Fortwährende Evolution

Forscher zeigen, dass der Mensch trotz Monogamie und sozialer Lebensweise den Darwinschen Auswahlprinzipien der Evolution ausgesetzt ist

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Vögel singen tiefer, wenn sie in Stadtnähe wohnen. Fische werden eher geschlechtsreif, wenn die Art von Hochseetrawlern gejagt wird. Dass im Umfeld des Menschen Evolution stattfindet, ist unbestritten. Doch ist auch der Mensch selbst noch der natürlichen Auswahl ausgesetzt?

Seit der Mensch Vorratswirtschaft betreibt und in vorwiegend monogamen Beziehungen lebt, scheinen die Bedingungen dafür geschwunden. Es gehört zum "common sense", dass auch Kinder mit im evolutionären Sinn geringer Fitness ein Recht auf ein erfülltes Leben haben. Wer sich seinen Lebensunterhalt nicht mehr selbst verdienen kann, wird von der Gemeinschaft unterhalten. Und die Einehe schränkt das für eine geschlechtliche Auswahl nötige Element der Wahl ein. Hat unsere Evolution deshalb mit dem Erscheinen von Homo sapiens sapiens ein Ende gefunden?

Einig sind sich die Forscher darüber nicht. Dabei ist das Vorhandensein von Selektion im Grunde einfach zu messen: Man benötigt nur genügend viele Daten über ein Merkmal, das man als Auswahlkriterium vermutet, und die Verknüpfung dieses Merkmals mit der Fitness des Individuums. Um hier statistisch signifikante Beziehungen zu erhalten, benötigt man allerdings möglichst viele Daten. Bei Bakterienkolonien oder Fadenwürmern sind diese in kurzen Zeiträumen zu beschaffen – der Mensch mit seiner im Vergleich zu anderen Arten ausgeprägten Langlebigkeit macht es den Forschern nicht so leicht. Die Ergebnisse, die man aus den eher knappen Datenbeständen bisher erhalten hat, sind deshalb meist doppeldeutig.

Potenzial der natürlichen Auswahl groß

Ein Paper in den Veröffentlichungen der US-Akademie der Wissenschaften (PNAS) liefert nun ein paar genauere Antworten. Ein internationales Forscherteam analysiert darin Daten von 5923 Personen, die aus finnischen Kirchenbüchern zwischen 1760 und 1849 gewonnen wurden. Aus den Aufzeichnungen lassen sich interessante Daten ableiten: Zum einen der ökonomische Status einer Person, zum anderen ihren sexuellen Erfolg (gemessen am Heiratserfolg), ihren reproduktiven Erfolg (also die Anzahl der Kinder) und schließlich deren Überlebensrate bis ins fruchtbare Alter als das aus evolutionärer Sicht wichtigste Merkmal.

Die Analyse brachte ein paar erstaunliche Ergebnisse. Dass tatsächlich selektive Kräfte wirken, mag an dieser Stelle nicht überraschen – sonst gäbe es den Artikel nicht. Die Differenzen sind aber erstaunlich stark, obwohl etwa die Möglichkeiten der Partnerwahl stark eingeschränkt waren. Die größten Auswirkungen hatte die natürliche Auswahl dabei in Form der Überlebensrate und der Reproduktionsrate – wobei in beiden Fällen die Werte für Frauen stets etwas höher waren als die für Männer, ohne dass sich Arm und Reich hierbei unterschieden. Eine Differenz zwischen den sozialen Schichten gab es nur in der Anzahl des Nachwuchses: Wer mehr Land besaß, konnte sich auch mehr Kinder leisten.

Die Forscher berechnen daraus, dass die natürliche Auswahl eine beträchtliche Wirkung auf die Evolution der betrachteten Menschengruppen gehabt haben kann – ob diese tatsächlich stattfand, könnte man allerdings nur durch eine Gen-Analyse feststellen. Was verrät das Paper dann überhaupt? Dass zumindest das Potenzial der natürlichen Auswahl auch in einer relativ hoch entwickelten menschlichen Gesellschaft noch groß ist - vergleichbar mit anderen Arten. Unter dieser Voraussetzung wäre es unvernünftig anzunehmen, dass das Potenzial nicht auch umgesetzt wird.