Nach Massenfestnahmen friedlicher Protest-Marsch zum Anti-Putin-Camp Occupy Abaj

Redner vor Abai-Denkmal. Bild: U. Heyden

Moskauer Schriftsteller haben gestern zu einem "Kontrollspaziergang" durch die Stadt aufgerufen

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Angeführt von den Schriftstellern Boris Akunin und Dmitri Bykow zogen rund 10.000 Menschen - meist Angehörige der Mittelschicht und der Intelligenz - entlang des Moskauer Gartenrings zur Parkanlage Tschistie Prudy. Dort haben seit einer Woche Hunderte von Aktivisten unter freiem Himmel das Anti-Putin-Camp Occupy Abaj eingerichtet. Mit dem "Kontrollspaziergang" wollte man - so Krimi-Autor Akunin - prüfen, "ob man in Moskau noch ohne Polizeisanktionen spazieren gehen kann". Die Polizei zählte nur 2.000 Teilnehmer und hielt sich während des "Spaziergangs" im Hintergrund.

Am Puschkin-Platz, wo sich die "Spaziergänger" gesammelt hatten, stand etwas abseits ein Außenseiter. Der links-patriotische Schriftsteller Aleksandr Prochanow erzählte den Umstehenden, dass mit dem "Spaziergang" eine neue "Waffe" ausprobiert werde, die schon von den Amerikanern erfolgreich in Libyen ausprobiert worden sei. Die Unzufriedenheit über Ungerechtigkeit sei "richtig", man dürfe sie aber "nicht gegen den Staat richten".

Angst vor Kriminalisierung

Moskaus Protestbewegung für ehrliche Wahlen pendelt zwischen zwei Polen, einem liberalen-gemäßigten und einem radikalen Flügel um den Leiter der Linken Front Sergej Udalzow und den Blogger Aleksej Nawalny. Udalzow hatte für den 6. Mai, einen Tag vor Putins Amtsantritt, zu einem "Marsch der Millionen" aufgerufen, zu dem aber nur 20.000 Menschen kamen. Die Demonstration am 6. Mai endete in einer Massenschlägerei (Putin preist "Soldaten der Freiheit") . Die Polizei ging hart vor und verhaftete über 400 Menschen. Viele Beobachter meinen, dass Udalzow und Navalny bei der Demonstration am 6. Mai nicht genug getan haben, um eine Konfrontation mit den Ordnungskräften zu verhindern. "Beide Seiten haben provoziert", so die Meinung vieler Liberaler.

Gestern nun hat der gemäßigte Flügel der Protestbewegung, vertreten durch bekannte Schriftsteller, einen friedlichen Akzent gesetzt. Eine Kriminalisierung der Protestbewegung als "gewalttätig" möchte man auf jeden Fall verhindern. Die Schriftsteller wollten zeigen, dass der Wechsel in Russland friedlich vor sich gehen soll.

Der "Kontrollspaziergang" war nach Meinung der Schriftsteller nötig geworden, weil es bei kleineren Flash Mobs nach Putins Amtsantritt zu Hunderten von Festnahmen kam. Festgenommen wurde auch die bekannten Sprecher, Udalzow und Nawalny. Wegen "Nichtbefolgung von Anordnungen der Polizei" bekamen sie eine 15tägige Haftstrafe.

Occupy-AG: Wie schaffen wir die Zensur ab? Bild: U. Heyden

Nachdem gestrigen "Kontrollspaziergang", bei dem es keine Festnahmen gab, äußerte sich Krimi-Autor Akunin zufrieden. "Die Macht muss verstehen, dass sie mit ihrem Volk höflich sprechen muss." Es komme "nichts Gutes" dabei heraus, wenn man das Volk "mit Gummiknüppeln jagt".

Das Denkmal eines kasachischen Schriftstellers wurde zum Treffpunkt

Ziel des gestrigen "Kontrollspaziergangs" war das Moskauer Occupy-Camp in der Parkanlage Tschistije Prudy. Seit einer Woche versammeln sich dort um das Denkmal des kasachischen Schriftstellers Abaj Qunanbajuly täglich 500 bis 1.000 Menschen zu Diskussionen und Vorlesungen. Etwa 50 Personen verbringen die Nächte in Schlafsäcken.

So etwas hat es in Moskau noch nicht gegeben. Jeder kann kommen und gehen wann er will, diskutieren, sich gegen eine Spende einen Plastik-Teller mit Buchweizengrütze und Würstchen füllen lassen, Flugblätter verteilen, Bücher kaufen. Eltern kommen mit ihren Kindern. Es herrscht eine friedlich-entspannte Atmosphäre, die auch viele Neugierige anzieht. Immer wieder fahren laut hupende Autos vorbei. Die Aktivisten beantworten das Sympathie-Hupen mit lautem Klatschen.

Politischer Eintopf

Aktivisten der Linken Front und Anhänger der Nationalisten haben ihre Iso-Matten nicht weit voneinander ausgerollt. Man organisiert gemeinsam den Wachdienst. Niemand scheint sich an diesem politischen Eintopf zu stören und bei Nachfragen erhält man von den Camp-Teilnehmern immer die gleiche Antwort. "Es geht darum freie Wahlen durchsetzen", meinte die Umweltschützerin Lena Wasiljewna, die extra aus Murmansk angereist ist. Danach werde man weiter sehen.

Nationalist mit der Aufschrift: "Putin Räuber". Bild: U. Heyden

Auch bei den Workshops herrscht der reinste Pluralismus. Auf einer Stellwand werden mit Filzstift die nächsten Vorträge angekündigt. "18:00 Selbstverwaltung in der Universität. 19:00 Streik in Kaluga (dem neuen Zentrum der Autoindustrie südlich von Moskau, Anm. d. Autors). 20:00 Wie erreichen wir die Abschaffung der Zensur im Fernsehen? 21:00 Tahrir. Wie wurde Mubarak besiegt. Diskussion mit Teilnehmern der Ereignisse." Lautsprecher-Anlagen werden nicht eingesetzt.

Um eine Vortragende, eine Frau mittleren Alters mit leicht angegrauten langen Locken, hat sich ein großer Kreis von Menschen gebildet. Viele sitzen auf dem Rasen. Die Vortragende spricht über die Geschichte des zivilen Ungehorsams von Sokrates bis Martin Luther King. An einer anderen Stelle im Park haben sich junge Marketing-Experten versammelt. Sie debattieren, wie man die Neuwahl der Duma mit der SMART-Strategie durchsetzen kann.

Solidarität mit Pussy Riot. Bild: U. Heyden

Um die Finanzspekulationen der Banken - dies war der Auslöser der Occupy-Bewegung in den USA - geht es auf dem Moskauer Open-Dauer-Meeting nicht. Hauptthema ist was man der "gelenkten Demokratie" von Putin entgegensetzen kann.

Wifi-Zone unter Bäumen

Die Selbstorganisation im Camp scheint zu funktionieren. Ein Generator tuckert, es gibt eine Wifi-Zone. Überall sitzen Aktivisten mit ihren Laptops. Zwischen den Bäumen ist eine Plastikplane aufgespannt. Ein selbstorganisierter Wachdienst sichert das Gelände.

Es gibt Gerüchte, die Sicherheitskräfte wollten den Treffpunkt am Dichter-Denkmal demnächst auflösen, weil es angeblich Beschwerden der Anwohner gibt. Doch was könnte Anlass für Beschwerden sein? Der Müll wird in Plastiksäcken ordnungsgemäß gesammelt und jeden Morgen von der Stadtreinigung abtransportiert, erzählt Denis von der Linken Front. Nur mit den Toiletten gäbe es Probleme. In Sichtweite stehen zwar ein paar hellblaue Dixi-Klos. Aber "die haben ihr Speichervermögen schon erreicht". Zu viele Annehmlichkeiten will die Stadtverwaltung den Camp-Teilnehmern offenbar nicht bieten. Viele Aktivisten gehen zum Aufwärmen - es gibt immer wieder Regenschauer - in umliegende Cafés.

"Einen Wechsel fordern unsere Herzen"

Immer wieder hört man auf dem Camp zur Gitarre das Lied des russischen Rock-Sängers Viktor Zoi, "Peremen" (Wechsel). "Einen Wechsel fordern unsere Herzen. Einen Wechsel fordern unser Augen." Das Lied wurde schon Ende der 1980er Jahre, während der Perestroika unter Gorbatschow von den jetzt 50jährigen gesungen. Jetzt singen es ihre Kinder die sich um das Denkmal eines kasachischen Schriftstellers versammelt haben.