Das höchste Risiko für eine radioaktive Kontamination nach einem GAU besteht in Westeuropa

Regionale Risiken der Kontamination durch Cäsium-137, wenn a) die deutschen Reaktoren und b) die Reaktoren in Frankreich, Belgien, Holland, der Tschechischen Republik und der Schweiz abgeschaltet wären. Bild: Daniel Kunkel, MPI für Chemie

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie haben berechnet, dass das Risiko für einen GAU sehr viel höher liegt, als man bislang glaubte

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Gerne wurde immer gesagt, dass ein Super-Gau wie in Tschernobyl in Europa und vor allem in Deutschland nicht vorkommen könne. Nach der Katastrophe in Fukushima hieß es zwar weiterhin, dass Deutschlands Meiler sicher seien, aber die Bundesregierung sah sich doch genötigt, langsam aus der Atomenergie auszusteigen, während der Stresstest für die AKWs in der EU so gemacht wurde, dass er die Atompläne mancher Mitgliedsländer nicht gefährdet.

Wirklich mit einem GAU rechnet in der EU wohl niemand, in Großbritannien soll überdies die Laufzeit der alten AKWs verlängert werden. Ändern könnte sich die Haltung, wenn eine neue Studie von Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz Verbreitung findet und ernst genommen wird. Sie sagen, dass ein GAU nicht nur weitaus wahrscheinlicher sei, als man bislang glaubte, sondern dass gerade Westeuropa weltweit am gefährdetsten für schwere Reaktorunfälle sei.

Für die Studie, die im Open-Access-Journal Atmospheric Chemistry and Physics erschienen ist, berechneten die Wissenschaftler die Laufzeiten aller zivilen AKWs (derzeit 440 aktive Reaktoren), um daraus die Wahrscheinlichkeit von Kernschmelzen abschätzen zu können. Seit den 1950er Jahren haben sich in militärischen und zivilen AKWs 30 Kernschmelzen ereignet, allerdings nur 4 mit der Einstufung von 7 auf der INES-Skala (katastrophaler Unfall: "Schwerste Freisetzung: Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt in einem weiten Umfeld").

Bislang ergibt sich eine Laufzeit der zivilen Reaktoren von 14.500 Jahren und es haben sich vier Kernschmelzen (eine in Tschernobyl und drei in Fukushima) ereignet. Danach würde es in jeweils 3.625 Jahren zu einem GAU kommen. Die drei Kernschmelzen in Fukushima haben demnach die Risikowahrscheinlichkeit enorm erhöht. Auch wenn man von einem GAU in 5000 Reaktorjahren ausgeht, liegt die Wahrscheinlichkeit eines GAUs noch 200 Mal höher, so die Wissenschaftler, als die US-amerikanische Nuclear Regulatory Commission in einem Bericht aus dem Jahr 1990 vermutete. Alle 10 bis 20 Jahre könnten statistisch GAUs wie in Tschernobyl oder Fukushima auftreten, wobei mit einem Fallout bis zu 2000 Kilometer gerechnet werden müsste.

Um die von GAUs ausgehende Gefährdung abzuschätzen, entwickelten die Wissenschaftler ein Athmosphärenchemie-Computermodell für die die "geografische Verteilung von radioaktiven Gasen und Partikeln rund um eine mögliche Unglücksstelle". Mit diesem würde sich auch die Verbreitung von radioaktiven Partikeln nach einem Unfall vorhersagen lassen. Die Hälfte des austretenden Cäsium-137 würde weiter als 1000 Kilometer, ein Viertel weiter als 2000 Kilometer transportiert werden.

In Westeuropa, also auch in Deutschland, müsste man damit rechnen, "einmal in etwa 50 Jahren mit mehr als 40 Kilobecquerel radioaktivem Cäsium-137 pro Quadratmeter belastet" zu werden. Die normale Belastung liegt bei 2 kBq. Eine Verstrahlung von 40 Kilobecquerel pro Quadratmeter gilt nach der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA als "radioaktiv kontaminiert". 28 Millionen Menschen wären durch einen GAU in Westeuropa betroffen. In Deutschland ist das Risiko wegen der vielen Reaktoren in den Nachbarlänern selbst noch dann mit am höchsten, wenn nicht nur die bereits abgeschalteten 8 AKWs, sondern auch die noch aktiven 7 AKWs abgeschaltet wären. Nur in Frankreich mit seinen 58 Reaktoren und in Belgien mit 7 Reaktoren ist das Risiko einer Kontamination mit Cäsium-137 noch höher.

Aufgrund der nach ihren Berechnungen deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit eines GAUs fordern die Wissenschaftler eine Neubewertung des Risikos, das von AKWs ausgeht. Dazu müssten der Reaktortyp, die Wartung, die Sicherheitskultur und andere menschliche Faktoren, Sicherheitsverbesserungen durch neue Techniken, der Zustand der Reaktorumhüllung, das höhere Risiko von Anlagen mit mehreren Reaktoren, die Wahrscheinlichkeit von Naturkatastrophen und die Gefährdung durch Flugzeugabtürze, Sabotage und Terrorangriffen berücksichtigt werden. Überdacht werden müsste auch, ab wann eine Kontamination als gefährlich einzustufen ist. Neben der Kontamination durch Cäsium-137 seien auch die Gefahren durch kurzlebige Radionukleoide zu bedenken. Jos Lelievald, einer der Autoren, regt dazu an, über einen "international koordinierten Ausstieg aus der Kernenergie" nachzudenken.