Google, Facebook und Co.

Die Netz-Ikonen aus der Perspektive Vilém Flussers

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Wer an Ikonen denkt, hat das Bild von Madonna vor sich - sei es als Pop- oder Christenidol. Denkt man aber mit Vilém Flusser, gehören auch Google, Facebook und Co dazu. Ein Grund zur kritischen Kommentierung, denn die Netz-Ikonisierung nach Prinzipien der analogen Welt gefährdet das Potential einer globalen, digitalen Wissensgenerierung.

Als Medien des christlichen Glaubensapparates trugen Ikonen einst dessen Kernbotschaften in die Gesellschaft. "Du sollst dir kein Gottesbild machen" etwa, klärte unmissverständlich alle Urheber- und Deutungsrechte. Heute zirkulieren moderne Demokratien Vernunft und setzen auf die Kraft der Pluralität (von Ideen). Trotzdem scheinen auch in den rollenden Kreisläufen sich gegenseitig aktualisierender Massenmedien einige Bilder und Ereignisse zu transzendieren.

Robert Hariman und John Louis Lucaites bescheinigen in No Caption Needed den Ikonen des Fotojournalismus im 20. Jahrhundert ebenfalls einen kaum zu unterschätzenden Einfluss. Demnach lieferten sie - ähnlich dem Mittelalter - Vorlagen für bürgerliches Fühlen, Denken und Handeln. Nur eben, dass ihre Kernthemen heute eher politischer Natur sind und meist typisch demokratische Kontradiktionen verhandeln, wie individuelle Freiheit vs. kollektive Organisation oder Privatheit vs. Öffentlichkeit.

Um in Zeiten digitaler Datenverarbeitung mögliche Ikonen zu identifizieren, ist ein Blick hinter die beliebig manipulierbar gewordene (Bild-) Oberfläche notwendig. Und tatsächlich handelt es sich bei ihnen nur um die sichtbare Spitze eines komplexen psychischen, medialen und gesellschaftlichen Wirkdispositivs. "Bildlich" gesprochen sind Ikonen moderne Totempfähle einer Millionen-Öffentlichkeit und zwischenmenschlicher Zement für das virtuelle Gebilde einer Gesellschaft. Ihre Kernkompetenz: Die Homogenisierung von Gedächtnis und Wahrnehmung um einander fremde Individuen zu kollektivieren.

Vilém Flusser

Oft kritisierte und entscheidende Grundlage für eine derartige Macht einzelner Symbole und Medien ist die Dominanz der Kommunikationsstrukturen. Deren Betrachtung - v.a. im virtuellen Raum - führt zu Vilém Flusser, dessen Kritik an jeglicher Form von Ikonisierung und Machtballung vor allem formaler Natur war. Statt von Ikonen sprach er von "Sendern", meinte damit aber ähnliche Institutionen zur Bündelung gesellschaftlicher Kommunikationskanäle. Beste Beispiele hierfür sind analoge Massenmedien wie Fernsehen oder Zeitung. Da diese kaum Möglichkeit zu direktem Feedback geben, entsteht ein Ungleichgewicht zwischen Informationsverteilung (Diskurs) und -erstellung (Dialog).

Wenige Sender "in-formieren" viele Rezipienten. Zwar messen Medienforscher, Marktanalysten und Politologen ein indirektes Feedback auf die Medienbotschaften, passen aber Programm, Produkt oder Partei immer weiter entsprechend an, anstatt alternative Positionen zu beziehen. Der Diskurs formt seine Teilnehmer, Michel Foucault lässt grüßen. Die Folge klingt ähnlich dem Pfeifen eines Mikrofons: Innerhalb des (Medien-) Systems verstärken sich die eigenen Signale bis es überhitzt. Techniker sprechen von positiver Rückkopplung, der Volksmund vom Teufelskreis, Physiker von Entropie, und Flusser vom Wärmetod.

Warum Sender und Ikonen auf diese Art hemmend auftreten und kulturellen Zerfall beschleunigen, verdeutlicht ein Blick in Claude Shannons Informationstheorie. Diese geht prinzipiell vom entropischen Zerfall des Universums aus: Wenn Entropie das natürliche, ungeordnete und sichere Ereignis ist, so ist kulturelle Ordnung das unwahrscheinliche, informative. Shannon definierte daher Informationsgehalt als negative Entropie. Je unwahrscheinlicher, je negentropischer eine Information, desto wertvoller ist sie.

Der Mensch kumuliert nun nach Ansicht Flussers gezielt solche negentropischen Informationen - indem er kommuniziert. Die Kombination von genetischem und erworbenem Wissen führt dabei zu immer unwahrscheinlicherer Kultur (bspw. einem Computer). Betrachtet man menschliche Gesellschaft auf solche Art als negentropische Überlebensstrategie, ist wiederum der Dialog ihre wirkungsvollste Taktik. Dieser ermöglicht eine direkte Synthese von Informationen und beidseitigen Erkenntnisgewinn. Er ist das regulierende Moment, der Input von außen.

Die Dialogisierenden stehen allerdings vor der Herausforderung, den Informationsgehalt so wählen zu müssen, dass er für den Empfänger verständlich bleibt. Hierzu dienen Diskurse, Medien und Ikonen. Jeder Code enthält eine Prise Redundanz um verständlich zu bleiben. Je mehr man also kommuniziert, desto weniger informiert man und je mehr man informiert, desto weniger kommuniziert man (Flusser 1991). Zwischen diesen Polen oszilliert der menschliche Informationsaustausch. Ziel medialer Verschaltung ist es letztlich, die dialogische Verbindung von Mensch zu Mensch über Raum und Zeit hinweg zu simulieren. Sender und Ikonen als Redundanzfaktoren sind daher prinzipiell ungewollt und wenn überhaupt (bspw. zur Verständigung) demokratisch und dialogisch zu erstellen.

Auf dieser Basis entwickelte Flusser seine Utopie der telematischen Gesellschaft, einem zerebral verschalteten Netzwerk, das sich völlig der informationellen Evolution widmet. Autoritäre Elemente wären in dieser kybernetisch gesteuerten Wissenskommune weder erwünscht, noch notwendig, ja nicht einmal möglich. Dialog und Diskurs halten sich die Waage. Global brain, statt global village.

Nun ist diese Romantik einer many-to-many-Kommunikation mittlerweile technischer Usus. Strukturell sind wir auf dem Stand der telematischen Gesellschaft. Die Frage ist also, warum offensichtlich auch im Internet Ikonen wie Google oder Facebook entstehen können - und mit welchen Folgen? Passende Antworten finden sich nun im Vergleich von Gegenwart und Flussers Utopie. Diese wird vor allem durch zwei virtuelle Säulen von den "realen" Umständen in die Ortlosigkeit emporgehoben: Motivation und Kompetenz. Jeder muss also Informationen erzeugen und manipulieren können, sowie die Motivation besitzen, sie zu teilen.

Mit Blick auf die Kompetenz wird schnell die derzeit riesige Kluft zwischen Netz-Normal-Nutzern und Programmierern deutlich. Ähnlich dem Zustand vor der Alphabetisierung koppelt sich eine kompetente Elite durch Verwendung algorithmischer Codes ab. Das Netz teilt sich in Schöpfer und Nutzer. Nutzer erlernen lediglich programmierte Rahmenbedingungen und lassen ihre Wahrnehmungen homogenisieren, Programmierer werden zu Ikonographen. Nun ließe sich entgegnen, dass jene Kompetenzen (etwa Programmiersprachen) ja im Netz verfügbar seien.

Doch um dieses Wissen auszulesen, muss es natürlich erst gefunden werden. Das führt direkt zu Google. Die derzeit dominanteste Suchmaschine übernimmt in etwa die Funktion von Flussers so genannten Kritikautomaten. Zum einen hält sie Informationen und Wissen abrufbereit, ja fungiert als externes kollektives Gedächtnis. Zum wichtigen anderen entscheidet sie über die Informativität der abgerufenen Inhalte (u.a. per Trefferplatzierung).

Im Unterschied zu Flussers telematischer Transparenz bleiben ihre eigenen Algorithmen jedoch eines der bestgehüteten Geheimnisse weltweit, fern ab von demokratischer Programmierung. Stattdessen werden Suchanfragen sogar personalisiert und erwähnte positive Rückkopplung erzeugt. Dies aber nur als pessimistische Sicht. Eine positive Interpretation wäre, dass demokratische Programmierung stattfindet, da ja jeder Suchende durch seine Anfrage den Algorithmus mitgestaltet. Worin läge dann das Problem? Nun, in der Motivation der Dialogisierenden.

Man stelle sich dazu Folgendes vor: Noch heute entschließt sich Google seinen hochkompetenten Suchalgorithmus auf Facebook zu veröffentlichen. Die maximal informative Information würde von über 800 Millionen dialogisierenden Gehirnen prozessiert, um immer negentropischer, informativer zu werden. Welch ein enormer Wissensschub für die globale (Netz-) Gemeinschaft! Ein undenkbarer leider, denn weder "Suchende" bei Google, noch "Postende" bei Facebook erwartet ein offener Dialog. Die Motive der Plattformen sind schließlich tertiärer, wirtschaftlicher Natur. Für sie lohnt sich der Austausch nur, wenn sie anschließend informierter sind, als ihr Gegenüber. Der Nutzer muss daher seltene - private - Informationen publizieren, um im Gegenzug redundante zu empfangen.

Die erfolgreichen Plattformen sind deswegen zur Ikone angewachsen, weil sie diesen Umverteilungsprozess besonders effizient und diskret (privat) zu ihrem Vorteil gestalten. Für die Nutzer jedoch entsteht ein unsichtbarer kommunikologischer Rucksack. Denn auch sie "nutzen" das Potential nicht. Statt ihre neueste Idee zu publizieren, werden für den "Benefit" des sozial akzeptierten Narzissmus Belanglosigkeiten ausgetauscht. Diese Informationen werden jedoch wertvoll für die Plattform, die sie, in konsumistische Massenbedürfnisse verwandelt, an den User zurückschickt. Weil damit aber letztlich nur "rück-kommuniziert" wird, was ihr vorher bereits (bewusst oder unbewusst) mitgeteilt wurde, entsteht erneut besagte positive Rückkopplung. Populäre Plattformen und Netzwerke bilden damit derzeit zwar zwischenmenschliche Knotenpunkte. Im Unterschied zu Flussers Utopie generieren sie ihre Gravitation jedoch durch eine Ballung von Kommunikationen statt Informationen.

So erfüllen die digitalen Ikonen nicht nur Kriterien klassischer Ikonen, sie sind sogar besser. Ihre Gefahr liegt vor allem in ihrer Tarnung als liberale Demokratiewerkzeuge. Solange es sich aber statt eines globalen Gehirns um ein Dorf mit seinen Bauern, Pfarrern, Händlern, und Bürgermeistern handelt, werden lediglich private Konsumentscheidungen als Supplement bürgerlicher Handlung oder Freiheit suggeriert. "Likes" und "Dislikes" dienen jedoch letztlich der Ikone, der Kommunikationsautorität. Das Netzwerk bedient sich der Öffentlichkeit, nicht andersherum. Die Illusion eines ikonoklastischen Internets wird nur deshalb perfekt, weil in der "realen" Welt (noch!) Ersatzhandlungen durchgeführt werden können - beispielsweise Demonstrationen. Das mag zunächst schizophren klingen.

Virtuelle Netzwerke sind ja offensichtlich an realen Revolutionen beteiligt, eben weil sie antiautoritäre Kommunikation an den Sendern vorbei ermöglichen. Allerdings handelt es sich dabei um analoge Sender. Wir befinden uns jedoch auf der Schwelle von analoger Autorität über das Digitale hin zur digitalen Autorität über das Analoge. Kommunikation in sozialen Netzwerken löst genau deshalb "reelle" Umstürze aus, weil es ihre (ökonomische) Motivation ist, die Nutzer dafür ins "Virtuelle" zu holen. Die derzeitigen Aufstände heißen somit vielleicht im Vordergrund "Volk vs. Unterdrücker". Im Hintergrund - im unartikulierten Prozess medialer Aneignung - aber revolutioniert das Digitale gegen das Analoge. Umso entscheidender ist aus informationeller Sicht der Schutz jener Online-Biotope, die der Wissensmonopolisierung entgegenwirken.

Die populären Kaffeehäuser und Debattierclubs des 21. Jahrhunderts heißen Linux, Wikipedia oder Mozilla Firefox. Inseln von Wissen und freiem Denken, die als Open-Source oder Open-Content-Projekte einer demokratisch-dialogischen Programmierung à la Flusser schon sehr nahe kommen. Denn irgendwann wird dieser Wandel abgeschlossen sein, die derzeitige Hybrid-Welt findet ein Ende und der überwältigende Großteil des Lebens spielt sich im Netz ab. Sie wird Zwang, statt Alternative. Dann stellt sich die Frage, wer die mit Handlungsmacht ausgestattete Autorität besitzt, um kollektive Wahrnehmungen zu prägen und Öffentlichkeit zu schaffen. Und nach dem derzeitigen Stand der Dinge bestimmen wenige Ikonen mit sehr eindeutigen Motiven die bisherige Ordnung in der Online-Welt.

Mathias Rauh ist freier Journalist und Kommunikationskonzepter für Erneuerbare Energien. Als Wirtschaftsingenieur (BA) und Bachelor der Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie Psychologie bewegt er sich an den Schnittstellen von Mensch, Gesellschaft und Technologie. Der Artikel ist eine Zusammenfassung seiner Abschlussarbeit mit dem Titel: "Wahrnehmung ist eine Frage des Standpunktes: Ikonenbilder aus der Perspektive Vilém Flussers".

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