Prekäre Arbeitsverhältnisse, niedrige Löhne, steigender Druck

Nach einer aktuellen Studie werden gerade junge Beschäftigte unter 35 Opfer des flexibilisierten Arbeitsmarkts

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Die guten Nachrichten vom deutschen Arbeitsmarkt reißen nicht ab: Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse steigt, und angesichts der gigantischen Kluft, die der vermeintliche Mangel an Fach- und Führungskräften aufreißt, kann es keinen ernsthaften Zweifel mehr daran geben, dass den Beschäftigten eine rosige Zukunft bevorsteht.

Wer eine halbwegs akzeptable Qualifikation mitbringt und das Glück hat, bis 67 arbeiten zu dürfen, wird sich die Jobs über kurz oder lang aussuchen dürfen, sein Gehalt mehr oder weniger selbst bestimmen, und während eines erfüllten Berufslebens in eine neue Dimension der Zufriedenheit vorstoßen - die Einschätzungen, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in regelmäßigen Abständen verbreitet, legen jedenfalls keine geringere Erwartung nahe.

„Wertschöpfung durch Wertschätzung“

Gut ausgebildete und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind die wichtigste Ressource, die unser Land hat. Diesen Schatz müssen wir hegen und pflegen. Daran haben auch die Unternehmen ein großes Interesse, für die sich die Konkurrenz um die besten Köpfe schon heute spürbar verschärft. Nachhaltige Personalpolitik, die Beschäftigte vom ersten Tag an bis in die letzten Berufsjahre fördert und an den Betrieb bindet, wird zum entscheidenden Schlüsselfaktor im Wettbewerb.

Ursula von der Leyen

Aufmunternde Worte der Bundesarbeitsministerin, die Mitte April den aufgefrischten Online-Auftritt der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) begleiteten und mit der Bemerkung schlossen, besagte Initiative gebe Arbeitgebern „wichtige Impulse, ihr Unternehmen für die Zukunft auszurichten“.

Das versucht INQA allerdings schon seit zehn Jahren und zwar nicht unbedingt unter einseitigen ideologischen Präferenzen, wie ein Blick in die Liste der Unterstützer beweist. Neben den üblichen Verdächtigen, die den Anschein engagierten, zukunftsgerichteten Regierungshandelns wohl nicht trüben würden (Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie oder die Bertelsmann Stiftung) finden sich hier auch der Deutsche Gewerkschaftsbund, zahlreiche Einzelgewerkschaften und die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung.

Die Plattform, an der sich so unterschiedliche gesellschaftliche Akteure beteiligen, soll „Vorreiter und Wegweiser für Arbeitsqualität und Beschäftigungsfähigkeit in einer wettbewerbsorientierten Wirtschaft“ sein. Die Meinungen, was darunter genau zu verstehen ist, scheinen allerdings weit auseinanderzugehen.

Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock, die Ende letzter Woche eine repräsentative Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit vorstellte, dachte jedenfalls kaum an das schwungvolle INQA-Motto „Wertschöpfung durch Wertschätzung“.

Denn davon scheinen gerade junge Beschäftigte unter 35 Jahren (von den Nicht-Beschäftigten ist in der Untersuchung gar nicht erst die Rede) meilenweit entfernt zu sein. Sie bekommen die Auswirkungen des flexibilisierten Arbeitsmarkts, der zu einem rasanten Anstieg prekärer Beschäftigungsverhältnisse und einem boomenden Billiglohnsektor geführt hat, immer deutlicher zu spüren. Dabei trifft es nicht nur Geringqualifizierte oder Schul- und Studienabbrecher. 81 Prozent der in der Studie untersuchten „jungen Beschäftigten“ hatten eine beruflich-betriebliche oder eine beruflich-schulische Ausbildung bzw. einen Fach- oder Hochschulabschluss.

Wenig Lohn, viel Arbeit

Nach den Berechnungen verdient fast jede/r vierte dieser Beschäftigten allerdings weniger als 1.500 Euro im Monat, jede/r sechste kommt auf weniger als 800 Euro. Der geringen Entlohnung entspricht die Instabilität vieler Arbeitsverhältnisse. Nur jedes zweite wird unbefristet abgeschlossen. Die Beschäftigten müssen dann …

… entweder mit extrem niedrigen Einkommen von unter 1.500 Euro brutto zurechtkommen (19%) oder/und ihr Arbeitsverhältnis bietet einen eingeschränkten Kündigungsschutz (befristete Beschäftigung: 21%) bzw. beinhaltet häufige Betriebswechsel (Zeitarbeit: 4%) oder ermöglicht nur eingeschränkt den Erwerb von Sozialversicherungsansprüchen (Minijobs: 7%).

DGB-Jugend: Arbeitsqualität aus der Sicht von jungen Beschäftigten. 4. Sonderauswertung zum DGB-Index Gute Arbeit. Schwerpunkte: Stress, Überstunden, Arbeitsintensität

Die psychologischen Folgen sind beträchtlich, um nicht zu sagen: systemrelevant. Denn ein Drittel der jungen Beschäftigten hat kein gutes Gefühl, wenn es um die eigenen Beschäftigungschancen in der Zukunft geht. Die älteren Arbeitnehmer sind allerdings noch skeptischer. 44 Prozent gehen ihrem Job nach, ohne große Hoffnungen auf einen sicheren und dauerhaft krisenfesten Arbeitsplatz zu haben.

Dazu kommen psychische Belastungen, die unmittelbar aus einem Arbeitsalltag resultieren, der offenbar noch nicht nach den Maßstäben der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ eingerichtet wurde.

Die Hälfte der jungen Beschäftigten (51%) gibt an, unter Zeitdruck und Arbeitshetze zu leiden. Für 27% von ihnen führt dies zu Qualitätsabstrichen bei der Arbeit, (…). Fast jede/r Vierte (23%) fühlt sich durch widersprüchliche Anforderungen unter Druck gesetzt, was insbesondere im Bereich „Bildung/Erziehung“ (49%) und im Gesundheitsbereich (32%) überdurchschnittlich häufig der Fall ist. Schließlich beklagen 15% der jungen Beschäftigten, dass sie nicht immer alle erforderlichen Informationen für ihre Arbeit erhalten.

DGB-Jugend: Arbeitsqualität aus der Sicht von jungen Beschäftigten

Arbeit und Freizeit

Trotz dieser unbefriedigenden Situation dringt die Arbeit auch bei den jungen Beschäftigten immer weiter in den privaten Bereich vor. Der deregulierte Arbeitsmarkt teilt mit ihnen – wenn schon nicht das Honorar, dann doch ein wenigstens das Lebensgefühl der Chefetagen-Bewohner, die rund um die Uhr erreichbar sein müssen oder wollen und sich selbstredend nicht an die vorgesehene wöchentliche Arbeitszeit halten können.

70 Prozent der Beschäftigten unter 35 arbeiten ebenfalls länger als in ihrem Arbeitsvertrag vereinbart wurde. 14 Prozent erledigen „sehr häufig“ oder „oft“ betriebliche Aufgaben in ihrer Freizeit.

Es sind überdurchschnittlich häufig Kleinbetriebe, die von ihren Beschäftigten Arbeit in der Freizeit einfordern. Bei einer Betriebsgröße von unter 20 Beschäftigten liegt der Anteil bei 18%, bei Großbetrieben mit 2.000 und mehr Beschäftigten bei nur 10%. Vor allem im Bereich „Bildung/Erziehung“ wird ein hohes Engagement im Freizeitbereich angegeben.

DGB-Jugend: Arbeitsqualität aus der Sicht von jungen Beschäftigten

Wenn das alles nichts bringt, hilft nur noch die Arbeitsintensivierung, und auch in diesem Bereich sind in jüngster Zeit erhebliche Fortschritte erzielt worden.

Tatsächlich haben von den jungen Beschäftigten 56% den Eindruck, dass in den letzten Jahren immer mehr in der gleichen Zeit geschafft werden muss. Bei den älteren Beschäftigten sind es sogar 64%. Besonders ausgeprägt ist die wachsende Arbeitsintensivierung im Baugewerbe (83%) und am wenigsten spürbar bei den „sonstigen Dienstleistungen“ (29%).

DGB-Jugend: Arbeitsqualität aus der Sicht von jungen Beschäftigten

Politische Forderungen

Die politische Relevanz des Themas ist unbestritten und wird von den Oppositionsparteien – und unter diesen vor allem von der LINKEN - immer wieder aufgegriffen.

Der Anteil der unter 25-Jährigen in atypischer Beschäftigung hat sich binnen zehn Jahren geradezu verdoppelt. Auch sind Jugendliche überproportional von befristeten und niedrigentlohnten Beschäftigungsverhältnissen betroffen. So sank die Zahl junger Menschen mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen laut Statistischen Bundesamt von 1,2 Millionen im Jahr 2009 auf 400.000 im Jahr 2010. Die Armutsgefährdungsquote unter den 18- bis 25-Jährigen hat sich bei 23,5 Prozent verfestigt.

Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE, 8.12.2011

An Analysen herrscht somit kein ernsthafter Mangel, auch die aktuelle DGB-Auswertung bietet unter diesem Aspekt weniger neue Fakten als neue Zahlen. Trotzdem kommt die Arbeitsmarktpolitik einer Lösung kaum in Trippelschritten näher.

Das mag einerseits damit zusammenhängen, dass die Bundesregierung den Forderungen der Gewerkschaften - Mindestlohn von nicht unter 8,50 Euro pro Stunde, equal pay, Abschaffung der Mini-Jobs, Verhinderung einer sachgrundlosen Befristung - so wenig wie irgend möglich entsprechen will. Andererseits musste ausgerechnet eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung vor zwei Jahren feststellen, dass „die Sensibilität für die besonderen Probleme der jungen Generation auf dem deutschen Arbeitsmarkt“ bei den Gewerkschaften noch im Wachsen begriffen ist. Fehlt es möglicherweise an Engagement, sich für die Belange von Beschäftigten einzusetzen, die noch nicht sicher zur eigenen Klientel gehören?

Mitarbeiter als Unternehmensbürger

Mitarbeiter werden Unternehmensbürger, die Souveränität einfordern. Und wir brauchen ihr Talent. Talent wird zunehmend zur knappen Ressource für Unternehmen.

Thomas Sattelberger

Das meint der ehemalige Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Deutschen Telekom AG, der Mitte Mai als Themenbotschafter zur INQA wechselte, und nun vermutlich hofft, dass die Unternehmens- nicht unvermittelt zu Wutbürgern mutieren.

Unabhängig davon bereitet sich die Initiative gerade auf den Jubiläumsworkshop Synergiewerkstatt X: 'Vielfalt - nach außen scheinen, nach innen leben' vor, der am 4. und 5. Juni 2012 in Düsseldorf stattfindet, um der Frage nachzugehen, welchen Weg „außergewöhnliche Persönlichkeiten“ für ihre Karriere zurückgelegt haben. „Wie kann Vielfalt in Unternehmen positiv erlebt und genutzt werden“, heißt eine weitere Aufgabenstellung. „Jenseits von Gutmenschentum“, versteht sich. Kronzeugen sind Dr. Christine Bortenlänger, „dreifache Mutter und Chefin der Börse München“, Vural Öger, „türkischstämmiger Unternehmer“ sowie Hans Sarpei, „ghanaischer Fußballprofi“.

Sie werden mit Armin Laschet, CDU-Landtagsabgeordneter NRW, Prof. Klaus Schäfer, Staatssekretär des Familienministeriums NRW, Dr. Ulf Mainzer, Gastgeber und Personalvorstand ERGO, und Dr. Petra Köppel, Unternehmensberaterin von Synergy Consult, diskutieren, welche Weichen von Politik und Unternehmen gestellt werden müssen. Auch Humor wird nicht zu kurz kommen.

INQA

Humor werden aber vor allem die Rand-Akteure des deutschen Arbeitsmarkts brauchen, die von den „Vorreitern und Wegweisern für Arbeitsqualität und Beschäftigungsfähigkeit“ bisher wenig profitiert haben. Dass sich die INQA und vergleichbare Projekte verstärkt und gezielt mit den Problemen junger Beschäftigter auseinandersetzen und parteiübergreifende Lösungen erarbeiten, müsste allerdings grundsätzlich möglich sein. Es sitzen schließlich genug Gewerkschaftsvertreter im Netzwerk.