"Finanz-Tsunamis sind der Ausdruck von internationalen Großbanken, die verzweifelt irgendwo Geschäfte machen wollen"

Erich Streissler, der Doyen der österreichischen Nationalökonomie, über Sinn und Unsinn der Neoklassik und die Hintergründe der globalen Finanzkrise

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Professor Erich Streissler, der gerade seinen 80. Geburtstag feierte und noch immer höchst aktiv ist, gilt als Doyen der österreichischen Nationalökonomie. Nach Studien der Mathematik, Statistik, Psychologie und Geschichte wurde er 1962 zum Professor für Statistik und Ökonometrie an der Universität Freiburg berufen und war von 1968 bis zu seiner Emeritierung Professor für Volkswirtschaftslehre, Ökonometrie und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien, wo er den ältesten Ökonomie-Lehrstuhl im deutschsprachigen Raum einnahm, der zuvor unter anderem von Carl Menger besetzt war.

Nachdem seine Arbeitsschwerpunkte zuvor bei Ökonometrie und Dogmengeschichte gelegen hatten, wandte er sich in den 1990ern der Analyse von Finanzkrisen zu und besticht seither durch erstaunlich präzise Prognosen kommenden ökonomischen Unheils. Vermutlich weil Friedrich v. Hayek, mit dem er eng zusammengearbeitet hatte, nach seiner Berufung an die Universität Wien erklärt hatte, man müsse sich um die Volkswirtschaftslehre in Wien nun keine Sorgen mehr machen, wird Streissler zumeist den "Austrian Economics" zugeordnet. Er selbst würde sich zwar nicht in diese Schublade stecken lassen, allerdings fasst er wie Hayek und die "Austrians" im Gegensatz zur herrschenden neoklassischen Lehre den Markt als Prozess auf, was ihm offenbar ein realistischeren Blick auf die Wirklichkeit erlaubt als vielen Kollegen.

Herr Professor, wie würden Sie sich im ökonomischen Betrieb einordnen?

Erich Streissler: Als Jurist! Das heißt, einfach gesagt, dass ich versuche, problemspezifisch zu denken.

Kann ich das als Ablehnung der herrschenden neoklassischen Ökonomik interpretieren?

Erich Streissler: Nein, schließlich wird der Bergriff sehr unterschiedlich definiert. Wenn Sie damit den Versuch meinen, makroökonomische Phänomene mikroökonomisch zu fundieren und das mathematisch zu formulieren, dann halte ich das für einen interessanten Ansatz, der manchmal zutrifft. Wo sie passt, bin ich ein Freund der Neoklassik. Allerdings wird häufig zu stark vereinfacht und es ist eine sehr primitive Sicht, die globale Finanzsituation durch das Handeln eines einzigen rationalen Menschen erfassen zu wollen – oder glauben Sie, dass ein Chinese grundsätzlich dieselbe Rationalität hat wie ein US-Amerikaner oder ein Franzose?

So hat der Nobelpreis-Ökonom Lucas, der eine extreme Variante der Neoklassik vertritt, ein einflussreiches Modell entwickelt, mit dem er die Entwicklung der Finanzmärkte beschreiben will. Dabei betrachtet er aber nur zwei Perioden, seine Märkte sind immer im Gleichgewicht und es gibt weder Kredit- noch Kapitalmärkte und auch keine Kapitalwerte. Will man aber die Krise von 2007/08 betrachten, von der ein wesentlicher Aspekt die Fehleinschätzung der Banken bezüglich bestimmter Vermögenswerte, also der Häuser, war, muss man andere Modelle verwenden. Ob ein Modell passt, hängt dann oft schlicht davon ab, in welcher Fristigkeit man denkt.

Was steckt Ihrer Meinung nach hinter der aktuellen Finanzkrise?

Erich Streissler: Die Krise hat sich vor dem Hintergrund entwickelt, dass wir spätestens seit dem Jahr 2000 einen großen Überschuss an Sparmitteln haben, vor allem an Sparmitteln Chinas, für die es an den Finanzmärkten aber kaum ertragsverheißende Anlagemöglichkeiten gibt. Da wir einen solchen weltwirtschaftlichen Sparüberschuss haben, sind Spareinlagen für die Wirtschaft oder für die Banken so gut wie nichts wert. Das wollen aber die großen internationalen Banken, die die Weltersparnisse weiterverhandeln, nicht wahrhaben - weshalb Finanz-Tsunamis auch in Zukunft unvermeidlich und nur der Ausdruck von internationalen Großbanken sind, die verzweifelt irgendwo Geschäfte machen wollen.

Sie haben seit Jahre vor der kommenden Krise gewarnt, nach meiner Erinnerung bereits in den späten 1990er Jahren vor dem New-Economy-Crash und später vor der Immobilienkrise in den USA?

Erich Streissler: Bei der New-Economy-Krise kann ich mich jetzt eigentlich nicht mehr an spezifische Warnungen erinnern, aber dass da ein Crash kommen muss, war angesichts der Kursentwicklungen bei weitgehend substanzlosen Titeln offensichtlich. Bezüglich 2007/2008 wurden meine diesbezüglichen Prognosen seit dem Jahr 2002 immer wieder gemacht. Meine Erfahrung heute ist freilich, dass das, was kommen muss, viel später gekommen ist, als ich ursprünglich erwartet hätte. So wurde diese Wirtschaftskrise lange durch die amerikanische Geldpolitik, also von Alan Greenspan hinausgeschoben. Das freilich mit dem Effekt, dass sie dann schließlich viel drastischer ausfiel, als je zuvor - einschließlich der letzten, ebenfalls durch die USA verursachten Finanzkrise von 1929-1933, die uns den "Führer" Adolf Hitler brachte.

Nach 9/11 hat auch US-Präsident Bush politisch genial gehandelt. Er hat den amerikanischen Konsumenten gesagt: "Nationale Pflicht ist nunmehr: ausgeben wie wild." Außerdem hat Bush die anfänglich wirtschaftlich erfolgreiche Strategie von Adolf Hitler angewendet und ein paar kleine Kriege begonnen. Den erfolgreichsten Krieg hat übrigens Präsident Reagan geführt. Er hat aufgerüstet. Die Russen haben aufgegeben. Der erfolgreichste Wirtschaftskrieg - ohne einen Schuss.

Aber es kommt noch ein Problem hinzu: Normalerweise hätte der Dollar bei einer Finanzkrise abwerten müssen. Aber weil die Amerikaner sich im Ausland finanzieren, haben wir eine historisch einmalige Situation: Noch nie hat ein führendes Land hauptsächlich Kredite im Ausland aufgenommen. Und da wir die Amerikaner finanziert haben, haben wir jetzt auch diese Probleme. Klar ist, dass sich die USA bislang zu wenig entschuldet haben. Eine weitere historische Anomalie ist es, dass die Verursacher – also die US-Banken – nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern vom Staat gerettet wurden, der so einen Großteil der Privatschulden übernommen hat.

Für das kommende Jahrzehnt sieht es sehr trüb aus

Ist die Krise mittlerweile vorbei, wie man aus den US-Börsenkursen schließen könnt,e und dürfen wir jetzt bald wieder mit einem kräftigen Aufschwung rechnen?

Erich Streissler: Die Wirtschaftsgeschichte lehrt uns, dass die großen innovatorischen Wirtschaftsaufschwünge etwa alle 40 bis 50 Jahre kommen und der Aufschwung 1995-1999, der so einer war, war erst der 5. in der Weltgeschichte. Aus historischer Sicht sollten Sie so etwas erst wieder für etwa 2045 erwarten.

Kleinere Aufschwünge sollte es zwar durchaus auch davor geben, für das kommende Jahrzehnt sieht es jedoch sehr trüb aus. Denn schon das Jahrzehnt der 2000er Jahre hat ein Wirtschaftswachstum von gerade noch einem halben bis dreiviertel Prozent gebracht und das, wenn man die unbezahlten Rechnungen in Amerika nicht ins Kalkül nimmt. Viel besser wird es in den USA auch in den nächsten zehn Jahren nicht laufen; und selbst in den erfolgreichen Ländern der Eurozone wie Deutschland und Österreich erwarte ich nicht mehr als ein Prozent an jährlichem Wachstum, denn welches Wachstum können sie bei den gegenwärtigen "Sparpaketen" schon erwarten? Schauen Sie sich nur das Wachstum an, das die Japaner seit 20 Jahren haben. Das beträgt im Durchschnitt nur ein viertel Prozent.

Die "österreichischen Schule der Nationalökonomie", der sie gelegentlich zugerechnet werden, geht davon aus, dass die Wirtschaft ohne politische Eingriffe am besten funktioniert und sich selbst reguliert. Man müsste also Konkurse zu lassen und auf deren selbstreinigende Kraft setzen?

Erich Streissler: Ganz so einfach ist es leider nicht, denn die Konkurse würden erhebliche Nebenwirkungen haben. Insofern ist die öffentliche Ordnung ein Gut, das sich der Staat etwa kosten lassen sollte. Die Frage ist, welche Vernichtung an wirtschaftsfähigem Kapital will man für eine Bereinigung hinnehmen. In der Regel sind Staatseingriffe aber sicherlich wirtschaftsschädigend. Schließlich wurden die Krisen seit den 1990er-Jahren von mal zu mal größer.

Weshalb ist die jetzige Krise größer als die Weltwirtschaftskrise 1930? Weil der Zusammenbruch von 2001 durch das wirtschaftspolitische Handeln, also durch Geld- und Fiskalpolitik, bis 2008 hinausgeschoben wurde und dadurch wesentlich größer geworden ist. Ich kenne in der Geschichte keinen Fall, dass ein Wirtschaftszusammenbruch durch solche Maßnahmen auf sieben Jahre hinausgeschoben werden konnte.

Folglich wird sie die jüngste "Rettung" Griechenlands nicht unbedingt begeistern?

Erich Streissler: Ich frage mich, was gehen uns die Griechen eigentlich an? Ich würde sagen, null. Denn wenn man den Griechen jetzt Geld gibt, dann sollte es wenigstens später Vorteile bringen. Allerdings erwarte ich, dass es nur auf ein weiteres Hinausschieben von Problemen hinausläuft, die später umso stärker zurückkommen werden. Wenn man den Griechen jetzt also Geld gibt, ist das nichts anderes, als wenn man einem Bettler Geld gibt. Das nützt uns nichts, mag aber moralisch schön sein.

Insofern drängt sich für mich die Frage auf, ob denn Griechenland im ökonomischen Sinn überhaupt noch ein Staat ist. So haben mit dem Ausbruch der Krise sofort alle Griechen, die das konnten, ihr Vermögen ins Ausland verlagert und gleichzeitig überlegen alle überlebensfähigen Griechen auszuwandern. In Griechenland bleiben dann nur die große Beamtenschaft, ein bisschen Fremdenverkehr und Schifffahrt, und das ist schon alles. Ob da überhaupt noch ein überlebensfähiger Wirtschaftszusammenhang gegeben ist, ist unklar. Selbst wenn jetzt alle Staatsschulden zur Gänze gestrichen werden, würde Griechenland in Hinsicht auf Budget und Leistungsbilanz weiter Dauerdefizite vorweisen.

Gilt das für alle schwachen Eurozonestaaten?

Erich Streissler: Zum Glück nicht – so ist die Verschuldung Portugals und vor allem Spaniens wesentlich geringer. In Italien ist sie zwar auch sehr hoch, Italien ist aber vor allem im Inland verschuldet und ist es seit Jahrzehnten gewohnt, mit diesem Schuldenniveau umzugehen. Dazu kommt, dass auch die Bilanzen der Haushalte und Unternehmen vergleichsweise gut aussehen. Insofern besteht für diese Länder wenigstens die Chance, sich zu sanieren – auch wenn sie nicht übermäßig groß ist.

Danke für das Gespräch.