dass man dem Patienten hilft, seine Wut zu fühlen und los zu werden. Das geht am besten durch Rollenspiele: Ich setze einen sadistischen Vater auf einen leeren Stuhl und helfe dem Patienten, seine Wut, auch seinen Hass, seine Enttäuschung auszudrücken. Irgendwann kann man dann einen Rollenwechsel vornehmen, dass der Patient in die Rolle des unangenehmen oder sogar bösen Vaters geht, und dann kann er sich auch einfühlen in dessen Elend, welches zu seiner Bosheit geführt hat.

Aber Sie glauben im Grunde an das Gute im Menschen: Dass es Elend gibt, das zur Bosheit führt, und dass Bosheit nicht von vornherein auch einmal einfach mal da sein kann?

Tilmann Moser: Ja, richtig. Das ist eine anthropologische Frage. Die Fähigkeit zur Bosheit ist in ihm angelegt als eine Reaktion auf Verletzungen. Aber ich glaube schon, dass es keine angelegte Bosheit gibt, sondern ein Reaktionsvermögen. Bosheit entsteht durch Verletzungen.

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