Wenn eine Ex-Terroristin und ein Staat gemeinsam auf halbem Weg stehen bleiben

Im Mordfall Siegfried Buback wird das Verhalten der Bundesanwaltschaft immer fragwürdiger

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"Nur die Lüge braucht die Stütze der Staatsgewalt, die Wahrheit steht von alleine aufrecht", heißt es in einem geflügelten Wort von Thomas Jefferson. Als die ehemalige Terroristin Verena Becker am Montag vor dem Oberlandesgericht Stuttgart aussagte, offenbarte sich der Abgrund, in dem der Mordfall Siegfried Buback liegt, deutlicher denn je. Die Bundesanwaltschaft nutzte die Einlassungen Beckers, um ihre eigene Position in dem Fall bestätigt zu sehen. Beckers Entscheidung, keine Fragen zu ihren Aussagen zu beantworten, nahm die Bundesanwaltschaft zum Anlass, erst gar keine Fragen zu stellen.

35 Jahre nach dem Buback-Attentat kann man nur erschüttert darüber sein, wie mangelhaft die staatlichen Bemühungen zur Aufklärung des Verbrechens sind. Bundesanwalt Walter Hemberger warf Becker vor, mit ihrer Erklärung auf halbem Wege stehen geblieben zu sein. Ein Vorwurf, der mindestens genauso auf staatliche Stellen zutrifft. Es wird höchste Zeit, dass politische Funktionsträger sich für eine unabhängige Untersuchungskommission einsetzen, die sich nicht nur dem Mordfall Buback, sondern dem RAF-Komplex als Ganzes annimmt. Die historische, die politische, aber auch die juristische Aufarbeitung der RAF-Verbrechen ist längst nicht erschöpft. Die Frage, wie nahe der Kontakt zwischen Teilen der RAF und den Geheimdiensten war, muss dringend untersucht werden. Die Zeit ist überreif, auch das schwer zu Fassende offen zu denken.

Die Erklärung

Verena Becker hat gesprochen. Am Montag, dem 14. Mai 2012. 20 Minuten lang. Doch bereits an dieser Stelle muss eine Selbstkorrektur erfolgen. Hat Verena Becker tatsächlich gesprochen? Waren es genau genommen nicht ihre beiden Verteidiger, die gesprochen haben?

Die Aussagen, die Verena Becker im Saal 6 des Oberlandesgerichts in Stuttgart von Papier abgelesen hat, waren leicht zu verstehen. Ein einfacher Satzbau, eine einfache Wortwahl. Sie wirken authentisch, anschaulich. Sie klingen im ersten Moment so, als stammten die Aussagen in der Form, wie sie sie vorgelesen hat, tatsächlich von ihr. Wer sich die Einlassungen Beckers anschaut, fühlt sich im Stile an einen Bild-Zeitungsartikel erinnert. Kein Leser/Zuhörer soll stehen gelassen werden, alle sollen verstehen, was geschrieben, was gesagt wird.

Journalisten wissen, dass hinter Bild-Artikeln, die oftmals wegen ihrer einfachen Sprache belächelt werden, sehr viel Arbeit steckt. Auch hinter Beckers Einlassungen steckt sehr viel Arbeit. Die Erklärung Verena Beckers muss zunächst einmal als ein bis in das letzte Wort zu recht geschliffener juristischer Schachzug betrachtet werden, der nur ein Ziel hat, nämlich rechtliche Konsequenzen, die der Angeklagten drohen könnten, auf ein Minimum zu reduzieren. Gewiss, eine simple Erkenntnis. Doch, der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Oft sind es die offensichtlichen Dinge, aus denen man mehr erfahren kann, als es der erste Blick vermuten lässt.

Wie glaubwürdig kann eine Stellungnahme sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von langer Hand geplant und mit einer fein eingestellten Sprache der Angeklagten zum Vorlesen vorgelegt wurde?

Immerhin geht es in dem Verfahren laut Anklageschrift um den Verdacht eines gemeinschaftlich begangenen dreifachen Mordes. Becker und ihre Verteidiger haben folglich viele gute Gründe, mit Bedacht im Gericht vorzugehen. Das ist, juristisch gesehen, völlig legitim.

Doch das, was sich am Montag nach der Aussage Beckers im Gerichtssaal abspielte, war für einen Rechtsstaat, der nach all den Unzulänglichkeiten, die die Ermittlungen im Fall Buback zu Tage gebracht haben, tunlichst darauf bedacht sein sollte, endlich würdige juristische Akzente zu setzen, ein Trauerspiel.

Prästabilierte Harmonie

Die Stellungsname der Bundesanwaltschaft, vertreten durch Bundesanwalt Walter Hemberger, war kurz. Einige Minuten verwendete Hemberger dazu, Becker ins Gewissen zu reden. Sie sei "auf halbem Wege stehen geblieben" und wüsste, wer geschossen habe. Außerdem habe er von ihr erwartet, dass Becker sich deutlich von ihren Taten distanziere.

Es klang ein wenig so, als spräche der Direktor einer Grundschule mit erhobenem Zeigefinger zu einem Neunjährigen, den er gerade mit einer Zigarette erwischt hatte. Hemberger unternahm noch nicht einmal den Versuch, die Angeklagte durch direkte inhaltliche Fragen zu ihren Einlassungen zum Reden zu bringen. Warum?

Zu der HK 43 und den anderen Waffen, die nach meiner und Günter Sonnebergs Verhaftung am 3. Mai 1977 in einem Rucksack bei uns gefunden wurden, stelle ich fest: Mein einziger Bezug zu diesen Waffen bestand darin, dass wir sie ins nahegelegene Ausland in ein Depot bringen wollten. Mit der HK 43 habe ich im Übrigen nie geschossen.

Verena Becker

Eigentlich wäre nun zu erwarten, dass ein Ankläger mit Nachdruck versucht zu erfahren, von wem sie denn die Waffe in Empfang genommen hat. Nicht so in Stuttgart. Was spielt es schon für eine Rolle, woher Becker und Sonnenberg die Waffe haben? Was bedeutet es schon, im Besitz einer Mordwaffe zu sein?

Für Wolfgang Kraushaar, Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS), der ein beachtenswertes Buch über Verena Becker und deren Verbindungen zum Verfassungsschutz geschrieben hat (Die RAF und die Geheimdienste), sind "die üblichen Strukturbeziehungen eines Gerichtsverfahrens" im Fall Becker geradezu "auf den Kopf gestellt", wie er gegenüber Telepolis sagte:

Die Bundesanwaltschaft arbeitet mit der Verteidigung so sehr zusammen, dass man schon von einer prästabilierten Harmonie sprechen könnte. Meistens war es so, dass Beckers Verteidiger schweigen konnten, weil die Anklagevertretung ihr Geschäft bereits übernommen hatte. Sie hat alle Zeugen, die die Angeklagte hätten in Bedrängnis bringen können, so gut es irgendwie ging zu dementieren versucht.

Wolfgang Kraushaar

Allerdings hält Kraushaar Beckers Angaben durchaus für glaubwürdig, da sie seiner Meinung nach ein extrem hohes Risiko einginge, wenn sich ihre Aussagen irgendwann als falsch herausstellten.

Das mag sicherlich sein. Und vielleicht hat Verena Becker tatsächlich die Wahrheit gesagt. Doch warum erweckt der gesamte Prozess den Eindruck, dass die prozessuale Wahrheit auf eine für ein Gericht doch sehr "eigenwillige" Weise zustande kommt? Der Fall Buback ist zu verwinkelt, als dass eine eindimensionale Betrachtungsweise ihm gerecht würde.

"Eigentlich ist es doch egal, wer seinen Vater erschossen hat"

30 Jahre sah sich offenbar keine staatliche Stelle in der Pflicht herauszufinden, wer genau die tödlichen Schüsse auf Generalbundesanwalt Buback abfeuerte. Der Sohn des Mordopfers musste selbst, nachdem er von einem Ex-Terroristen darauf aufmerksam gemacht wurde, dass der eigentliche Mörder seines Vaters nie ermittelt wurde, die Ermittlungen antreten. Der Sohn musste bitten, fast schon flehen, damit sich die Ermittlungsbehörden dem Fall annehmen.

Der Buback-Komplex, so stellt sich dann während des folgenden Gerichtsprozesses raus, wird zu einem Bermuda-Dreieck der deutschen Justiz (man will gar nicht darüber nachdenken, was alles an Asservaten und Akten verschwunden ist). Michael Buback, der als Nebenkläger in der Verhandlung antritt und aktiv in den Prozess eingreift, wird bisweilen, mal mehr, mal weniger offensichtlich, als "Störenfried" vor Gericht behandelt, gerade so, als sei er der Bösewicht. Und schließlich stehen da noch die unfassbaren Äußerungen eines hochrangigen BKA-Beamten im Raum, der sagt, dass es doch letztlich egal sei, wer den obersten Anwalt der Bundesrepublik Deutschland 1977 erschossen hat:

Ich halte ihn für verbohrt, wenn nicht gar krank. Eigentlich ist es doch egal, wer seinen Vater erschossen hat. Ich kann nicht nachvollziehen, warum er das unbedingt wissen will.

Wolfgang Steinke, ehemaliger Abteilungsleiter beim Bundeskriminalamt, in der ZDF-Dokumentation "Buback - Die Suche nach der Wahrheit"

Steinkes Meinung nach zählt wohl nur, dass es Verurteilungen für den Mord an Buback gab, wer nun genau geschossen habe, sei nicht von Relevanz. Kämen solche Worte aus dem Munde eines Stammtischbruders, was anderes bliebe einem übrig, als mit den Kopf zu schütteln und den Irrsinn einer solchen Aussage im Anschluss mit einem kalten Bier herunter zu spülen. Doch wenn solche Worte aus dem Munde eines ehemaligen hochrangigen Kriminalbeamten kommen, dann verdichtet sich schlagartig die Vermutung, dass die Ermittlungen im Mordfall Buback, im besten Falle, mit einer Nachlässigkeit geführt wurden, die ihres Gleichen sucht. Angesichts solcher Aussagen verwundert es nicht, wenn Zweifel darüber, wie tief Teile des Staates eigentlich mit im Dreck der RAF-Verbrechen stecken, genährt werden.

Ein weiterer Gesichtspunkt, der mehr als nachdenklich stimmt: Die Bundesanwaltschaft kritisiert, dass ehemalige RAF-Mitglieder, die vor Gericht erscheinen, ihren Schweigepakt aufrecht erhalten, doch über den Maulkorb, den nahezu alle ehemaligen staatlichen Funktionsträger, die vor Gericht ausgesagt haben, verpasst bekamen, wird kaum ein Wort verloren.

Ein Chefankläger, der die Vielzahl von eingeschränkten Aussagegenehmigungen ohne deutliche Kritik auch nach außen hinnimmt, verspielt seine Glaubwürdigkeit. Die Reihe der Personen, die nur mit einer eingeschränkten Aussagegenehmigung vor Gericht aussagen durften, ist zu lange, als das man darüber hinwegsehen könnte:

Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister: eingeschränkte Aussagegenehmigung. Ludwig-Holger Pfahls, ehemaliger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz: eingeschränkte Aussagegenehmigung. Alfred H., Kriminalhauptkommissar beim BKA, seit 2007 mit den wieder aufgenommenen Ermittlungen zum Fall Buback betraut: eingeschränkte Aussagegenehmigung. Ein Zeuge, der Informationen für das Bundesamt für Verfassungsschutz beschafft hat, tritt gar gleich unter einem Fantasienamen "Manfred Sundberg" auf. Auch er: eingeschränkte Aussagegenehmigung.

Man durchsuche nur einmal den Blog auf dem Michael Buback bei dem Sender 3 Sat über den Prozess schreibt nach dem Wort: Aussagegenehmigung. Es taucht fast überall auf. Doch nicht nur die eingeschränkten Aussagegenehmigungen oder die Verfassungsschutzakten, die noch nach 35 Jahre mit einem Sperrvermerk (deren Inhalt könne das Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes gefährden) versehen sind, auch die vielen kleineren und größeren Unzulänglichkeiten, die auch in der aktuellen juristischen "Aufarbeitung" des Falles auftauchen, erwecken den begründeten Verdacht, dass Michael Buback gegen mehr als eine Justiz anzukämpfen hat, die etwas unglücklich bei der Aufarbeitung des Falles agiert hat.

Erst vor kurzem ist Michael Buback in einer Asservatenliste des BKA auf den Gipsabdruck einer Fußspur gestoßen, die in unmittelbarer Nähe von dem Ort stammt, an dem die Täter ihr Tatmotorrad abgestellt hatten, um in den Fluchtwagen umzusteigen. Der Fußabdruck war frisch. Der Fußabdruck war für die damaligen Ermittler offenbar so wichtig, dass sie einen Gipsabdruck anfertigen ließen. Der Gipsabdruck kann laut BKA einem Schuh der Schuhgröße 40 zugeordnet werden: der Schuhgröße von Verena Becker. Für Buback ein gewichtiges Indiz. Für die Bundesanwaltschaft ein unwesentlicher Gesichtspunkt (Mord an Siegfried Buback: Gibt es einen Fußabdruck vom Schützen?).

Die Art und Weise, wie die Bundesanwaltschaft die Fußspur bewertet, fällt mittlerweile nicht nur juristischen Laien unangenehm auf. Professor Henning Ernst Müller vom Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie der Universität Regensburg schreibt auf einem Blog für Juristen:

Natürlich könnte die Fußspur auch von irgendjemand anderem stammen, einem Spaziergänger, Angler etc. Wenn es aber stimmt, dass der Bundesanwalt (!) in der Hauptverhandlung darauf beharrt, die Fußspur sei "unerheblich", dann scheint mir hier ein eklatanter Mangel an kriminalistischem Grundwissen vorzuliegen. Noch einmal: Wäre das Profil des Gipsabdrucks einer Fußspur in der Nähe des Motorradfundorts übereinstimmend mit einem Schuh der Angeklagten, dann wäre dies ein sehr wichtiges Indiz, fast ein umittelbarer Beweis, dass sie auf dem Motorrad gesessen hat. Solange ein Vergleich nicht durchgeführt wurde, ist deshalb dieser Gipsabdruck erheblich.

Wurde dies damals nicht geprüft und kann es wegen Zeitablaufs bzw. nicht mehr vorhandener Asservate heute auch nicht mehr nachgeholt werden, ist dies ein (möglicher) Beweisverlust durch ein schweres Versäumnis der Ermittler, die nach der Festnahme von Frau Becker auch ihre Kleidung untersucht haben müssen. Da bei ihr die Tatwaffe gefunden wurde, lag es ja auf der Hand, sie mit dem Buback-Mord in Verbindung zu bringen. Haben die damaligen Ermittler dies versäumt, ist Bundesanwalt Hemberger nicht dafür verantwortlich und er kann auch heute nichts mehr daran ändern, wenn die Asservate fehlen. Aber es irritiert schon, wenn ausgerechnet der Anklagevertreter sich so für die Angeklagte einsetzt.

Henning Ernst Müller

Doch von der Diskussion über einen möglichen Mangel an kriminalistischen Grundwissen bei der Bundesanwaltschaft mal abgesehen: Alleine die zeitliche Distanz von 35 Jahren zwischen Tat und dem (Nicht-)Versuch der Aufklärung scheint wie eine mahnende Allegorie über dem Fall zu stehen, die stilbildend nicht nur für den juristischen Umgang mit dem RAF-Terrorismus ist. Auch im kriminalistischen, im politischen, aber vor allem auch im historischen Umgang mit dem RAF-Komplex fehlt die Veranschlagung einer neuen Perspektive.

Wer den Fall Buback und die zahlreichen "Unzulänglichkeiten", die die Ermittlungsarbeit, angefangen vom Tag des Anschlags bis heute, mit all ihrem möglichen Facetten verstehen will, darf die Frage nicht ausklammern, ob die Verbindung zwischen Teilen der RAF und den Geheimdiensten nicht viel enger waren, als oberflächlich betrachtet angenommen. Eine der schlimmsten Theorien die den Fall Buback umgibt ist, dass möglicherweise der Generalbundesanwalt einem Mordkomplott zum Opfer fiel, in dem Teile des Staates selbst ihre involviert waren. Undenkbar? Unfassbar?

Der Fokus muss dringend erweitert werden

Im Fall Buback dreht sich eine Kernfrage auch darum, seit welchem Zeitpunkt die Angeklagte Verena Becker Kontakt zum Bundesverfassungsschutz hatte. Offiziell wird eingeräumt, dass es eine Berührung zwischen Verfassungsschutz und Becker seit 1981 gab. Stasi-Akten, über deren Glaubhaftigkeit man diskutieren kann, legen nahe, dass Becker bereits "seit 1972 von westdeutschen Abwehrorganen wegen der Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppierungen bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten wird."

Was im Umgang mit dem Terror der Roten Armee Fraktion oft übersehen wird ist, dass in Europa über Jahrzehnte ein streng geheimes Netzwerk einer Untergrundarmee existierte, die unter dem Kommando der NATO stand und nach dem 2. Weltkrieg in nahezu allen westeuropäischen Staaten von den Geheimdiensten CIA und MI5 installiert wurde, um im Falle einer sowjetischen Invasion einen Partisanenkrieg zu eröffnen.

Historiker legen nahe, dass Teile dieses Netzwerkes im Rahmen der sogenannten Strategie der Spannung direkt und indirekt mit in den Terrorismus, der über Jahre viele Länder Europas erschütterte, verstrickt waren und dabei auch vor der Ermordung eines Staatsoberhauptes, nämlich des italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro, nicht zurückschreckten. In Italien, wo die Verbindung des Netzwerkes mit Namen Gladio in grausame Terroranschläge offensichtlich ist, wurden immerhin in diversen Gerichtsprozessen die Rolle der Untergrundarmee und ihre Verwicklung in Terroranschläge zur Sprache gebracht. In Deutschland, wo dieses Netzwerk auch mit hoher Wahrscheinlichkeit aktiv war, gab es nie auch nur den Ansatz einer Untersuchung über eine eventuelle Verbindung von Gladio (oder dem Gladio Umfeld) zu den vielen Terroranschlägen in Deutschland.

Untersuchungsausschüsse in Italien, aber auch die Arbeit von Forschern und Journalisten haben aufgezeigt, dass die Roten Brigaden in hohem Maße von Geheimdiensten unterwandert waren. Sie konnten auch aufzeigen, dass die Verbindung zwischen Roten Brigaden und RAF enger gewesen sein musste als lange angenommen. Die deutsche Journalistin und Autorin Regine Igel berichtet beispielsweise von einer Zeugenaussage, wonach einer der Schützen, die von Motorrädern auf die Eskorte Aldo Moros schossen, deutsch gesprochen habe, was, laut Igel, gar von dem damaligen Innenminister Francesco Cossiga vor einer Parlamentskommission eingeräumt wurde.

In einer bemerkenswerten BBC-Dokumentation zum Thema Gladio aus dem Jahr 1992 sagt der ehemalige CIA-Agent Oswald Le Winter, dass sowohl die Roten Brigaden, die französische Terrororganisation Action Directe, aber auch die Baader-Meinhof-Gruppe infiltriert waren.

Ex-RAF-Mann Michael "Bommi" Baumann, der auch im Prozess gegen Becker aussagte, äußerte sich in einem Interview zum Thema Gladio gegenüber dem Autor und Drehbuchschreiber Martin Maurer:

Im Frühjahr 72… gibt es ein Treffen in Frankfurt in einer Wohnung….Das ist das einzige Mal, dass die gesamte RAF zusammenkommt….also zwischen 20-30 Leute…Dann geht Frau Astrid Proll runter… und unten wartet der Verfassungsschutzmann Grünhagen mit zwei Polizisten und es kommt zu einer Schießerei. Also die Leute in der Wohnung werden jetzt gewarnt. Wenn er vor Ort ist, heißt das, die Behörden wussten Bescheid, dass die alle da oben sitzen. Die wussten, dass dieses Treffen stattfindet und alle da oben sitzen, ja warum ist unten nicht der ganze Häuserblock umstellt und die RAF ist Geschichte. Also im Frühjahr 72 hätte die gesamte RAF verhaftet werden können…

Die hier angeführten Beispiele sind nur Bruchteile der Hinweise, die darauf deuten, dass der Terrorismus, der Europa über Jahrzehnte erschüttert hat, bisher viel zu eindimensional betrachtet wurde.

Es spricht Bände, wenn vonseiten des Gerichts in Stuttgart immer wieder entschieden gegen die These einer Verstrickung zwischen Verfassungsschutz und Becker bzw. der RAF im Allgemeinen angegangen wird. Entweder entgeht dem Gericht vollkommen ein Bewusstsein für die tiefenpolitische Verhältnisse im Europa der Nachkriegsgeschichte oder aber man hat andere Gründe, um diese Aspekte nicht zu beachten.

An dieser Stelle sei eine Aussage in Erinnerung gerufen, die vor vielen Jahren von Otto Schilly getätigt wurde, immerhin ein späterer Innenminister der Bundesrepublik Deutschland:

So hat der amerikanische Geheimdienst CIA spätestens seit 1972 direkt oder indirekt an der Bekämpfung der Roten Armee Fraktion mitgewirkt und die Frage ist zu stellen und weiterzuverfolgen, ob eben diese Sprengstoffanschläge, von denen sich die Rote Armee Fraktion immer distanziert hat, von in der Bundesrepublik operierenden Geheimdiensten inszeniert worden sind, um den Hass der Bevölkerung gegen die Rote Armee Fraktion zu schüren.

Otto Schily

Ein Verdacht, den er sicherlich heute nicht mehr wiederholen würde.

Die Angehörigen der Opfer verlangen Aufklärung

Wer über den RAF-Terror spricht und dabei das Wirken der Geheimdienste und die tiefenpolitischen Interessen von Staaten ausklammert, darf sich nicht wundern, wenn die Angehörigen von Opfern durch Terroranschläge irgendwann anfangen, Fragen zu stellen.

Viel wurde über die einzelnen Köpfe der RAF und anderer Terrororganisationen geschrieben. Es gab Akteure, die einen unglaublichen Hass auf den Staat hatten. Es gab Akteure, die bereit waren, grausame Verbrechen zu begehen. Das steht zweifelsfrei fest. Aber wie autonom waren sie wirklich in ihren Handlungen? Eine bittere, aber notwendige Frage, der nur von einer unabhängigen Kommission nachgegangen werden kann, die bereit ist, auch die düsteren Abgründe des Terrors auszuleuchten.

Längst ist auch die Stimme der Opferangehörigen lauter geworden. Im September 2010 wandten sich Corinna Ponto, Michael Buback und Jörg Schleyer - allesamt Kinder der Opfer aus den Anschläge der RAF - in einem offenen Brief, der in der Bild-Zeitung veröffentlicht wurde, an die Kanzlerin mit der Bitte um eine Aufklärung der Morden an ihren Vätern durch ein unabhängiges Forscherteam.

Doch bis heute, beinahe zwei Jahre danach, haben weder die Kanzlerin noch ein anderer Parlamentarier sichtbare Schritte unternommen, um eine unabhängige Kommission einzusetzen, die auf historisch-kriminologischer Basis die Geschichte des RAF-Terrors aufarbeitet. Müssen die Opferangehörigen erst vor den Kameras der TV-Sender auf Knien rutschen, bis sich politischen Funktionsträger bequemen, eine Kommission einzurichten, die mit voller staatlicher Unterstützung, aber völlig unabhängig von staatlichen Eingriffen, die Geschichte des Terrors in der Bundesrepublik aufarbeitet?

Solange eine unabhängige Untersuchungskommission nicht eingerichtet wird, solange wird wohl Rechtsanwalt Matthias Rätzlaff, der den Bruder von Siegfried Buback vertritt, die Frage auch anderen Medienvertretern stellen müssen, die er gegenüber Telepolis am Rande der Verhandlung äußerte:

Warum dient es dem Wohl der Bundesrepublik Deutschland, in einem dreifachen Mord nicht alle Unterlagen offen zu legen?

Matthias Rätzlaff