Manipulation mit ungedeckten Leerverkäufen

Goldman-Anwälte machen versehentlich peinliche Dokumente zugänglich

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Seit Jahren prozessieren Goldman Sachs und Merrill Lynch (heute Teil der Bank of America) gegen mehrere Publikationen, um Dokumente über ihre Geschäftsgebarung unter Verschluss zu halten, die in einem alten Verfahren aufgetaucht waren. Nun haben ihre Anwälte irrtümlich eine Zusammenfassung eben dieser Dokumente an die Öffentlichkeit gebracht – und die bestätigen neuerlich alle Vorurteile zu den korrupten Praktiken der führenden Finanzhäuser.

In dem mittlerweile eingestellten Prozess hatte der Online-Handelspionier Overstock.com unter anderem die Wall-Street-Investmentbanken Morgan Stanley und Goldman Sachs auf 3,5 Milliarden Dollar geklagt, weil sie den Kurs der Overstock-Aktie in den Jahren 2005 bis 2007 massiv manipuliert hätten, wozu vor allem die illegale Praxis des "naked short selling" (ungedeckter Leerverkauf) genutzt worden sei.

Während overstock.com sich mit den weiteren Beklagten inzwischen aber auf eine Zahlung von 4,4 Mio. USD verglichen hatte, blieben die Investmentbanken hart und es gelang ihnen, diesen Jänner die Klage ohne Schuldspruch abweisen zu lassen - dies allerdings nur weil die Klage in Kalifornien eingebracht worden war und die Banken zeigen konnten, dass keiner der inkriminierten Sachverhalte in Kalifornien stattgefunden hatte.

Darüber hinaus unternahmen die Banken aber auch alles, um die im Verfahren aufgetauchten Protokolle und Emails, in denen Mitarbeiter von Goldman Sachs und Merrill Lynch die inkriminierten Vorgangsweisen untereinander sowie mit den Kunden diskutiert hatten, unter Verschluss zu halten. Denn so würden "wichtige Geschäftsgeheimnisse" bekanntgemacht, was mehr als fünf Jahre später wohl doch einen durchaus verwegenen Standpunkt darstellt.

Der Klage, diese freizugeben, hatten sich dann allerdings auch Medien wie der Economis, Rolling Stone und Bloomberg angeschlossen, die wohl nicht damit gerechnet hatten, sich so einfach durchsetzen zu können. Denn die gegnerischen Anwälte hatten einer öffentlich zugänglichen Eingabe offenbar versehentlich eine alte Klageschrift ihrer Gegner beigefügt, die die in Frage stehenden Dokumente pointiert zusammenfasst und nun unwiederbringlich im öffentlichen Raum angekommen ist.

In diesen Mails rät etwa ein Merrill-Mitarbeiter einem anderen, Compliance-Regeln zu ignorieren. Die Dokumente lassen auch wenig Zweifel an der skrupellosen Energie, mit der die Broker diese illegalen "nackten Leerverkäufe" umgesetzt hatten.

Versprechen auf maximalen Gewinn bei minimalem Kapitaleinsatz

Dabei war zuletzt schon die (legale) Praxis des "Short-selling" (Leerverkäufe) von Aktien im Zuge der jüngsten Finanzmarktturbulenzen schwer in die Kritik geraten. Denn es trug massiv zu den schweren Kurseinbrüchen etlicher Banken während der jüngsten Finanzmarktturbulenzen bei und wurde in Europa für Finanztitel daraufhin zeitweise untersagt.

Bei dieser an den Finanzmärkten seit Jahrhunderten üblichen Spekulation auf fallende Kurse leiht sich z.B. ein Hedgefonds bestimmte Aktien aus und verkauft sie sofort an der Börse. Dabei spekuliert er darauf, diese Aktien bis zum vereinbarten Rückgabetermin an der Börse billiger zurückkaufen zu können, wozu natürlich auch der Verkaufsdruck durch den ursprünglichen Aktienverkauf beitragen soll. Sinken daraufhin die Börsenkurse tatsächlich, dann streicht der Spekulant die Differenz zwischen der Summe, die er für den ursprünglichen Verkauf kassiert hat, und dem nun niedrigeren Börsenkurs ein. Wenn diese Differenz die Kosten der Aktienleihe übersteigt, erzielt er also einen Gewinn.

Geht die Spekulation hingegen schief und steigt der Börsenkurs, dann muss der Spekulant die geliehenen Aktien teuer an der Börse zurückkaufen und erleidet einen Verlust. Man spricht dann von "Short-covering" und der zuvor entstandene Verkaufsdruck kehrt sich um, weshalb durchaus argumentiert werden kann, dass die "gedeckten Leerverkäufe" letztlich doch nicht zu Marktmanipulation führen. Denn stets sei auch ein gleich hoher Druck in die Gegenrichtung damit verbunden und die Leerverkäufe würden die "normalen" Entwicklungen allenfalls beschleunigen, nicht aber verursachen.

Ob diese Argumentation aber zutrifft oder nicht, sei dahingestellt. Klar ist, dass derartige Geschäfte jedenfalls erhebliche Auswirkungen auf den kurzfristigen Kursverlauf der betroffenen Aktien haben, weshalb den Angaben zu den jeweils offenen Positionen (die bei Wetten auf Kursverluste als "short", bei Spekulationen auf Kursgewinne als "long" bezeichnet werden) von den professionellen Marktteilnehmern höchste Aufmerksamkeit geschenkt wird. So gibt das Volumen an Wetten, die gegen eine bestimmte Aktie eingegangen werden, Aufschluss darüber, wie die Marktteilnehmer diesen Titel einschätzen ("Sentiment"); und besonders, ob bei gegenläufiger Kursentwicklung mit entsprechender Short-covering zu rechnen ist. Da diese Trades im Erfolgsfall maximalen Gewinn bei minimalem Kapitaleinsatz versprechen, erfreuen sie sich so großer Beliebtheit, dass das Volumen an für eine Leihe verfügbaren Titel bei beliebten Spekulationsobjekten die Nachfrage oft bei weitem übersteigt, bzw. die Leihgebühr enorm hoch ist.

Why would we have to borrow them? We want to fail on them.

Thomas Tranfaglia, damals Merrill Lynchs Clearing-Chef

Naked Short Selling

Diese Titel aufzutreiben und den Spekulanten zur Verfügung zu stellen ist die Spezialität von Finanzhäusern wie Goldman, die solche Geschäfte dann oft als "Prime Broker" für Hedgefonds abwickeln. Hier kommt nun das verbotene "naked (uncovered) short-selling" (ungedeckte Leerverkäufe) ins Spiel, bei dem solche Leerverkäufe getätigt werden, ohne dass die Aktien zuvor tatsächlich ausgeliehen wurden. Dies ist möglich, indem die entsprechenden Deals von Brokerhäusern wie Goldman oder Merrill zwar zuerst "normal" verbucht werden, dann aber vom Broker/Market-maker nicht real abgewickelt, sondern gecancelt werden, was als "fail to deliver" bezeichnet wird und auch ohne Korruptionsabsicht bei unbalancierter Angebots/Nachfrage-Situation immer wieder vorkommt. Denn bei solchen Geschäften haben normale Marktteilnehmer drei Tage Zeit, um die betroffenen Stück real zu liefern, einem "Market-maker" werden dafür sogar 13 Tage eingeräumt. Erfolgt die Lieferung dann aber nicht, gilt der Trade als "fail", was aber nichts daran ändert, dass er in den Statistiken als normales Geschäft verbucht wird.

Beim "naked short selling" wissen die Trader aber schon im Vorhinein, dass der Trade nicht zustande kommt, weshalb der Broker pro forma nicht nur praktisch unbeschränkte Volumina zur Leihe anbieten kann, sondern es fallen dafür auch keine Leihgebühren an. Beispielsweise geht aus den Dokumenten hervor, dass von der Overstock.com-Aktie zeitweise ein höheres Volumen (107 Prozent) "ausgeliehen" war, als insgesamt an der Börse notiert war. Während andere Broker angesichts der nicht ausreichend verfügbaren Stückzahlen für die Aktie Leihgebühren von 35 Prozent (auf Jahresbasis) verlangten – d.h. ein Spekulant hätte (auf Jahresbasis) einen mindestens 35prozentigen Kurseinbruch benötigt um in die Gewinnzone zu gelangen –, entfielen bei den "nackten" Verkäufen diese Kosten. Nach außen sah es jedoch so aus, als würde jede Menge an Spekulationskapital mit derart horrenden Kurseinbrüchen rechnen, wodurch das "Sentiment" gegenüber ihrer Aktie laut overstock.com wesentlich schlechter ausgesehen hätte, als ohne diese Praxis.

We have to be careful not to link locates to fails [because] we have told the regulators we can't.

Ein unidentifizierter Goldman-Manager

Aus den Emails geht nun klar hervor, dass die Investmentbanken derartige Geschäfte für bevorzugte Kunden bewusst durchgeführt und vor den Aufsichtsbehörden verheimlicht hatten. Wie aus internen Diskussionen hervorgeht, wussten diese Kunden schon im vorhinein, dass bestimmte Orders auch dann "gefailed" würden, wenn ausreichend Material für eine Exekution vorhanden gewesen wäre. Weitere Details lassen zudem vermuten, dass bevorzugte Kunden von den Investmentbanken über die genauen Short-Positionen anderer Marktteilnehmer zu deren Nachteil informiert wurden. Gegenüber den Aufsichtsbehören wurde das alles natürlich verheimlicht. Nicht zuletzt geht aus den Dokumenten auch hervor, mit welchem Druck die mächtigen Investmentbanken versucht haben, ihren Prozessgegner die besten Anwälte abspenstig zu machen.