Nach dem Hype der Gen-Analysen

Der Volksglaube an eine genetische Programmierung des Menschen wird immer unhaltbarer. Individuelle Vorhersagen über Krankheiten oder Körpermerkmale lassen sich aus der DNA nicht ableiten

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Depression, Migräne, Müdigkeit, Kurzsichtigkeit, Intelligenz

Noch immer vergeht keine Woche, ohne dass Molekularbiologen und Humangenetiker an die Öffentlichkeit treten und in der DNA eine Sequenz entdeckt haben wollen, die aus der Reihe tanzt und für diese oder jene menschliche Eigenschaften oder Begabung verantwortlich sein soll. Was sagt der Genotyp über den Phänotyp, was sagen die Gene eines Menschen über ihn aus? Welchen diagnostischen oder gar prädiktiven Wert haben die Genvarianten eigentlich, die die Forscher in so großer Zahl entdecken?

Doppel-Helix der DNA. Bild: Jerome Walker/gemeinfrei

Solche Frage versuchten Sachverständige am 3. März in einer Anhörung des Deutschen Ethikrats zu beantworten. Der Ethikrat ist sozusagen für die moralische Folgenabschätzung neuer Medizintechnik zuständig und erarbeitet gerade im Auftrag der Bundesregierung eine Stellungnahme zur Regulierung der genetisch gestützten Diagnostik.

Im Zentrum der Anhörung standen die Volkskrankheiten, beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Darmerkrankungen, Depression und Diabetes. Gemeinsam ist ihnen, dass sie multifaktoriell sind, also das Ergebnis verschiedener genetischer und Umweltfaktoren . "Monogene" Erbkrankheiten machen in Deutschland weniger als drei Prozent aller Erkrankungen aus. Wegen der großen Fortschritte in der molekulargenetischen Forschung seien "Anwendungen in der Medizin hinsichtlich der Aufklärung von Krankheitsursachen und Risikoprognosen" zu erwarten, formulierte der Ethikrat in seiner Einladung. Allerdings waren sich die geladenen Mediziner ziemlich einig, wie der Ethikrat jetzt mitteilte, dass sich multifaktorielle Krankheiten durch individuelle genetische Varianten bisher nicht vorhersehen lassen - und nach Ansicht mancher Experten wird das auch für immer so bleiben.

Seit den 2000er Jahren knüpfen Humangenetiker große Hoffnungen an "genomweite Assoziationsstudien" (GWAS). Solche Studien suchen in den individuellen DNA-Sätzen möglichst großer Stichproben von Kranken nach statistischen Auffälligkeiten. Mit GWAS lassen sich so "Risiko-Gene" identifizieren, beispielsweise für einen Herzinfarkt. Die Aussagekraft dieser Gene ist aber äußerst klein.

Der Kardiologe Heribert Schunkert erläuterte das am Beispiel der weit verbreiteten koronale Herzerkrankungen. Wer einen Herzinfarkt erleiden wird, lässt sich für Personen unter 50 Jahren kaum prognostizieren. Seit 2004 werden nun immer mehr Risikovarianten im Genom identifiziert. Die Merkmalsträger mit der "günstigsten Genom-Variante" entwickeln in 13 Prozent der Fälle die Erkrankung - die Menschen mit der ungünstigsten in 24 Prozent der Fälle. Zusammengenommen entspricht die Aussagekraft aller bisher bekannten genetischen Varianten mit Bezug auf Herzkranz-Erkrankungen gerade mal einem der klassischen Risikofaktoren wie Alter, Ernährung oder Rauchen.

Selbst bei den wesentlich selteneren monogenen Herzkrankheiten wie der Herzrhythmusstörung sieht es kaum besser aus. Zwar erhöht eine bestimmte, kürzlich entdeckte Genmutation das Risiko um 27 Prozent. Aber längst nicht alle Menschen mit dieser Gensequenz werden auch tatsächlich krank, erklärte Schunkert. Von 10.000 Menschen weisen 300 die Mutation auf, aber nur fünf von ihnen trifft die Herzrhythmus-Störung wirklich.

Wie gering der prädiktive Nutzen der DANN-Sequenzierung ist, zeigt das Beispiel der Stoffwechselerkrankungen Diabetes. Die monogene Ausprägung wird dominant vererbt und setzt früh und massiv ein. Aber diese Form ist selten, die meisten Menschen erkranken erst in fortgeschrittenem Alter.

Wie gut können Mediziner also heute vorhersagen, wer später zuckerkrank wird? Eine 50prozentige Trefferquote entspricht bekanntlich dem Würfeln. Nimmt man alle bisher bekannten genetischen Prädispositionen zusammen, lässt sich diese Quote auf 58 Prozent steigern. Klassische Biomarker wie Alter, Geschlecht oder der Body-Mass-Index kommen immerhin auf 80 Prozent.

Der genetische Reduktionismus in der Krise

Ohne Computer wäre es nicht möglich geworden, die Abfolge der Nukleotiden im Zellkern aufzulisten. Aber der Zusammenhang zwischen moderner Genetik und Informationstechnik geht über die Technik der DNA-Sequenzierung hinaus. Weil es halt so praktisch gewesen wäre, übernahm der Mainstream der Genetik von der Informationswissenschaft (je nach Vertreter mehr oder weniger bewusst) das Modell einer Programmsteuerung. Die elementaren Zeichen im "Code der Erbinformation" seien die Basenpaare, die bei der Zellvermehrung ausgelesen werden und so die Ontogenese regeln, die Entwicklung des lebendigen Organismus. In diesem Modell sind die Aufgaben klar verteilt: Die DNA teilt den Zellen mit, was sie zu tun und zu lassen haben. Der Ablauf "DNA - Transkription - RNA - Translation - Protein" entspräche demnach einer Signalkette und, sofern dieser Prozess störungsfrei verläuft, der Genotyp dem Phänotyp.

Für diese brachial reduktionistische Sichtweise war bezeichnend, dass sie die Abschnitte der Desoxyribonukleinsäure, die nicht Proteine kodieren, zu junk, also zu Abfall erklärte (obwohl diese den überwiegenden Teil der DNA ausmachen). Auf dem Höhepunkt des Gen-Enthusiasmus glaubten einige Wissenschaftler sogar, es käme lediglich darauf an, die genetischen Handlungsanweisungen zu entschlüsseln, um dann die Zellen nach unserem Willen zu manipulieren. Wer erst gelernt habe, sich in der Sprache der DNA auszudrücken, könne wie Gott Leben nach seinem Willen schaffen.

Die reduktionistische Sichtweise war dann zu schön (oder schrecklich), um wahr zu sein. Zwar spielen Gene eine große Rolle bei der Ontogenese, aber eben nicht die einzige, vielfach offenbar nicht einmal die entscheidende. Das Bild einer Einbahnstraße von DNA zu Protein ist falsch. In Wirklichkeit gibt es verschiedene Regulationsprozesse in die entgegengesetzte Richtung, beispielsweise die Methylierung, die eine bestimmte DANN-Sequenz erst aktiviert. Die Komplexität der zellulären Prozesse gerät überhaupt erst allmählich in den Blick der Wissenschaftler.

Der genetische Reduktionismus ist in der Krise. Denn selbst wenn die Genetik die lange Zeit unterschätzte Epigenetik theoretisch in den Griff bekommt, bliebe immer noch das Problem, dass verschiedene Genomabschnitte miteinander interagieren. Die Erbinformation ist, banal gesagt, mehr als die Summe ihrer Teile. In ihren riesigen Stichproben finden die Genom-Assoziationsstudien Korrelationen zwischen "ungünstigen" Sequenz-Varianten und bestimmten Krankheiten. Solange aber die Gen-Gen-Interaktion nicht verstanden wurde, lässt sich der Effekt dieser "Risiko-Genen" nicht einfach zusammenzählen und einzeln haben sie nur kleine Effekte. Nature zitierte schon 2008 einen amerikanischen Forscher, der mit einer GWAS nach den genetischen Determinanten für die Körpergröße gesucht hatte. Zwar identifizierte sein Team viele solcher Varianten, aber diese "sagten so wenig aus, dass man genauso gut die Leute fragen könnte, wie groß ihre Eltern gewesen sind".

Die Genetik unterscheidet veränderliche und stabile Erbinformationen. Der Charme der "konstitutiven Sequenzvarianten" - jener genetischen Auffälligkeiten, die von der Eizelle bis zum Tod eines Menschen unverändert bleiben - liegt nun darin, dass sie sehr früh, einfach und einigermaßen billig getestet werden können. Aber solange die zellulären Prozesse, die über Transkription und Translation hinausgehen, nicht einmal in Ansätzen verstanden sind, bringt die DNA-Sequenzierung wenig. Deterministisch - vorbestimmend - muss sie aber sein, sonst bringt sie keinen prädiktiven Nutzen: Lässt der Genotyp nicht wenigstens mit einer gewissen Sicherheit Aussagen über den Phänotyp zu, kann man sich seine Analyse schließlich auch sparen. Da nützt es kaum etwas, dass die "genetische Diagnostik" besser wird, wenn sie durch klassische (wie die Ernährung) und neue Biomarker (wie Blutwerte) ergänzt wird, denn das geht erst später im Lebensverlauf, möglicherweise erst nach Ausbruch der Krankheit.

Der Hype ist vorbei - und was bleibt?

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Ärzte ihre Patienten überhaupt mit den Ergebnissen der genetischen Diagnostik konfrontieren sollten - besonders weil viele von ihnen die Aussagekraft von medizinischen Tests und Statistik selbst nicht verstehen. Was soll ein Patient mit der Information anfangen, sein ererbtes Risiko für ein Glaukom läge um etwa elf Prozent über dem Durchschnitt?

Aber es kommt noch schlimmer. Selbst wenn ein Mensch mit hinreichender Sicherheit einer Risikogruppe zugeordnet werden kann, stehen fast nie spezifische Therapien zur Verfügung. Einen handfesten Nutzen für die Patienten brachte bisher nur die Pharmakogenetik, mit der sich bei manchen Medikamenten bestimmte Unverträglichkeiten ausschließen lassen. Das bekannteste Beispiel ist "Abacavir", ein Mittel für HIV-Kranke, das Menschen mit einer bestimmten genetischen Prädisposition nicht vertragen.

Bei den gängigen komplexen Volkskrankheiten lauten die guten Ratschläge der Ärzte dagegen für Menschen mit einem hohen "genetischen Risiko" ganz genauso wie für Menschen mit einem geringen. Es sind die bekannten, langweiligen und von der Bevölkerung souverän ignorierten Tipps: mehr Bewegung, aufs Rauchen und Alkohol verzichten, eine ausgewogene Ernährung, Stress vermeiden und dauerhafte und erfüllende Beziehungen zu anderen Menschen pflegen.

Was sagt unsere DNA über uns aus? Trotz der Trendwende innerhalb der Genetik selbst stellen die Nachrichtenmedien den komplexen Zusammenhang von Gen-Varianten und späteren körperlichen Veränderungen immer noch als Kette von Ursache und Wirkung dar. Der Mensch erscheint als "Sklave seiner Gene"; seine "Prädisposition" oder "Veranlagung" kann er höchstens noch schlau überlisten oder durch größere Anstrengung ausgleichen.

In einer Konkurrenzgesellschaft ist Gesundheit eine ökonomische Ressource. Viele Menschen befürchten, Krankenkassen und Versicherungen könnten mit DANN-Analysen versuchen, Bewerber auszuschließen, die später überdurchschnittlich hohe Kosten verursachen. Solche Ängste haben ihren Niederschlag im Gendiagnostik-Gesetz gefunden, das beispielsweise verbietet, an Bewerbern um eine Arbeitsstelle einen Gentest durchzuführen. Andererseits versprach die Entzifferung des Genoms neue medizinische Ansätze und vorbeugende Behandlungen. Denn wenn Krankheit als "point of no return in einer molekularen Ereigniskette" verstanden wird, dann lässt sich eventuell durch geeignete Maßnahmen ihr Ausbruch verhindern - Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!

Solche Phantasien wecken, wie es für futuristische Diskurse kennzeichnend ist, in gleichem Maß Angst und Hoffnung. Angsthasen und Draufgänger vertreten denselben genetischen Determinismus, wie der gängige Ausdruck lautet. Offenbar scheint der genetische Determinismus vielen Menschen nach wie vor so einleuchtend und überzeugend, dass Tatsachen eine untergeordnete Rolle spielen. Eine wissenschaftliche Grundlage haben allerdings weder die übersteigerten Ängste noch die übertriebenen Hoffnungen.