Streit um Spreads

Beim EU-Gipfel in Brüssel wurde zum ersten Mal über Marktversagen und mögliche Gegenmaßnahmen diskutiert. Vor allem Italien macht Druck - greift die Eurozone auf den Anleihemärkten ein, um die Zinsen zu senken?

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Was sind die Ursachen der Eurokrise? Bisher beherrschte die orthodoxe deutsche Deutung die Debatte: Die Krise sei durch mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und exzessive Verschuldung entstanden. Doch beim EU-Gipfel in Brüssel verlor Kanzlerin Angela Merkel am Donnerstag zum ersten Mal die Deutungshoheit. Schon bei seiner Ankunft in Brüssel provozierte der italienische Premier Mario Monti, der einst auch auf Merkels Drängen eingesetzt worden war, mit der Forderung, etwas gegen die "exzessiven" Zinsen auf dem italienischen Anleihemarkt zu tun.

Die Regierung in Rom musste für neue zehnjährige Bonds mit 6,19 Prozent zuletzt so hohe Zinsen bieten wie seit Dezember nicht mehr. Auch in Spanien hat sich die Lage trotz des geplanten Milliardenpakets aus dem Euro-Rettungsfonds für die Banken nicht entspannt, ganz im Gegenteil. Die Investoren verlangen für langfristige Anleihen rund sieben Prozent Rendite - bei ähnlich hohen Sätzen hatten sich Irland und Portugal unter den Rettungsschirm flüchten müssen. Ministerpräsident Mariano Rajoy warnte, das Land könne sich zu diesen Kosten nicht dauerhaft finanzieren.

Bisher waren Diskussionen über Risikoaufschläge und Marktreaktionen in Brüssel tabu. Obwohl die Anleihemärkte mit Niedrigzinsen für Südeuropa jahrelang falsche Anreize gesetzt haben, gab es auf Gipfelebene nie eine ernsthafte Diskussion. Auch, als es vor drei Jahren plötzlich zu höheren Spreads für Länder wie Griechenland kam, war dies offiziell kein Thema. Die Anleger hätten eben die Probleme erkannt und würden nun endlich "angemessene" Renditen fordern, hieß es bei den Beratern Merkels.

Wer sich damit nicht zufrieden gab, wurde mit Zahlen aus den 90er Jahren versorgt, die belegen sollten, dass die Spreads damals - vor Einführung des Euro - noch höher waren. Dass sich Länder wie Griechenland oder Italien damals noch mit Zinssenkungen, Abwertungen und anderen geldpolitischen Mitteln wehren konnten, weil sie über eine eigene Zentralbank verfügten, übergingen die deutschen Experten geflissentlich.

Kein Anlass für Panikmache

Auch jetzt versuchen Merkels Berater wieder den alten "Spin". Die Zinsen seien hoch, aber das sei doch nur eine Momentaufnahme. "Ich warne davor, einen Zinssatz in einer bestimmten Situation so hochzurechnen, als sei dies ein Durchschnitt", streute einer der deutschen Spindoktoren vor und während des EU-Gipfels. "Die Zinssätze schwanken." Es gebe keinen Grund, "in Beunruhigung zu verfallen". Für "Panikmache" bestehe schon gar kein Anlass.

Dies war ein deutlicher Seitenhieb auf Monti, der vor einer "Katastrophe" gewarnt hatte, falls der Gipfel ohne Beschlüsse auseinandergehen sollte, die den Zinsdruck senken. Doch der Italiener ließ sich von Merkels Rüffel nicht beeindrucken. Er forderte eine massive Intervention auf den Anleihemärkten. Wie es in italienischen Regierungskreisen hieß, wirbt Monti dafür, dass der Rettungsschirm EFSF Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank absichern könnte. Die EZB hatte im Sommer 2011 bereits massiv italienische Staatspapiere gekauft, das Programm danach aber eingestellt.

Rückendeckung bekam Monti von Spanien, Frankreich und sogar von EU-Währungskommissar Olli Rehn. Der Finne, bisher als Hüter des liberalen Marktdogmas bekannt, forderte "überzeugende Entscheidungen", um die Zinsen Italiens und Spaniens zu senken. Die werden auch nötig sein. Denn Spanien muss, wenn sich die Spreads so weiter entwickeln, schon bald die Waffen strecken und einen neuen Hilfsantrag in Brüssel stellen - diesmal für die Stützung des ganzen Landes.

Doch eine Banklizenz für den ESM?

Kurz danach dürften die Märkte Italien "testen". Wenn am Ende auch noch Rom kapitulieren muss, ist der Euro am Ende - denn für zwei Schwergewichte wie Spanien und Italien ist im Rettungsfonds schlicht nicht mehr genug Geld da. Es sei denn, man sichert dem EFSF bzw. bald dem ESM neue Finanzierungsquellen, zum Beispiel über eine Banklizenz. Dann könnte er unbegrenzt Kredite von der EZB erhalten - die "Bazooka", über die noch im vergangenen Herbst vergeblich geredet wurde, wäre geschaffen.

Und siehe da: sogar dieses Thema ist plötzlich nicht mehr tabu. Hollande sprach sich dafür aus, Österreichs Kanzler Werner Faymann auch. Er forderte die Schaffung eines europäischen Schuldentilgungsfonds und eine Bankenlizenz für den ESM. "Da wird man schon mehr Schritte brauchen. Das werden nicht gleich die Euro-Bonds sein, aber es wird der Tilgungsfonds sein, es wird die Bankenkonzession sein", sagte er in Brüssel. Es müssten ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt werden, "um die Bevölkerung davor zu schützen, dass die Eurozone auseinanderbricht".

Auf dem Gipfel wurden auch noch andere Modelle diskutiert. Monti brachte eine automatische Intervention der Eurozone ins Gespräch, sobald die Anleihezinsen eine bestimmte kritische Schwelle überschreiben. Finnland empfahl Italien und Spanien, auf Pfandbriefe zurückzugreifen, wie dies Helsinki in den 90er Jahren erfolgreich getan habe.

Doch Merkel ließ sich - zumindest zunächst - nicht erweichen. Italien könne ja einen offiziellen Hilfsantrag stellen. Dann könnte der EFSF auch italienische Staatsanleihen kaufen, um den Kurs zu stützen und die Zinsen zu senken. Man solle sich auf "bestehende Instrumente" besinnen, statt ständig neue zu erfinden, kanzelte Merkel Monti ab. Es sei "unverantwortlich", nicht erfüllbare Erwartungen zu wecken, schoben Diplomaten nach.

Ob dies das letzte Wort war oder ob es doch noch zu einer Intervention auf den Märkten kommt, blieb zunächst offen. Fest steht, dass der hermetische deutsche Diskurs zum ersten Mal durchbrochen wurde. Bei diesem EU-Gipfel wurde endlich auch über Marktversagen und mögliche Gegenmaßnahmen diskutiert. Dass die Märkte "rational" und "effizient" handeln, wie es die neoliberale Theorie behauptet, und dass sie zur "Disziplinierung" von "Schuldensündern" gebraucht würden, wie man immer wieder in Berlin hört, wagte in Brüssel nicht einmal Merkel zu sagen.