War die Wiedervereinigung viel billiger?

Teil 1: Das Rätsel der niedrigen Schulden

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Seit nunmehr 22 Jahren lernen wir, dass die deutschen Staatsschulden wesentlich aus den Lasten der Wiedervereinigung 1990 resultieren. Sie sind sozusagen monetarisierte Solidarität. Das klingt beruhigend und sogar plausibel, blickt man auf die für jedermann sichtbaren Großinvestitionen in Autobahnen, Städtebau, Badeseen und sonstige Infrastruktur.

Blühende Landschaften haben ihren Preis. Wir waren bereit, ihn zu bezahlen. Warum aber haben dann die westdeutschen Gemeinden von 1989 bis 1996 ihre Schulden um 45 Milliarden Mark von 121 auf 166 Milliarden erhöht, die Ost-Gemeinden aber im gleichen Zeitraum nur insgesamt 39 Milliarden Mark aufgenommen? Die westdeutschen Länder verdoppelten gar zwischen 1989 und 1996 ihre Schulden - wegen der Bruderhilfe für ihre ostdeutschen Kollegen?

Berücksichtigt man den jedem Laien bekannten Renovierungs-, Sanierungs und Neubaubedarf in den fünf neun Bundesländern und Ost-Berlin, wird völlig unverständlich, warum zwischen 1989 und 1996 die Gesamtschulden der ostdeutschen Städte und Länder um 121 Milliarden Mark stiegen, die der Westländer im gleichen Zeitraum aber um fast das Doppelte, also um 213 Milliarden Mark. Einen heute beklagten Investitionsrückstand westdeutscher gegenüber ostdeutscher Städte kann es ja in diesem Zeitraum wohl kaum gegeben haben.

Eine kluge Antwort könnte lauten: Die Schulden ostdeutscher Länder und Gemeinden sind so gering, weil alles vom Bund bezahlt wurde. Tatsächlich sind in den meisten Investitionsvorhaben - auch in den westdeutschen - Bundesanteile enthalten, die wiederum im Vermögenshaushalt des Bundes berücksichtigt werden. Finanzzuweisungen an die neuen Bundesländer etwa wurden im Fonds Deutsche Einheit verbucht.

Wenn dem so wäre, ließe sich diese Steigerung an der Steigerung der Gesamtschulden Deutschlands ablesen. Man müsste also nur die Steigerung der Staatsschulden des wiedervereinigten Deutschlands mit der Steigerung der Staatsschulden von Ländern vergleichen, die keine 16 Millionen bankrotte Brüder und Schwestern verköstigen und sanieren mussten, etwa Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada.

Erstaunliches Ergebnis: Das wiedervereinigte Deutschland hat seine Schulden nur wenig mehr gesteigert als der Durchschnitt der anderen EU-Länder. Mit Frankreich und Kanada wiesen gar zwei Top-Industriestaaten eine größere Steigerung der Verschuldung auf. Wie ist das möglich? Wurde die Wiedervereinigung buchstäblich aus der Portokasse bezahlt?

Zitat aus dem Bericht der Bundesbank vom März 1997:

Der Anstieg der Schuldenquote beruhte - abgesehen von den neuen Sondervermögen - zu einem erheblichen Teil auf der Entwicklung beim Bund, der als zentralstaatliche Ebene den Hauptteil der vereinigungsbedingten Anforderungen zu tragen hatte.

Allein für die Übernahme der Altschulden der Deutschen Bahn wandte der Bund bis 1996 78 Milliarden Mark auf - mehr als die Gesamtschulden aller ostdeutschen Städte und Gemeinden. 1989 machten die dann bis 1996 hineingerechneten 78 Bahnmilliarden unvorstellbare 8,39% der Gesamtschulden Deutschlands aus. Diese 78 Milliarden sind aber in den Gesamtschulden 1996 ebenso eingepreist wie die geradezu lächerlichen 19,9 Milliarden Mark (West) Auslandsschulden der angeblich insolventen Deutschen Demokratischen Republik.

Erst 1999 stellte die Deutsche Bundesbank diesen Betrag fest. Allein die Bahn hatte also mehr als dreimal so hohe Schulden wie die gesamte DDR. Dennoch mussten die sozialistischen Devisenbewirtschafter etwa 1 Milliarde Valutamark an jährlichen Zinsen erwirtschaften. Dies war im innerdeutschen Handel längst möglich. Die restlichen Schulden waren Schulden von DDR-Kombinaten in DDR-Mark sowie in mit DDR-Mark verbundenen Ostwährungen wie Rubel, Zloty und Kronen.

Der Fonds Deutsche Einheit nun wies Ende 1996 nur einen Gesamtschuldenstand von 84 Milliarden Mark auf - waren die Kosten der Wiedervereinigung also weit von jener Billion Euro, also von 2 Billionen Mark, entfernt, die bereits 2002 im Deutschen Bundestag als Schätzung der Gesamtkosten genannt wurde?

Addiert man nämlich den Fonds Deutsche Einheit mit den Schulden der ostdeutschen Länder und Gemeinden kommt man Ende 1996 auf ganze 205 Milliarden Mark, also auf etwas über 100 Milliarden Euro.

Wo sind die restlichen 1,8 Billionen Mark geblieben? Im zweiten Teil dieses Specials erfahren wir hoffentlich mehr.