Silent Hell

Alle Bilder: Warner Bros.

"Tschernobyl Diaries" dekliniert den atomaren Holocaust durch die Standardsituationen des Horrorkinos

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Milan Kundera hat einmal gesagt, dass, bevor wir etwas vergessen, wir es zu Kitsch verarbeiten. Im 26. Jahr nach der Tschernobyl-Katastrophe hat diese Wahrheit nun auch den Super-GAU erreicht. Stand im letzten Jahr mit "An einem Samstag" die Dramaturgie noch deutlich hinter der Szenerie, so hat sich dies in dem von "Paranormal Activity"-Regisseur Oren Peli geschriebenen Film "Tschernobyl Diaries" genau umgekehrt. Dass dabei - trotz vollmundiger Ankündigung im Titel - kein Tagebuch einer Katastrophe aufgeblättert, sondern durch Einbindung in Standardnarrationen eher ein Kapitel der Zeitgeschichte zugeschlagen werden soll, ist schon wenige Minuten nach der Titelsequenz klar.

Der Film beginnt wie ein typischer Vertreter des in den letzten Jahren endlos perpetuierten Backwood-Splatter-Films: Eine Gruppe junger, sexuell offensiver, unternehmungslustiger, amerikanischer Twens will mal etwas Besonderes erleben und weiß, dass so etwas nur noch dort möglich ist, wo der Kapitalismus zügellos durch das moralische Niemandsland galoppiert: in Ost-Europa und der ehemaligen Sowjetunion. Die beiden Brüder Chris und Paul, sowie deren Freundinnen Amanda und Natalie hatten eigentlich vor, nur nach Moskau zu reisen. In Kiew überredet Chris die Gruppe jedoch, einen Abenteuerausflug ins unweit entfernte Prypjat zu unternehmen. Prypjat ist eine menschenverlassene Stadt, in der bis vor 25 Jahren die Familien der Arbeiter des Kernkraftwerks von Tschernobyl gelebt haben. Jetzt ist das gesamte Gebiet eine radioaktiv verseuchte Sperrzone.

In der Zone

Um dort hinein zu gelangen, heuert Draufgänger Chris seine Begleiter überrumpelnd den ehemaligen Soldaten Uri an. Dieser bietet in seiner Agentur alle möglichen Extrem-Touren an - so auch zweistündige Ausflüge ins Nahverstrahlungsgebiet. Der Gruppe schließen sich noch die beiden Rucksacktouristen Michael und Zoe an, die seit wenigen Monaten verheiratet sind. Auf der Reise möchte auch der eher zurückhaltende Paul seiner Freundin Natalie einen Heiratsantrag machen. Die Standardkonfiguration bestehend aus düsterem Exmilitaristen, entbehrlichen Nebenfiguren, bürgerlicher Romantik und familiären Konfliktpotenzials ist also bereit, durch die Hölle geschickt zu werden. Diese offenbart sich zunächst allein dem Zuschauer, der in einem Tümpel im Sperrgebiet riesige, mutierte Fische mit messerscharfen Zähnen sieht.

Der Trip in die von der Natur zurück eroberte Stadt nimmt sich - mit ein paar Überraschungseinlagen, die aber durchaus noch als "Abenteuer" durchgehen können - entspannt aus. Dass die Sache zum Problem wird, zeigt sich erst, als der Reise-Kleinbus (natürlich) nicht mehr anspringen will, weil irgend etwas oder jemand (natürlich) den Zündkerzen-Verteilerkopf gekappt hat. Weil sich (natürlich) niemand auf Uris Rettungsfunkruf meldet, muss die Gruppe die Nacht im Bus verbringen, was (natürlich) zu Konflikten führt und (natürlich) das Unbekannte aus den Eingeweiden der totgeglaubten Stadt anlockt. Dass die folgenden Stunden (natürlich) kaum einer der Reisenden überleben wird, muss eigentlich nicht einmal mehr eingeklammert werden.

Normale Biografien in entstellte Topografien

Die Reise durch die Zone wird von Regisseur Bradley Parker, der zuvor vor allem für filmische Spezialeffekte zuständig gewesen ist, wie ein Computerspiel inszeniert: Erst mal muss man eine Waffe finden, dann eine Lampe, dann eine Karte und schließlich auch einen Geigerzähler - damit ist man den Fährnissen der radioaktiven Horrorstadt dann weitgehend gewappnet. Es geht durch Häuser, Tunnel, über baufällige Brücken (welche über Horrorfisch-verseuchte Tümpel führen) und querfeldein, um zu retten, was angesichts der Genre-Konventionen gar nicht zu retten ist. Dass ein kurzer Sprint durch einen unterirdischen Tunnel dann plötzlich ins Herz einer kilometerweit entfernten Kernkraftwerksruine führt, mutet zwar seltsam an, kann aber noch unter künstlerischer Freiheit verbucht werden.

Ärgerlich an "Tschernobyl Diaries" ist auch nicht so sehr, dass man die reale Katastrophe zum Anlass für eine fiktive Überzeichnung nimmt. Horrorfilme verdichten, verschieben und machen seit Jahrzehnten darstellbar, was sonst diffus als unsichtbares Grauen im Untergrund siedelt. Nein, ärgerlich ist vielmehr, dass der Film so einfallslos ist, zu glauben, das Ambiente reiche nicht aus, um für solche Sichtbarkeit zu sorgen, und deshalb alle möglichen, völlig überkommenen Horrorfilm-Klischees aus der Mottenkiste zieht: Buh-Effekte am laufenden Band, Atom-Zombies, vergrößerte Fotografien, die etwas hinter Fenstern offenbaren, was vorher keiner gesehen hat, scheiternde Rettungstelefonate usw. Und als würde dies noch nicht ausreichen, ist das alles so inszeniert, dass man es auf jeden Fall als Horror erkennen muss: in Form von Anleihen, die von "Silent Hill" über "The Hills have Eyes" bis hin zu "Hostel" reichen.

Der Horror von Tschernobyl

Die Figuren aus "Tschernobyl Diaries" sind einem ob dieser Klischeebeladenheit nach kurzer Zeit schon ebenso egal wie die Frage, was es denn nun mit diesen "Diaries" auf sich hat. Anders als in "Paranormal Acitivity", der zum Marketing von "Tschernobyl Diaries" an allen Ecken und Enden hervor gezerrt wird, gibt es nämlich kein ästhetisches Paradigma, das solch eine tagebuchartige Entwicklung des Grauens sichtbar machen würde. Wackelkamera: ja, Handykamera: auch mal, Fotografien: ebenso - aber nicht zur Suggestion von Authentizität, sondern allenfalls, weil sich deren Einsatz im kontemporären Horrorfilm eben gehört. Wenn es wackelt, muss längst kein intradiegetischer Angsthase mehr die Kamera halten.

Einen Moment im Film gibt es, an dem dann aber doch - und trotz derartiger "Bemühungen" - der eigentliche Horror zum Vorschein kommt. Die Gruppe, auf dem Rückweg zum Bus, von dem noch niemand weiß, dass er nicht mehr fährt, wird durch ein Wort eines der Mädchen gestoppt. Alle sind still, halten den Atem an. Nichts ist zu hören und sie sagt: "Diese Stille!" Sie ist es, diese Stille von Prypjat, die das Ephemere des lautstarken Lebens kennzeichnet, das durch herumliegende Puppen und vor 25 Jahren eilig verlassene Wohnungen bloß starre Bilder findet. Eine Stille, die sich zu Landschaftsbildern gesellt, welche in Sekundenbruchteilen an jene der "Zone" aus Tarkowski "Stalker" erinnern.

Aus dieser Stille hätte ein Horror hervorbrechen können, der getrost auf das Terrorkino verzichten kann, der sich aus dem Hintergrund hervor schält (wie in "An einem Samstag"). Auf die Macht solcher Effekte kann sich "Tschernobyl Diaries" aber nicht einlassen, sondern macht daraus lieber den Rahmen für seinen Kitsch.