"Das sind nicht wirkliche Erinnerungen, die gehören jemand anderem"

Rick Deckard (Harrison Ford). Alle Bilder: Warner Bros.

Vor dem Start von Ridley Scotts "Prometheus": Ein Blick zurück auf Blade Runner

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Seit Monaten wird der die Erwartungshaltung der Science-Fiction-Fans mit viel versprechenden Trailern und coolen Gimmicks genährt, und im August wird es endlich soweit sein: Dann kommt Ridley Scotts lang erwartetes Alien-Prequel "Prometheus" auch in die deutschen Kinos. Vielleicht eine gute Zeit, um sich einmal an Ridley Scotts zweiten Science-Fiction-Film zu erinnern, an den Kultklassiker "Blade Runner" aus dem Jahr 1982.

Es ist nicht allein die Art, wie der Film die Zukunft visualisierte - auch nicht die packende Story, die Darsteller oder die detailreiche Ausstattung, die vielen wunderbaren Dialoge und der Soundtrack von Vangelis - die ihn so herausragend macht und von anderen Genre-Klassikern abhebt. Es ist das, was bereits in Philip K. Dicks Romanvorlage "Träumen Androiden von elektrischen Schafen" zu finden war: Die Frage nach der Existenz. Was macht uns menschlich, ist es die Summe unserer Erfahrungen, sind es unsere Erinnerungen?

Anders als "Alien" (1979) war "Blade Runner" an den Kinokassen eine Enttäuschung. Die Fans wollten Harrison Ford als Han Solo oder Indiana Jones sehen. Und der Trailer zu "Blade Runner" versprach diesen Anspruch zu erfüllen. Stattdessen ist Fords Rick Deckard eine Art desillusionierter Cop, der in einem düsteren Megapolis von seiner eigenen Beute gejagt wird. Ähnlich erging es der Besatzung des Raumfrachters "Nostromo". Doch während in "Alien" sehr gekonnt mit unseren Urängsten gespielt wurde, greift "Blade Runner" die Fragen des Menschseins auf und lässt diese ausgerechnet von den Mensch-Kopien, den Replikanten, stellen.

Ridley Scott sagte über "Blade Runner", dass er in einer Art Philip-Marlowe-Umgebung spielt. "Die Welt kommt uns vertraut vor, und obwohl der Film vierzig Jahre in der Zukunft spielt, sieht er dennoch aus, als würde er vierzig Jahre in der Vergangenheit spielen." Und so ist es auch nur folgerichtig, dass wir den Protagonisten eines typischen "noir"-Films im futuristischen Los Angeles des Jahres 2019 zu sehen bekommen: Den desillusionierten, gebrochenen Helden, der nur noch einen Auftrag erledigen muss. Er trägt sogar die typische Uniform des Philip Marlowe, den Trenchcoat - der Fedora fehlt, da Ford nicht wie Indiana Jones aussehen wollte. ""In den Zeitungen steht unter der Rubrik Stellenanzeigen nirgendwo zu lesen: Suche guten Killer. Das war mal mein Job. Ex-Bulle. Ex-Blade Runner. Ex-Killer." Mit diesen Worten stellt sich Rick Deckard vor. Und obwohl die Erzählstimme sowohl von Scott als auch von seinem Hauptdarsteller verabscheut wurde, gibt sie doch sofort die Stimmung vor.

Anfang des 21.Jahrhunderts stieß die Tyrell Corporation in der Entwicklung der Roboter in die Phase "Nexus" vor - sie schufen ein dem Menschen völlig identisches Wesen - den Replikanten.

Aus "Blade Runner"

Die Eingangssequenz zeigt eine in Smog versinkende Stadt, die bis an den Horizont reicht, eine gigantische Pyramide beherrscht das Panorama. Schnitt auf das Auge - das Spiegelbild der Seele, Symbol der Menschlichkeit - hier reduziert auf den Voight-Kampff-Test, auch "Emphatie-Test" genannt. Eine Maschine, die aufzeigt, ob in dem Testobjekt Menschlichkeit vorhanden ist. So wie bei Rachael, einer schönen jungen Frau, die in Wirklichkeit ein Experiment ist und nicht viel mehr als die Summe ihrer künstlichen Erinnerungen. Erinnerungen, die als eine Art emotionales Polster wirken, damit die Replikanten besser zu kontrollieren sind.

Rachael weiß nicht, dass sie kein Mensch ist, aber sie ahnt es. Und sie stellt Deckard die Frage, die er sich selbst nie zu stellen wagte: "Hast du dich selbst je diesem Test unterzogen?" Deckards Job ist es, Replikanten zu jagen und in den "Ruhestand [zu] schicken" - ein Euphemismus für ermorden und gleichzeitig Ausdruck der Versachlichung der Mensch-Kopien. "Replikanten sind wie jede andere Maschine. Sie können ein Nutzen oder eine Gefahr sein. Wenn sie ein Nutzen sind, ist es nicht mein Problem", stellt Rick Deckard klar. Und zum Problem werden sie, wenn sie auf die Erde kommen, so wie Roy, Leon, Zhora und Pris. Sie wollen an den Ort ihrer Entstehung und mehr Leben von ihrem Schöpfer fordern, denn die Lebenszeit von Replikanten ist auf vier Jahre begrenzt.

Rachael ( Sean Young)

Die vier Flüchtigen gehören, wie Rachael, zur neuen Baureihe der Nexus-6-Replikanten. Denn "Menschlicher als der Mensch" lautet das Erfolgsmotto der mächtigen Tyrell Corporation, deren graue Eminenz Eldon Tyrell ist - Chefentwickler der neuesten Androiden-Generation. Doch diese Perfektion macht die Replikanten noch lange nicht Gleichberechtigt. Sie werden als Kampf- oder Lust-Modell gebaut und leisten "Off-World" Fronarbeit.

Roy (Rutger Hauer)

Anders als ihre Schöpfer und ihr Jäger, haben die Replikanten die Unschuld von Kindern. Sie wissen um ihre genetisch-designte Überlegenheit und sind dennoch zum Scheitern verurteilt. Pris sagt: "Wir werden sterben, weil wir dumm sind". Es ist eben diese Unschuld, die sie brutal wirken lässt. Kinder reißen den Fliegen die Flügel aus, ohne darüber nachzudenken, ob Fliegen Schmerz verspüren. Die anerzogene Ethik der Menschen ist ihnen fremd, denn sie ist nicht Bestandteil ihres Programms. Aus diesem Grund können sie bei dem "Voight-Kampff-Test" nur versagen. Sind sie deshalb ohne Gefühle? Deckard möchte das glauben, denn nur so kann er sie zur Strecke bringen. Aber am Ende ist es Roy, der Anführer und der letzte Überlebende der Gruppe, der Gnade zeigt und Deckard erkennen lässt, dass er keine Maschinen ausgeschaltet hat, sondern seinesgleichen.

"Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe Seabeams gesehen, glitzernd im Dunkeln nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen. - Zeit zu sterben."

Aus "Blade Runner"

Die Welt und ihre Bewohner, die PKD in seiner Romanvorlage beschreibt, ist gleichzeitig surreal und banal. Radioaktiver Fallout, vor dem bleigefütterte Kleidung schützen soll, tödlicher Staub, der zu Genmutationen führt, und fast alle Tierarten sind ausgestorben. Der Besitz eines Tieres ist zum Staussymbol geworden, und wer es sich kein echtes leisten kann, besitzt ein "elektrisches Tier, wie Rick Deckard, der Andi-Jäger mit den Polizistenhänden. Der Titel des Romans "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" ist doppeldeutig. Denn in Wirklichkeit ist es Deckard der von Schafen träumt, einem echten, nicht dem dummen elektrischen, das bei ihm auf dem Dach steht. Doch seine Frau Iran, die ihre Tage zwischen Überdruss und Depression verbringt, je nachdem wie sie ihre Stimmungsorgel gerade programmiert, gibt die Prämien des "Andy"-Jägers mit vollen Händen aus. Ein groß angelegtes Kolonisierungsprogramm schafft die Menschen auf fremde Planten, wo jedem ein Androide zu Diensten ist, doch die schöne neue Welt wartet nur auf die genetisch gesunden. Wie im Film auch, ändert sich Deckards Sichtweise, und er erkennt: Auch die elektrischen Dinge haben ihr Leben, selbst wenn es nur ein schwacher Abglanz des Lebens ist.

"Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" wurde 1968 veröffentlicht, ein Jahr später "Ubik" und im Jahr darauf folgte "Irrgarten des Todes". Thematisch hängen die drei Romane zusammen, denn sie sind exemplarisch für Philip K. Dicks Spiel mit den Realitäten. Wobei dem Konzept der künstlichen Erinnerungen in den beiden letztgenannten Titeln eine viel größere Bedeutung zukommt.

"Blade Runner" hat nicht nur Cyberpunk vorweggenommen, sondern unsere Wahrnehmung wie "Die Zukunft" aussehen könnte grundlegend verändert. Das war nicht mehr "Raumschiff Enterprise", was wir da sahen, das war eine Zukunft, wie sie eines Tages Realität werden könnte. Ich kenne keinen Science-Fiction-Schriftsteller, der mir da widersprechen würde. Kein anderer Film hat mich so stark beeinflusst. Wenn ich mir eine Megacity in einem Cyberpunk-Universum vorstelle, sehe ich Ridley Scotts Los Angeles des Jahres 2019. Wenn ich Cyberpunk beschreiben soll, spreche ich über "Blade Runner" und wenn ich eine regennasse Straße mit wimmelnden Menschenmassen und blinkenden Neonreklame sehe, denke ich automatisch "sieht aus wie in ‚Blade Runner’". Und als ich vor nunmehr zwölf Jahren meinen Cyberpunk-Roman "Downtown Blues" schrieb, baute ich mir meine eigene "Blade-Runner-Stadt", mit einer brodelnden Downtown, fliegenden Fahrzeugen und einem smogverhangenem Himmel. Und als Hommage ließ ich einen Werbe-Blimp über der Stadt schweben.

Ich kann mich nicht erinnern, wie oft ich den Film schon gesehen habe - oft genug, um fast alles Dialoge sowohl auf deutsch als auch auf englisch mitsprechen zu können - und immer gibt es noch Neues zu entdecken, denn "Blade Runner" gehört zu den am üppigsten ausgestatteten Filmen aller Zeiten. So wurde zum Beispiel ein Zeitungskiosk der nur wenige Sekunden im Bild ist mit passenden neuen Titelbildern ausgestattet. Jede einzelne Szene quillt förmlich über mit Detailreichtum. Technologie wurde stimmig in die düstere Welt integriert - angefangen bei der zweisprachigen Fußgängerampel, über den Video-Münzsprecher in Taffys Bar bis hin zu Deckards Fotosichtungsgerät.

Sicher, nach heutigen Maßstäben wirken die Effekte fast lächerlich. Die Spinner, die an sichtbaren Fäden nach oben gezogen werden, erinnern eher an Gerry Anderson als an die coolen Effekte aus George Lucas Bastelstube ILM. Aber trotzdem hat die von Philip K. Dick erdachte, und von Ridley Scott, Syd Mead und Douglas Trumbull umgesetzte Welt nichts von ihrer Faszination verloren.

"Da ist nichts, wofür der Gott der Biomechaniker dich in den Himmel lassen würde ..."

Aus "Blade Runner"

In sieben Jahren werden wir in der "Blade Runner"-Realzeit angekommen sein, und wie so viele Near-Future Geschichten, wird auch diese von der Gegenwart eingeholt werden. Leider werden wir bis dahin nicht zu fremden Planeten auswandern können, und vermutlich werden auch keine "Spinner" durch die Straßenschluchten von Los Angeles fliegen. Doch sind wir wirklich so weit von der Zukunft entfernt, die vor dreißig Jahren in einem Filmstudio in Hollywood entworfen wurde?

Dr. Eldon Tyrell (Joe Turkel) und Rachael

Die Fragen, die der Film aufwirft haben nichts von ihrer Bedeutung verloren. Wir verändern unsere Umwelt in viel stärkerem Maße, als dies vor dreißig Jahren abzusehen war. Und die Fragen, mit denen wir uns befassen müssen, wenn wir selbst zu Schöpfern werden und künstliches Leben erschaffen, werden uns auch noch in den nächsten Jahrzehnten begleiten. Anders als Eldon Tyrell, müssen wir uns mit den ethischen und moralischen Konsequenzen auseinandersetzen - und wir müssen Antworten finden.

Myra Çakan gilt als die erste deutschsprachige Vertreterin des Cyberpunk. Sie veröffentlichte fünf Romane, darüber hinaus zahlreiche Kurzgeschichten (auch in c’t). Als freie Journalisten schrieb sie u.a. für die Woche, Konr@d, die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel. Zwanzig Hörspiele, Adaptionen ihrer eigenen Werke und Originalstoffe, wurden von WDR, SWR und Radio Bremen produziert. Ende 2011 erschien ihr Steampunk-Roman Dreimal Proxima Centauri und zurück. Im Juni kommt ihre Sammlung "Nachtbrenner". Neben allen in c’t veröffentlichten Cyberpunk-Geschichten, enthält sie noch weitere dystopische Short-Stories, teilweise als Erstveröffentlichung. Myra Çakans Webseite. Auf ihrem Blog "Intergalaktische Interferenzen" gibt es mehrere Blade Runner getaggte Beiträge.

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