Es gilt, lebende Kinder zu beschützen - nicht Zeichnungen zu verfolgen

Das oberste schwedische Gericht hat entschieden: Mangas, auch wenn sie Sex zwischen Erwachsenen und Kindern darstellen, sind keine Kinderpornographie

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3.000.000 Bilder

Wenn es zur Konfiszierung von Speichermedien kommt, die als Beweismittel in einem Fall von "Kinderpornografie" dienen sollen, spielen die kolportierten Zahlen eine große Rolle. Nicht nur wird gerne betont, es handele sich bei der Zerschlagung von Kinderpornografieringen um "die größte Operation überhaupt": Auch die Anzahl der aufgefundenen Bilder wird gerne derart kommuniziert, dass der Eindruck entsteht, diese Anzahl sei identisch mit der, die tatsächlich zeigen soll, was als Kinderpornografie gilt. Dem ist jedoch nicht per se so, da (was logisch ist) am Anfang nicht einmal feststeht, ob und in welcher Menge wirklich belastendes/strafbares Material gefunden wird. Eine Zahl wie 3.000.000 ist daher zunächst nur dafür geeignet, möglichst große Emotionen bei den Empfängern der Nachricht zu wecken. Bei Simon Lundström befanden sich mindestens 3.000.000 Bilder auf dem Rechner. Doch diese Zahl wird nicht nur dadurch relativiert, dass, wie bereits festgestellt, nicht einmal klar ist, ob sich darunter strafbares Material in Form von "Kinderpornografie" befindet, sondern auch dadurch, dass es sich um Zeichnungen handelt, um Mangas, genauer gesagt um Lolicon.

"Lolicon" ist eine Abkürzung für den Begriff Lolitakomplex. Die Abbildungen sind oftmals drastisch und mögen von einigen per se als abartig oder pervers bezeichnet werden. Festzuhalten ist jedoch, dass es sich um Zeichnungen handelt und hier somit keine sexuelle Gewalt gegenüber realen Kindern gezeigt wird. Simon Lundström gilt als schwedische Koryphäe im Bereich Lolicon. Er übersetzte nicht nur für das schwedische Verlagshaus Bonnier Mangaliteratur ins Schwedische, er hielt auch Vorlesungen zum Thema Manga an einer schwedischen Universität. Die Bilder, so gab er an, seien für ihn notwendig, um in Bezug auf die Entwicklung im Bereich Manga auf dem Laufenden zu bleiben. Obgleich hier keinerlei reale Kinder geschädigt wurden, beurteilte man insgesamt an die 60 in seinem Besitz befindlichen Zeichnungen als kinderpornografisch. Die Menge wurde wegen der vorhandenen Duplikate später auf 37 heruntergesetzt. Simon Lundström wurde in erster Instanz wegen Besitzes von Kinderpornografie verurteilt und Bonniers kündigte die Zusammenarbeit mit ihm auf.

Das Ende des Expertentums?

Für Lundström bedeutete dies auch zugleich die Aufnahme in die Liste der Sexualstraftäter. Ferner fragte er sich, wie er weiterhin im Bereich Manga arbeiten solle, wenn die Arbeitsmaterialien zu Verurteilungen wegen Kinderpornografie führen:

I can work as a translator, but not as a manga expert, as I would need access to the erotic cartoons that exist in Japan. I’m not even allowed to visit manga artists homepages in Japan, since that is considered a crime

(Simon Lundström nach dem Urteil)

Auch, um seinen Lebensunterhalt weiterhin mit seinem Fachwissen bestreiten zu können, ging Lundström den Weg durch die Instanzen bis zum obersten Gericht in Schweden. Die zwischenzeitlichen Gerichtsverhandlungen boten ihm aber auch Grund zum Kopfschütteln und zur Heiterkeit, offenbarten sie doch etliche Bildungslücken seitens des Gerichtes und der Ankläger, was Manga anging. So zeigte sich das Gericht darüber verwundert, dass einige der gezeichneten "Kinder" Katzenohren und -schwänze bzw. Fuchsschwänze besaßen. Auch die bewusst wenig rundlich gezeichnete Brustpartie eines "Mädchens", welche als Beweis für die Kindlichkeit dienen sollte, wurde zum Erstaunen des Gerichtes als Brustpartie eines Jungen offenbart.

Fantasiefiguren oder reale Kinder – völlig egal

Während Simon Lundström in der zweiten Instanz erneut wegen Besitzes von Kinderpornografie schuldig gesprochen wurde, hob das oberste schwedische Gericht das Urteil auf und sprach Simon Lundström frei. Der Gerichtshof stellte fest, dass es sich zwar um pornografische Zeichnungen handele, die insbesondere auch Kinder zeigten, jedoch handele es sich um Fantasiefiguren, die nicht mit wirklichen Kindern verwechseln werden könnten.

The criminalisation of possession of the drawings would otherwise exceed what is necessary with regard to the purpose which has led to the restriction on freedom of expression and freedom of information.

(Aus dem bisher noch nicht veröffentlichten Urteil)

Für Lundströms Verteidigung ist dies nicht nur ein Sieg seines Mandanten, sondern vor allen Dingen auch ein Sieg des gesunden Menschenverstandes.

Man muss unterscheiden können, ob etwas kriminell oder künstlerisch ist, und dabei beurteilen, was in einer modernen Gesellschaft akzeptabel ist. Im Gegensatz zu den beiden ersten Instanzen ist man jetzt zu dem Schluss gekommen, für den ich plädiert habe, nämlich dass das schwedische Gesetz niemals dem gesunden Menschenverstand widersprechen darf.

(Leif Silbersky, Anwalt des Übersetzers)

Die Anklage hatte darauf abgehoben, dass es unwichtig sei, ob es sich um reale Kinder handele. Zum einen, so die Anklägerin Hedvig Trost, sei nicht klar, ob die Zeichnungen nicht erst anhand von tatsächlicher Missbrauchsdokumentation entstanden seien; zum anderen gelte es, die Kinder im Allgemeinen zu schützen - egal ob diese nun reale Personen seien oder nicht:

The ban is there to protect children in general, whether it is real children depicted or not […] And even a drawing could be of a real child. A photo depicting a real child could have been used to make the drawing. It is hard from the outside to know whether there is an original photo or not.

(Hedvig Trost)

Diese Argumentation hätte letztendlich dazu geführt, dass Loliconzeichnungen per se mit Dokumentationen tatsächlich stattgefundenen Missbrauchs gleichsetzt werden würden. Ein Verbot dieses Genres in Schweden wäre die logische Folge gewesen, was nun durch das oberste Gericht verhindert wurde.

Neben Lundström und Silberky gibt es noch jemanden, der sich über das Urteil erfreut zeigt. Dies ist besonders wichtig, da es sich hier schwerlich um jemanden handelt, dem Verharmlosung der Thematik nachgesagt werden kann. Björn Sellström ist der Chef jener schwedischen Polizeieinsatzgruppe, die sich mit Verfolgung von Kindesmisshandlung und Kinderpornografie befasst. Er galt bereits seit der Diskussion um Netzsperren als eher besonnen, wenn er z. B. seine Erfahrungen mit Zugangssperren kundtat und feststellte, dass die Sperrmaßnahmen nicht dazu beitrügen, die Produktion von Webpornografie zu vermindern und ferner die sogenannten "Stopp-Seiten" problemlos umgangen werden könnten. Das Urteil, so Björn Sellström, würde auch den Kampf gegen Kinderpornografie erleichtern. Dadurch, dass nun klar sei, dass die Zeichnungen nicht von den Ermittlern beachtet werden müssten, sei mehr Personal für die Verfolgung von tatsächlichem Kindesmissbrauch sowie derer Dokumentation vorhanden:

There's a risk that the focus will shift from combating pictures and films of real child abuse to a discussion of whether we will judge drawings of fantasy figures as child pornography or art. Let us not forget that it is children we must protect and not put imaginary figures on an equal footing with them.

(Björn Sellström)

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