Bank-Run in China?

Während alle Augen auf die Eurozonenkrise gerichtet sind, könnten in China gerade die schlimmsten Befürchtungen wahr werden

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Erinnern wir uns: Bevor alle Augen auf die Eurozonenkrise gerichtet waren, hatte man sich da und dort noch für andere für die Weltwirtschaft relevante Entwicklungen interessiert. Wäre es nicht ein potentiell enorm gewichtiger Baustein im aktuellen weltwirtschaftlichen Finanzdesaster, könnte die Eurozone ja durchaus froh sein, zeitweise ein wenig aus dem Fokus der Finanzmärkte verdrängt zu werden. Ein guter Kandidat dafür scheint sich gerade am anderen Ende der Welt aufzubauen, wo sich nach inzwischen auch schon jahrelangen Warnungen in China nun schon recht deutliche Anzeichen für das Eintreten der schlimmsten Befürchtungen zeigen.

So scheint sich in der mittlerweile zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt seit Anfang Mai ein Bank-Run abgespielt zu haben, der womöglich noch wesentlich dramatischere Folgen haben wird als das Drama, das gerade in Europa gegeben wird. So will die chinesische Wirtschaftszeitung 21st Century Business Herald von ungenannten Bank-Quellen erfahren haben, dass die vier großen chinesische Banken (ICBC, Bank of China, China Construction Bank, Agricultural Bank of China), die im März noch rund eine Billion Yuan (130 Mrd. Euro) ausgereicht hatten, im Mai in den ersten 20 Tagen gerade einmal 34 Milliarden Yuan (4,33 Mrd. Euro) an neuen Krediten vergaben. Gleichzeitig sollen aber 270 Milliarden Yuan (34,4 Mrd. Euro) abgehoben worden sein - wobei angemerkt werden muss, dass in China schon offizielle Angaben stets mit Skepsis zu betrachten sind und noch mehr jene aus unbekannten Quellen.

Würden die Angaben aber auch nur ansatzweise zutreffen, wird klar, dass die Regierung, wie die Zeitung schreibt, gleichzeitig die Genehmigung von Infrastrukturprojekten beschleunigt, allein vergangenen Montag sollen 100 Projekte durchgewunken worden seien. Indes sei angesichts dieser Zahlen offen, ob die Regierung es schaffe, die durchwegs unter staatlicher Kontrolle stehenden großen Banken zur Finanzierung all dieser Projekt zu bewegen. Besondere Sorge bereitet der Zeitung dabei die Qualität der Projekte, was auch schon die "manischen Infrastruktur-Aktivitäten" betroffen habe, die von dem "Mega-Stimulus im Jahr 2008 ausgelöst wurden".

Vor drei Jahren hatte China dafür vier Billionen Yuan (510 Mrd. Euro) in die Hand genommen (bzw. durch die Banken finanzieren lassen) und das Wachstum so trotz Weltwirtschaftskrise über acht Prozent gehalten, was der Hauptgrund dafür gewesen sein dürfte, warum nach dem Mega-Finanzcrash von 2008 insbesondere Deutschland über den Export recht rasch wieder zu passablen Wachstumsraten kam.

Denn egal, ob diese Projekte langfristig scheitern oder nicht, zuvor hatten sie jedenfalls den Effekt, kreditfinanzierte Nachfrage und somit Einkommen und Wachstum zu schaffen. Immerhin haben schon Marx, Keynes und der heute wieder zu Ehren gelangte Ökonom Hyman Minsky deutlich gemacht, dass ohne Kreditexpansion auf Dauer kein Wachstum möglich ist. Schließlich braucht es für jeden Käufer einen Verkäufer, wobei die Ausgaben immer den Einnahmen entsprechen müssen (und die Summe aller Käufe einer bestimmten Region und Zeitabschnitt ergeben dann die Wirtschaftsleistung, das Sozialprodukt). Um Wachstum zu erreichen, müssen die künftigen Ausgaben also die laufenden Einnahmen übersteigen, weshalb Wachstum im Zeitablauf nur möglich ist, wenn diese Lücke durch Kredite finanziert wird. Das gilt auch für die Weltwirtschaft, für deren positives Wachstum demnach grundsätzlich eine Kreditexpansion erforderlich ist.

Bilanzrezession

Offenbar haben die führenden Industriestaaten jedoch bereits ein Schuldenmaximum (Wann kommt der "Peak-Debt"?) erreicht, so dass die zuvor allzu expansiven Haushalte, Unternehmen und Staaten gezwungenermaßen oder aus eigenem Antrieb versuchen, ihre Bilanzen zu sanieren. Die Folge dieses weltweiten "Deleveraging" (Abbau von Fremdfinanzierungen) wird als Bilanzrezession bezeichnet, was den jüngsten Wirtschaftsabschwung wesentlich gefährlicher macht als die "normalen" zyklischen Abschwünge, die oft schlicht dadurch ausgelöst werden, dass die Notenbank aufgrund der im zyklischen Boom ansteigende Inflation die Zinsen anhebt.

Nun waren spürbare Zinserhöhungen weltweit allenfalls in einigen überhitzten Rohstoffexportländern zu beobachten, die von der Nachfrage aus dem enormen Bau-Boom in China profitierten, der dort zudem zu weiter kräftig steigendem Inlandskonsum geführt hatte.

Demgegenüber hatte weltweit der Privatsektor nach dem 2008er Crash den Gürtel enger geschnallt, während man sich anfangs in Hinsicht auf die Kreditexpansion (d.h. auf Einnahmen übersteigende Ausgaben) immerhin auf die Budgetdefizite der Nationalstaaten verlassen konnte. Während die massiv angeschwollenen Budgetdefizite im Westen nur anämische Wachstumsraten, dafür aber die Eurozonenkrise produzierten, blieb China die Lokomotive der Weltwirtschaft. Nur hat das in China längst zu offensichtlichen Fehlinvestitionen und hohen Überkapazitäten geführt, während weite Teile der Eurozone von den privaten Kreditmärkten inzwischen so gut wie abgeschnitten wurden oder freiwillig auf Sparkurs gegangen sind.

An den Grenzen ihrer Möglichkeiten

So blieben im Westen für die Kreditexpansion nur noch die Länder mit eigener Notenbank wie die USA und Großbritannien mit Budgetdefiziten von voraussichtlich noch auf Jahre hinaus mehr als acht Prozent, sowie Japan mit mehr als sieben Prozent, die insofern derzeit wohl die vermutlich wichtigsten Stütze für die Weltkonjunktur darstellen. Noch höhere Defizite finden sich zwar auch in Irland, Griechenland und Spanien, nur ist klar, dass die daraus resultierende Kreditexpansion kaum positiv zur Weltkonjunktur beitragen kann, weil gleichzeitig der Privatsektor stark schrumpft und das Ausland seine Exporte in diese Länder fast schon zur Gänze vorfinanzieren muss.

Wesentlich wirksamer waren dahingehend die gewaltigen und rein kreditfinanzierten Infrastrukturprojekte Chinas, das derzeit offiziell noch ein vergleichsweise bescheidenes Budgetdefizit von 1,5 Prozent ausweist. Allerdings werden in China die Schulden nicht von der Regierung, sondern von regionalen Körperschaften und Projektgesellschaften gemacht, die wiederum von den großen staatlichen Banken finanziert wurden.

Da die meisten der Projekte aber anscheinend kaum die erwarteten Renditen bringen, dürften sie irgendwann doch noch als Belastung im Staatsbudget landen, weshalb die Regierung anscheinend schon befürchtet, hier bald an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu stoßen.

Und obwohl das Wall Street Journal wissen will, dass seit Jahresanfang bereits doppelt so viele Projekte aufgesetzt wurden wie im Vorjahreszeitraum und die Analysten der Credit Suiss Group (CS) erwarten, dass China heuer zwei Billionen Yuan (260 Mrd. Euro) investieren werde, um die Wirtschaft anzukurbeln, ließ die Zentralregierung am 28. Mai über die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua verlauten, dass sie keine Pläne habe, angesichts der jüngsten Konjunkturschwächen wieder ein ähnliches Programm in die Wege zu leiten wie 2009.

Lange Schlangen vor den Schaltern aller großen Banken

Wenn die chinesische Bevölkerung aber tatsächlich bereits in Massen dabei sein sollte, Vermögenswerte zu verkaufen um Kredite zu tilgen, wie der auf China fokussierte Finanzblog "alsosprachanalyst" behauptet, dann wäre selbst das von der CS erwartete Konjunkturprogramm wohl nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Angesichts der enorm zittrigen chinesischen Aktienmärkte lässt sich auf erhebliche Nervosität in der Bevölkerung schließen, so dass die Vollbremsung im Kreditsystem durchaus der Ausdruck einer allgemeinen Verunsicherung sein könnte. Dafür sprechen zudem die Aufregungen, die sich gerade in der Industriemetropole Wuyishan abgespielt haben sollen. So berichtet der Blog "alsosprachanalyst" im Namen seines Bloggers "Zarathustra" von einem veritablen Bank-Run, bei dem sich diese Woche lange Schlangen vor den Schaltern aller großen Banken gebildet hätten.

Auslöser war die Pleite eines Internet-Unternehmens, das offenbar ein betrügerisches Pyramidenspiel betrieben hatte und dessen Chef samt Top-Management und gut eine Milliarde Yuan (130 Mio. Euro) letzte Woche geflüchtet war. Der hatte eine Online-Shopping-Site betrieben, die von ihren Kunden mittelgroße Geldbeträge hereinnahm, um sie dann in kleinen täglichen Auszahlungen mit hohen Zinsen zurückzuzahlen. Wie bei derartigen Betrugsgeschäften üblich wurden, um den erforderlichen Kundennachschub zu gewährleisten, eine Weile tatsächlich beträchtliche Summen ausgezahlt, was aber offenbar ganz klassisch aus den neu zugeflossenen Mitteln erfolgte.

Nachdem der Betrug aufgeflogen war, hatten Kunden das Firmenbüro in Fuzhou verwüstet, woraufhin am 30. Mai das Gerücht aufgetaucht sei, dass die Regierung den Fall untersuche und es im Zuge dessen zu Kontensperren bei den Kunden (bzw. "Mitgliedern") kommen werde. Daraufhin wurde "die Stadt verrückt", wie den Reportern von Zeugen berichtet wurde, und die Betroffenen stürmten ihre Banken. Inzwischen wurde der Boss des Unternehmens zwar gefasst und unter Anklage gestellt, zum Vertrauen in das Finanzsystem dürfte der Vorfall aber kaum beigetragen haben.

Wenn der chinesische Privatsektor aber auf die Bremse steigt und die Regierung mangels auch nur annähernd darstellbarer Projekte tatsächlich auf massive Investitionsprogramme verzichtet, dann wird die in den letzten Jahren enorm angestiegene Importnachfrage Chinas jedenfalls nicht mehr viel zum Weltwirtschaftswachstum beitragen können. Gleichzeitig ist aber auch in Großbritannien, Japan und den USA von öffentlichen Sparmaßnahmen die Rede, wobei sich die Politiker in Hinsicht auf Konjunktur und Kreditexpansion anscheinen weltweit ausschließlich auf die Notenbanken verlassen wollen.